Wem nützt es, Erdoğan zum personifizierten Bösen zu erklären?

Mein verrückter Freund

Arif Rhein, Mitarbeiter von Civaka Azad


Wer ein Problem nicht versteht, wird es nicht lösen können. Das gilt auch für die immer wieder aufflammende Debatte um die türkische Politik im Mittleren Osten. Nordsyrien, Südkurdistan, Libyen und nun auch Aserbaidschan bzw. Armenien: In all diese Konflikte ist die Türkei zutiefst verwickelt, gießt Öl ins Feuer der lokalen staatlichen und gesellschaftlichen Widersprüche. Das kann niemand bestreiten. Doch wem nützt es, Erdoğan zum personifizierten Bösen oder den türkischen Staat zum alleinigen Verantwortlichen für all diese Konflikte zu erklären? Titel wie »Und wieder Erdogan« (Spiegelonline1), »Erdogans neuer Krieg« (Welt2) oder »Darum ist der türkische Präsident Europas Angstgegner« (Handelsblatt3) spiegeln das verengte und realitätsferne Niveau der politischen Debatte in Deutschland wieder. Diese falsche Debatte, die auch in anderen Ländern auf ähnliche Art und Weise geführt wird, nützt vor allem internationalen Mächten. Es ist also kein Zufall, dass Deutschland als einer der wichtigsten Partner der Türkei seine eigene Gesellschaft mit einer verengten Scheindebatte von der zentralen deutschen Mitverantwortung für das türkische Kriegstreiben im Mittleren Osten ablenkt.

Wem nützt es, Erdoğan zum personifizierten Bösen zu erklären?Erdoğan ein verrückter Einzeltäter

Verrückte tun verrückte Dinge. Sie schicken tausende arabische Söldner nach Libyen, greifen das demokratische Vorzeigeprojekt in Nordsyrien an, bombardieren und besetzen Südkurdistan oder rüsten Aserbaidschan im Konflikt gegen Armenien auf. Wer kann einem Verrückten wie Erdoğan vorwerfen, verrückt zu handeln? Die verkürzte Darstellung der Politik des türkischen Staates zu akzeptieren, so wie sie zum Großteil in deutschen Leitmedien erfolgt, ist sehr gefährlich. Denn sie bietet den politischen, militärischen und wirtschaftlichen Verantwortlichen im deutschen Staatsbetrieb die Möglichkeit, zu vertuschen, wie sehr die aktuelle türkische Politik zu einem großen Teil ihren eigenen geopolitischen Interessen entspricht: Destabilisierung und Neugestaltung des Mittleren Ostens zum eigenen Vorteil, Zerschlagung demokratischer Kräfte in der Region – ob Bewegungen wie die PKK oder politische Projekte wie die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien – und Zugang zu den natürlichen Ressourcen. Es erscheint daher nicht als Zufall, dass die deutsche Gesellschaft durch einen politischen und medialen Diskurs getäuscht wird, der die Verantwortung für die rücksichtslose Umgestaltung des Mittleren Ostens entlang der Interessen internationaler Mächte einem angeblich verrückten Einzeltäter namens Erdoğan zuspricht. Die Gesellschaft Deutschlands und insbesondere ihre demokratischen Kräfte sollten sich davor hüten, auf diese Debatte reinzufallen.

Ohne die kapitalistischen Zentren kann der grüne türkische Faschismus keine Schritte unternehmen

Abdullah Öcalan stellt in seiner fünften Verteidigungsschrift auf Grundlage seiner jahrzehntelangen direkten Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat einige grundlegende Beobachtungen an, die auch uns in Deutschland bzw. Europa weiter helfen können: »Die hegemonialen Kräfte der kapitalistischen Moderne achten tunlichst darauf, die regionalen Nationalstaaten als Verantwortliche für die Maßnahmen – diese reichen bis hin zu Völkermorden – gegen die Völker und Nationen der Region darzustellen. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Es sind die hegemonialen Kapital- und Ideologiemonopole selbst, die die Eliten dieser Nationalstaaten eigenhändig erschaffen haben und für deren ideologisch-militärisch-politisches Auskommen sorgen. So wurden z. B. die laizistischen, weißen türkischen Faschisten4, die für die Völkermorde in Anatolien und Mesopotamien verantwortlich gemacht werden, im ideologischen und materiellen Sinne vollständig mithilfe der hegemonialen Kräfte (Engländer, Franzosen, Deutsche, USA) aufgebaut. Ohne die Unterstützung dieser Mächte wären sie nie in Erscheinung getreten. [...] In Form der nationalistischen Ideologien, die unter dem Label des Islamismus erschaffen werden, wird heute versucht, ähnliche Maßnahmen fortzusetzen. Dabei sind der historische Anteil Englands und der aktuelle Anteil der USA für diese ideologisch-organisatorischen Aufbrüche entscheidend. Ohne die Unterstützung der hegemonialen Kräfte wären diese islamistisch genannten Kräfte nicht einmal dazu in der Lage Luft zu holen. Das Zentrum des grünen türkischen Faschismus, der für die bis heute andauernden erneuten Völkermordmaßnahmen gegen die Kurdinnen und Kurden verantwortlich gemacht werden muss, liegt voll und ganz in London, Washington und Berlin. Ohne die Unterstützung dieser Zentren könnte der grüne türkische Faschismus keinen einzigen Schritt gehen. Auch in diesem Zusammenhang wird die Verantwortung dem traditionellen Islam zugesprochen. Doch genauso wenig wie der weiße türkische Faschismus etwas mit der soziologischen Wirklichkeit des Türkentums zu tun hat, so besteht auch nur eine äußerst schwache Beziehung zwischen dem grünen türkischen Faschismus und der traditionellen, soziologischen Realität des Islam. Ihre Existenz und Form wurde definitiv in Verbindung mit der kapitalistischen Moderne und dessen hegemonialen Kräften erschaffen. Auch ihr Weiterbestehen wird nur mit der Unterstützung dieser Kräfte möglich sein.«5 Wer sich für konkrete historische Beispiele dieser allgemeinen Überlegungen interessiert, kann sich mit dem Einfluss des Franzosen Léon Cahun oder der deutschen Militärs Colmar von der Goltz, Helmuth von Moltke und Otto Liman von Sanders auf Ideologie, Organisierung und Praxis des türkischen Faschismus befassen.

Wer steckt hinter der Politik der Türkei?

Hinweise darauf, dass die »verrückten Ideen« Erdoğans u. a. in Berlin entwickelt werden, finden sich auch heute zahlreich. Die Worte des damalige Bundesinnenministers de Maizière brachten 2016 sehr deutlich zum Ausdruck, dass Berlin und Ankara gemeinsame Interessen und Ideen miteinander teilen: »Es gibt hier viele Möglichkeiten des Interessenausgleichs und der Zusammenarbeit.« bzw. »Ankara hat unter humanitären Gesichtspunkten zuletzt Bemerkenswertes geleistet. Dort sind 2,5 Millionen Flüchtlinge aus der Krisenregion in Syrien aufgenommen worden. Das verdient Anerkennung und nicht Kritik.«6 Auch die Worte von Guido Steinberg, der sich für den in Berlin sehr einflussreichen Think-Tank Stiftung Wissenschaft und Politik mit dem Mittleren Osten auseinandersetzt, im April diesen Jahres sprechen Bände: »Seit 2015 gibt es eine neue Priorität in der türkischen Syrien-Politik. Diese besteht darin, zu verhindern, dass der dortige [Nordsyrien] Ableger der PKK, die so genannten Volksverteidigungskräfte, erstarkt und ein staatsähnliches Gebilde kontrolliert. Es wäre aus meiner Sicht auch folgerichtig, wenn sich die Türkei darauf konzentriert.«7 Folgt man dieser Berliner Logik, macht es durchaus Sinn Efrîn, Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain) zu besetzen, Schläferzellen des sogenannten Islamischen Staats (IS) in der Region zu unterstützen und immer wieder gezielte Drohnenangriffe auf Verantwortungsträger der nordsyrischen Selbstverwaltungsstrukturen zu fliegen.

Die Gesellschaften können die Probleme gemeinsam lösen

Das Problem besteht also weder ausschließlich in einem verrückten Erdoğan, noch in einem vermeintlich vom demokratischen Weg abgekommenen türkischen Staatsapparat. Das Problem des türkischen Faschismus wurde und wird in Berlin, London, Washington und auch Moskau erschaffen. Es sind die Völker des Mittleren Ostens, die sich zunehmend gemeinsam der Verantwortung stellen, dieses Problem zu lösen. Gemeinsam mit den Gesellschaften Deutschlands, Englands, der USA und Russlands werden sie das Problem an der Wurzel angehen können. Auch ablenkende Scheindebatten wie sie in Deutschland über vermeintlich verrückte Despoten wie Erdoğan geführt werden, können das nicht vermeiden. Von dem Ergebnis des gemeinsamen Widerstandes werden nicht nur Kurd*innen, Araber*innen, Armenier*innen und die anderen Gruppen des Mittleren Ostens profitieren, indem sie der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen durch Krieg und Völkermord ein Ende bereiten. Auch die Gesellschaften Europas haben etwas Entscheidendes zurückzugewinnen: ihre Würde, ihre Moral und ihr Ansehen in der Welt, derer sie beraubt wurden, weil ihre Staaten in ihrem Namen eine menschenverachtende Politik im Mittleren Osten und anderen Teilen der Welt betreiben.

Fußnoten:

1 - https://www.spiegel.de/politik/ausland/bergkarabach-was-will-die-tuerkei-im-konflikt-armenien-aserbaidschan-a-91c75633-411e-4f75-a8c5-0675d3596830

2 - https://www.welt.de/politik/ausland/plus216697720/Berg-Karabach-Erdogans-neuer-Krieg.html

3 - https://www.handelsblatt.com/politik/international/recep-tayyip-erdogan-darum-ist-der-tuerkische-praesident-europas-angstgegner/26208248.html?ticket=ST-4724513-axpPae2VZp43qV4YvPbx-ap2

4 - Abdullah Öcalan unterscheidet in seinen Schriften zwischen drei Formen des türkischen Faschismus, die sich seit der Gründung des türkischen Nationalstaates abwechselnd in Konflikten und Allianzen miteinander befinden: weißer (Linie der CHP), schwarzer (Linie der MHP) und grüner (Linie der AKP) türkischer Faschismus.

5 - Das Zitat ist auf S. 220 der türkischen Originalversion von Abdullah Öcalans fünfter Verteidigungsschrift Die kurdische Frage und die demokratische Nation nachzulesen. Es handelt sich hier um eine vorläufige Übersetzung.

6 - https://www.faz.net/aktuell/de-maiziere-ueber-tuerkei-wir-sollten-nicht-schiedsrichter-bei-den-menschenrechten-sein-14106945.html

7 - https://www.dw.com/de/provinz-idlib-die-t%C3%BCrkei-wird-diesen-konflikt-verlieren/a-53043235


 Kurdistan Report 212 | November/Dezember 2020