Zwei Staaten, eine feindselige Rechtspraxis

Mahmut Şakar, Rechtsanwalt und stellvertretender Vorsitzender von MAF-DAD e.V. – Verein für Demokratie und internationales Recht


Die herrschende türkische Politik, die sich in drei Teilen Kurdistans in genozidaler Absicht gegen die kurdische Bevölkerung richtet, macht sich seit geraumer Zeit Europa für seine Angriffe zunutze.

In den letzten Jahren, seit der Amtszeit Süleyman Soylus als Innenminister, wurden viele in Europa lebende Bürger*innen, die in die Türkei gereist sind, festgenommen, verhaftet und teils zu Strafen verurteilt. Die meisten darunter kommen aus Deutschland.

Die Verfahren, die gegen Personen eröffnet wurden, die die deutsche oder die doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, haben uns neue Erkenntnisse vermittelt. Der türkische Staat hat nicht nur die aus MİT- und anderen Denunziationsmechanismen gewonnenen Daten als Grundlage für Verurteilungen und Strafen herangezogen, sondern auch Informationen, die aus gesetzlich vorgeschriebenen administrativen Vorgängen der BRD stammen.

Das möchte ich anhand der Anklage einer erst vor Kurzem eröffneten Verhandlung genauer darstellen. Der Hauptanklagepunkt gegen eine in Deutschland lebende Person, die ihre Familie in ihrer Heimat besucht hat – ihr Namen wird im Folgenden mit M.A. abgekürzt –, besteht im Vorwurf der Mitgliedschaft in einer [terroristischen] Organisation.

Weg mit dem PKK-VerbotDer Vorwurf der Mitgliedschaft in der Organisation wird vor allem darauf gestützt, dass diese Person in der deutschen Stadt, in der sie lebt, Vorstandsmitglied des dort gegründeten Demokratischen Kurdischen Gesellschaftszentrums ist. Wie gelangt man an solche Informationen? Die Quelle ist die Internetseite »handelsregister.de«, auf der Eintragungen u. a. im Vereinsregister eingesehen werden können. Es erfordert etwas Mühe, an die Details dieser Eintragungen im Vereinsregister, die öffentlich zugänglich sind, zu gelangen und die Auszüge zu erhalten. Zunächst muss man sich auf der Internetseite registrieren, um gegen die Zahlung einer Gebühr den angeforderten Registerauszug zu erhalten. Die wesentlichen Informationen, die die Anklage gegen M.A. ausmachen, wurden auch auf diesem Wege erlangt.

Natürlich reicht die Mitgliedschaft in einem Verein als alleinige Grundlage für eine Anklage nicht aus. Die Tatsache, dass die Mitgliedschaft dennoch zur Anklage führte, ist auf die jährlichen Berichte des deutschen Verfassungsschutzes zurückzuführen. Die 23 unter der Überschrift »Beweise« aufgeführten Punkte in der Anklageschrift gegen M.A. stammen allesamt aus den Berichten des Bundesamtes und der Landesämter für Verfassungsschutz, der einzelnen Behörden des deutschen Inlandsgeheimdienstes:

»Beweise: Baden Württemberg Verfassungsschutzbericht 2014; Deutschland 2014 Bremen Verfassungsschutzbericht; Deutschland 2016 Berlin Verfassungsschutzbericht; Deutschland Sachsen 2016 Verfassungsschutzbericht; Deutschland 2016 Hessen Verfassungsschutzbericht; Deutschland Bundesverfassungsschutzbericht 2017; Niedersachsen Verfassungsschutzbericht 2017; Baden Württemberg Verfassungsschutzbericht 2017; Bayern Verfassungsschutzbericht 2017; Bremen Verfassungsschutzbericht 2017; Berlin Verfassungsschutzbericht 2017; Mecklenburg-Vorpommern Verfassungsschutzbericht 2017; Rheinland-Pfalz Verfassungsschutzbericht; Saarland Verfassungsschutzbericht; Sachsen Verfassungsschutzbericht 2017; Thüringen Verfassungsschutzbericht; Hamburg Verfassungsschutzbericht 2017; Hessen Verfassungsschutzbericht 2017; NRW Verfassungsschutzbericht 2017; Sachsen-Anhalt Verfassungsschutzbericht 2017; Schleswig-Holstein Verfassungsschutzbericht 2017; Sachsen Verfassungsschutzbericht; Bundesverfassungsschutzbericht 2019; Informationen aus dem Internet; Berichte über verdächtige Äußerungen; Rechercheberichte bezüglich Aussagen in Sozialen Medien; Untersuchungsdokumente; alle Aktenerkenntnisse.«

Nach der Aufführung all dieser Berichte als Beweise für die Anklage werden die in den Verfassungsschutzberichten beschriebenen Inhalte detailliert zitiert und dienen so als Beweisinhalte. Dafür kann man folgende Beispiele nennen, die in der Anklage auftauchen:

  • »Das Bundesamt für Verfassungsschutz fasst bezüglich der Terrororganisation PKK/KCK und ihrer NAV-DEM-Struktur in seinem Verfassungschutzbericht 2017 Folgendes zusammen, auf Seite 233 des Berichts heißt es: «Für die Umsetzung von Vorgaben nutzt die PKK überwiegend die örtlichen kurdischen Vereine, die den Anhängern der Organisation als Treffpunkt und Anlaufstelle dienen. Als Dachverband der Vereine fungiert das ›Demokratische Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Deutschland e.V.‹ (NAV-DEM). Die PKK versucht, ihre Politik mithilfe sogenannter Massenorganisationen zu popularisieren, in denen sie ihre Anhänger nach sozialen Kriterien oder Berufs- und Interessengruppen organisiert.«
  • »Das Landesamt für Verfassungsschutz Niedersachsen fasst bezüglich der Terrororganisation PKK/KCK und ihrer NAV-DEM-Struktur in seinem Verfassungschutzbericht 2017 Folgendes zusammen, auf Seite 238 des Berichts heißt es: «Für die Umsetzung von Vorgaben der Führungsspitze und den Informationsfluss zur Basis bedient sich die Organisation überwiegend der örtlichen Vereine in Deutschland, die den PKK-Anhängern als Treffpunkte und Anlaufstellen dienen. Deutschlandweit gehören ca. 45 kurdische Ortsvereine dem der PKK nahestehende Demokratischen Kurdischen Gesellschaftszentrum Deutschland (Navenda Civaka Demokratîk a Kurdên li Elmanyayê, NAV-DEM) an. NAV-DEM als deutscher Dachverband ist eingebettet in die in Belgien ansässige europäische Dachorganisation KCDK-E.
    NAV-DEM initiiert regelmäßig über seine Ortsvereine öffentlichkeitswirksame Aktionen, die sich jeweils auf aktuelle Geschehnisse oder bestimmte Jahrestage, etwa den Gründungstag der PKK, beziehen. NAV-DEM ist nicht vom PKK-Betätigungsverbot betroffen.«

Den überwiegenden Teil der Anklage gegen M.A. bilden die aus diesen Berichten folgenden Zitate. Unter Bezugnahme auf den Vereinsregisterauszug stellt die Staatsanwaltschaft zunächst einmal fest, dass es sich bei dem Bürger mit kurdischen Wurzeln um ein Vorstandsmitglied des in Deutschland ansässigen lokalen Vereins handelt. Sodann legt sie unter Hinweis auf die alljährlichen Verfassungsschutzberichte dar, dass der Umstand, Vorstandsmitglied eines lokalen Vereins zu sein, ausreicht, um als Mitglied in einer terroristischen Vereinigung eingestuft zu werden, was unter Strafe gestellt ist. Außerdem fällt auf, dass die Inhalte dieser Anklageschrift gewisse Parallelen zu dem im März 2019 veröffentlichten Bericht der »Stiftung für politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Forschung« (SETA) mit dem Titel »Die Organisationsstruktur der PKK in Europa« aufweist. Unter diesem Aspekt möchte ich einige wichtige Punkte hervorheben:

  • Es ist offensichtlich, dass zwischen der Haltung Deutschlands, das demokratische Veranstaltungen und Aktivitäten von Kurd*innen kriminalisiert, und der Haltung sowie daraus resultierenden Bewertungen des türkischen Staates gegenüber Kurd*innen eine geistige Nähe besteht und beide Kräfte die kurdische Existenz und ihre Ausdrucksformen unter strafrechtlichen Aspekten betrachten.
  • Der türkische Staat verwendet nun, ohne besonderen eigenen Aufwand betrieben und ohne Zeit mit rechtlichen Untersuchungen oder Beweisermittlungen verschwendet zu haben, in seinem innerstaatlichen Recht deutsche Geheimdienstdaten zum Zwecke der Verhängung von Strafen. Die Verfassungsschutzberichte, die aus der Perspektive des deutschen Staates nicht direkt zu einer strafrechtlichen Konsequenz führen, haben im innerstaatlichen türkischen Recht strafrechtliche Konsequenzen.
  • Die Behörden und die Politik Deutschlands wollen den Druck auf die Kurd*innen erhöhen, indem sie zulassen, dass ihre Daten durch den türkischen Staat für strafrechtliche Konsequenzen genutzt werden. Deutschland zögert nicht, die türkische Gerichtsbarkeit und die innertürkische Sicherheit als Mittel gegen seine eigenen Bürger*innen einzusetzen.
  • Die Türkei instrumentalisiert selbst routinemäßige interne Verwaltungstätigkeiten eines Staates wie Deutschland und benutzt sie als Mittel für Angriffe. Noch von größerer Bedeutung ist es, dass Deutschland, insoweit es um Kurd*innen geht, die illegalen Tätigkeiten von Institutionen wie dem Geheimdienst MİT, DITIB, SETA und ähnlichen Organisationen duldet.

Infolgedessen wird davon ausgegangen, dass die beiden Staatsapparate, die sich in der kurdischen Frage politisch verbündet haben, einen Schritt in Richtung eines gemeinsamen Justizmechanismus gemacht haben. Diese Vorgehensweise gegenüber den Kurd*innen kann unter der Formel »zwei Staaten, ein Recht« zusammengefasst werden. Oder besser: »Zwei Staaten, eine feindselige Rechtspraxis«. Für die kurdische Bevölkerung ist es wichtig, diese Vorgehensweisen zu sehen und einen wirksameren rechtspolitischen Kampf dagegen zu führen, insbesondere in Deutschland. Ebenso ist es äußerst wichtig, dass deutsche Anwält*innen und Politiker*innen Stellung beziehen angesichts der schamlosen Instrumentalisierung deutscher innerer Strukturen gegen die Kurd*innen durch den türkischen Staat


 Kurdistan Report 212 | November/Dezember 2020