Bericht aus Rojava über ein Jineolojî-Seminar

»Was wir freies Zusammenleben nennen«

Mira Douro


Was ist Gewalt gegen Frauen und wie geben wir das Wissen weiter, um zu einer Veränderung in jeder Familie, als Keimzelle von Staat und Patriarchat, dagegen vorzugehen? Mira Douro berichtet über ein Jineolojî-Seminar in Rojava.

»Unsere Flügel wurden erst gestutzt und dann gebrochen, damit wir nicht frei leben können«, erklärt Heval Şîn auf dem Seminar. | Foto: anfDer 25. November ist der weltweite Tag gegen Gewalt an Frauen. Gewalt ist nichts natürliches, aber sie ist tödlich! Das erleben Frauen seit langer Zeit, egal in welchem Winkel dieser Erde. Die Tötung der Mirabal Schwestern 1960 in der Dominikanischen Republik versinnbildlicht die Gewalt gegen Frauen, denen sie ausgesetzt sind, wenn sie sich gegen sexistische und patriarchale Gewalt zur Wehr setzen. Ihnen und ihrem Widerstand ist der 25. November gewidmet. Genauso, wie wir gelernt haben, patriarchale Gewalt zu akzeptieren, können wir lernen, gegen sie vorzugehen. Wir brauchen ein Bewusstsein und ein Verständnis dafür, wo patriarchale Gewalt anfängt und wo sie sich überall eingenistet hat. Die kurdische Frauenbewegung organisiert in Nord- und Ostsyrien Seminare und Diskussionen innerhalb der Bevölkerung, um das Bewusstsein über patriarchale Gewalt zu schärfen. Eines dieser Seminare konnten wir für das Buchprojekt, »Gelebte Utopien im Widerstand« begleiten und teilen die übersetzte Mitschrift mit euch:

»Eine Methode der Jineolojî ist die Etymologie, also die Lehre der Herkunft der Wörter. Wenn wir uns die Frage stellen, woher die Gewalt kommt, stoßen wir auf das kurdische Wort sulta. Im Türkischen bedeutet es Autorität und Imperium, im Kurdischen beschreibt es Hierarchie. Die Bedeutung im Arabischen ist Stärke, steht aber synonym zur Herrschaft.

Ähnlich verhält es sich mit dem kurdischen Wort für Staat, dewlet, das aus dem Arabischen dewla kommt und soviel bedeutet wie Gewalt anwenden oder Kontrolle ausüben.

Wenn wir also heute vom Staat sprechen, kommt uns direkt Gewalt in den Sinn. Wer übt Gewalt aus?«

Mit diesen Fragen beginnt Heval Şîn ein Seminar für die Bevölkerung in Kobanê zum internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen.

»Es ist die Mentalität des Mannes, die an diesem Tag betrachtet werden soll, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wo Gewalt beginnt, denn nur wenn wir das verstehen, können wir mit unserer eigenen Veränderung beginnen und ein freies Zusammenleben fern von Gewalt und Unterdrückung aufbauen.«

Heval Şîn geht von sich als Frau aus und sagt, wie sie mit sich selbst gekämpft hat, um hier vorne zu stehen und ihre Stimme zu erheben und trotz aller Versuche sie zum Schweigen zu bringen, über Gewalt, Unterdrückung und Versklavung zu sprechen. Sie sagt, »unsere Flügel wurden erst gestutzt und dann gebrochen, damit wir nicht frei leben können«. Die Frau sei auf zwei Ebenen versklavt worden. Einmal durch den Staat, der über die strukturelle Ebene des Kapitalismus die Frau zu seinem Eigentum mache, und auf der anderen Seite sei sie über die Religion mit Scham behaftet und dem Mann untergeordnet worden.

»Wenn wir von der Frau als Sklavin des Staates sprechen, dürfen wir nicht vergessen, dass der Staat Gewalt auch gegen den Mann ausübt«, sagt Heval Şîn. „Um von seiner Unterwürfigkeit und dem Leid, das ihm widerfährt, abzulenken, lenkt der Mann die Gewalt auf die Frau, um sie zu unterwerfen. So gesehen ist die Frau die versklavte Sklavin.

Die härteste Gewalt, die gegen die Frau in der Geschichte angewandt wurde, ist, sie wie eine Ware zu vermarkten. Vom Staat wurde sie zu Handelsgut gemacht und über viele Tausend Jahre hinweg wie eine Ware angeboten und verkauft. Wenn ihr die Werbung betrachtet, könnt ihr sehen wie jedes Produkt, das für den Mann als Käufer wirbt, in den Händen einer Frau oder mit ihrem Körper präsentiert wird. Wir bezeichnen dies als einen Spezialkrieg oder als psychologische Kriegsführung. Der Staat hat damit begonnen, aber über die Zeit wurde die Frau immer stärker versklavt bis hin zur physischen Vergewaltigung. Der Staat nutzt dich zu seinem Vorteil; in seinem Interesse bist du sein Ertrag. Die Staaten ziehen aus allem und jedem ihren Vorteil. Wie im Geschäft wirst du gehandelt und von Hand zu Hand gereicht und verkauft. Ich frage euch, wenn ihr euren Kindern bei der Hochzeit eine Mitgift gebt, ist das nicht Gewalt? Zum Beispiel das Brautgeld, ist das nicht an sich schon Gewalt? Wenn ich ein Mädchen bin und mein Vater einem Mann sagt, ich sei ihm eine Million, oder sagen wir zwei Millionen wert, wer bin ich dann? Bin ich eine PET-Flasche? Die je nach Wunsch und Bedürfnis verkauft oder gekauft wird? Der Mann hat die Frau zu seinem Besitz, seiner Ehre, seinem Eigentum erklärt.

Wir können sagen, die Familie ist der Staat im Kleinen. Sie ist die Institution, die die Mentalität des Staates im familiären Bereich aufrechterhält und sie den Kindern von klein an anerzieht. Durch die Ehe wird die Frau zum häuslichen Werkzeug; der Mann betrachtet sie als seinen persönlichen Besitz, über den er frei verfügen kann. Er kontrolliert sie, er will wissen, wohin sie geht, er bestimmt, was sie isst, was sie trinkt und mit wem sie spricht oder wann sie mit ihm zu schlafen hat und wie viele Kinder sie ihm gebären soll. Und eigentlich tut er das für den Staat, denn der Staat hat dafür gesorgt, dass die Rolle des Mannes stark und bedeutsam ist. Doch das ist er nur so lange wie er die Kontrolle über seine Familie hat. Dadurch hat sich der Staat den Mann zu eigen gemacht. Und was macht also der Mann? Er nimmt sich Frau und Kinder. Die höchste Gefahr ist es, sich zu unterwerfen. Aber wir merken das nicht, wir sind darüber nie wütend geworden, wir haben gelernt, es so zu akzeptieren und uns unterwürfig zu geben. Aber eigentlich sind wir dadurch alle gewalttätig geworden. Woher kommt diese Gewalt? Wir handeln sie unter uns aus. Es ist ein Wechselspiel von Unterwerfung und Unterwerfen. Dies geschieht häufig bei häuslicher Gewalt. In der Institution Familie findet diese Aushandlung statt, sie funktioniert wie eine Bildung, wird uns von klein auf anerzogen über unsere Sozialisierung. Die Gewalt beginnt an dem Tag, an dem das Geschlecht eines Babys im Bauch der Frau diagnostiziert wird. Egal welches Geschlecht es wird, die Frau sagt: ›Mein Mann mag Jungs.‹ Auch wenn es ein Mädchen wird, ist dadurch klar, es hätte eigentlich ein Junge werden sollen. Und dementsprechend wird es zur Frau oder zum Mann erzogen.

Bei uns ist es verpönt, wenn eine Frauenstimme laut wird. Es gilt als Tabu, dass Frauen in der Öffentlichkeit ihre Stimme erheben. Aber was heißt das, wenn meine Stimme laut wird? Das würde bedeuten, das über meine Stimme jemand von meinem Schmerz erfahren könnte. Ist das verboten oder gar mit Scham behaftet?“, fragt Heval Şîn die Anwesenden.

Sie antwortet selbst darauf: »Wenn ich Schmerz empfinde, werde ich stumm. Dann werden wir stumm gemacht. Im Kurdischen bedeutet qirik Kehlkopf und das Verb qirkirin, schreien, trägt gleichzeitig die Bedeutung eines Massakers. Wie soll, wenn wir angeschrien werden, ein Wort aus unserer Kehle kommen? Angeschrien zu werden, bedeutet also zu verstummen und kommt dementsprechend einem Massaker gleich. Wir sollten uns hierbei fragen, was das Problem wäre, wenn der Mann mitbekommt, was die Frau für einen Schmerz empfindet, wenn sie in solchen Momenten sprechen könnte. Oder wenn es unsere Freundin mitbekommt. Ist das ein Problem? Nein, aber es ist ein Tabu und niemand soll davon erfahren.«

Heval Şîn erklärt, dass die Frau gebrochen wurde: »Wenn du fragst, woher die Frau kommt, dann wird dir erklärt, dass sie aus einer abgebrochenen Rippe Adams erschaffen sei. An diesem Beispiel können wir sehen, wie stark unser Rückgrat gebrochen wurde. Unsere Flügel wurden gestutzt, damit wir nicht fliegen können. Die Frau soll ihr Leben lang humpeln und nie aufrecht gehen können. Wenn wir von Gewalt sprechen, können wir sagen, dass sie in der Familie beginnt. Der Staat hat seine Mentalität in die Familie eingepflanzt, sie soll den Staat im Kleinen repräsentieren und die Kinder zu seinen Bediensteten erziehen. Das geht so weit, dass mein Sohn mit mir zusammen raus geht, wenn ich ihm sage, dass ich das Haus verlassen werde. Ein Mädchen oder eine Frau soll nur an der Seite eines Mannes in die Öffentlichkeit gehen, auch wenn es dein jüngerer Bruder oder gar dein Sohn ist.

Es ist aber nicht allein der Mann, der diese Mentalität angenommen hat. Auch die Frau orientiert sich meistens an diesem Denken. Es gibt auch eine Art von Gewalt, die sich über Gestik oder Mimik äußert. Warum lösen zum Beispiel gewisse Blicke Angst in uns aus? Es handelt sich hierbei um Gewalt, die über Mimik und Blicke angewandt wird.

Wenn du deiner Tochter sagst: ›Das gehört sich nicht‹ oder ›Du kannst das nicht machen, und wenn du dich in der Öffentlichkeit aufhältst, kannst du dies und jenes als Mädchen nicht tun‹, ist dass dann Erziehung oder Angst, die du vermittelst?«

Das fragt sich die Freundin Şîn, die anstelle von Erziehung das kurdische Wort perwerde verwendet, was in seiner Übersetzung mehr dem Wort Bildung oder Ausbildung entspricht und die Bedeutung trägt, jemandem Flügel zu verleihen. »Dass ist alles Gewalt, die über Sprache an uns ausgeübt wird. Wir geben dadurch kein Wissen oder Erziehung weiter, sondern wir säen Angst.«

Heval Şîn nimmt sich selbst als Beispiel und sagt: »Stellt euch vor, ich stehe hier vor euch, und bin mir total unsicher, habe Selbstzweifel: ›Werde ich ein Wort sagen?‹, ›Wird das falsch sein?‹ Ja, es kann sein, dass ich falsch liege mit dem, was ich euch sage, aber das macht nichts; davon wird die Welt nicht untergehen. Aber dadurch, dass ich spreche und es versuche, entwickle ich meine Stärke.

Psychische und physische Gewalt sind gleichermaßen als solche zu verstehen, und sie bauen aufeinander auf.

In ihrem Innern ist die Frau wie verstorben, ihre Instinkte sind abgestorben. Sie ist gebrochen. Was bedeutet dass? Wenn du einen Menschen anschreist, weil er ein Glas fallen lässt und es dabei zerbricht, dann ist das, als wenn du durch das Gebrüll innerlich in die Brüche gehst. Wenn deine Handlungen nur aus Angst bestehen, dann zerbrichst du irgendwann selbst daran.

Kein weiteres Mal soll das Leben einer Frau von einem Mann bestimmt werden. Wenn du zu einer Bittstellerin des Mannes wirst oder auf die Gnade wartest, dass er dir auch etwas überlässt, dann ist das sehr gefährlich. Solange unsere Beziehung nicht auf einer freien gleichberechtigten Ebene stattfindet, wird von dir immer eine Gegenleistung erwartet. Wenn du auf den gnädigen Herrn wartest, wirst du schnell zu seinem Eigentum.

Jede Frau, die auf dieser Erde verkauft oder ermordet wird, löst Schmerz in uns aus. Wir mussten miterleben, dass Êzîdinnen aus dem Şengal sogar auf dem Markt angeboten und verkauft wurden.«

»Was ist das für ein Recht«, fragt sich Heval Şîn zurecht, »und was ist das für ein Staat, was für ein Mann, der sich das Recht nimmt über eine Frau zu verfügen und sie wie sein Eigentum zu verkaufen? All das ist die Folge des Patriarchats, diese Mentalität des Mannes, die sich sowohl im Staat als auch in uns wiederfindet, aber im Grunde genommen ist es eine Mentalität, die sich gegen die soziale Kompetenz im Menschen und gegen die Gesellschaft insgesamt richtet. Zum Beispiel werde ich als Frau dazu verpflichtet mich höflich, gesittet und mit Anstand zu benehmen. Es ist meine Aufgabe als Frau mein schönstes Kleid zu tragen, wenn ich das Haus verlasse. Auch wenn wir darunter leiden, tun wir es doch. All unsere Kleidung ist für diese Zeremonie bestimmt, aber die Feierlichkeit gilt nicht der Frau selbst, sondern sie wird dadurch jeden Tag ein weiteres Mal verkauft. Dieser Angriff auf uns findet jedoch nicht nur auf unsere Körper statt. Schauen wir uns an, wie viele territoriale Kriege es auf dieser Welt gibt. Was für ein Recht nimmst du dir raus, wenn du ein anderes Land angreifst und dadurch auch die Natur zerstörst? Auch das müssen wir als Vergewaltigung an unserer Erde und unserer Heimat verstehen. Sie kommen von außerhalb, besetzen deine Erde und nehmen dich gleich mit in Beschlag, als ihre Beute.

Die Gesellschaft wurde auseinandergerissen, sie hat sich von ihrer Verantwortung entfernt. Ähnlich wie die uns gut bekannte Annahme, dass die Kinder von ihrer Mutter ernährt und erzogen werden und der Vater allein für die finanzielle Versorgung zuständig sei. Das ist eine große Fehlannahme, denn es ist doch auch dein Kind, dann wäre es auch deine Aufgabe, Zeit mit dem Kind zu verbringen, es zu erziehen, ihm deine Werte mit auf seinen Lebensweg zu geben und seine Stärken und Schwächen zu erkennen. An diesem Punkt beginnt Gewalt. Wenn wir also von Gewalt sprechen, sollte sich zunächst der Mann angesprochen fühlen und sich darin erkennen. Er muss sehen, dass er sie nicht nur ausübt, sondern dass ihn die Folgen der Gewalt betreffen. Manchmal sehen wir, dass auch die Mutter ihre Kinder anschreit oder schlägt, dann sollten wir uns fragen, woher die Motivation kommt. Was ist die Ursache davon? Die Frau hat das meistens beim Mann abgeschaut, so wie dieser das vom Staat übernommen hat. Bis heute haben so viele Kinder und Frauen Gewalt durch den Mann erfahren. Wenn er sie abschätzig behandelt, sie mit seinen Blicken in Angst versetzt, dann wird die Frau von ihm getötet.«

Heval Şîn versichert, dass wir ihr in diesem Punkt glauben schenken können: »Die Frau lebt nicht mehr. Vielleicht befindet sie sich physisch noch neben euch, aber ihr Inneres ist abgestorben. Vielleicht sagt sie nicht, was in ihr vorgeht, aber ich kann euch sagen, sie wurde getötet. Wir als Frauen verstehen uns gegenseitig und wir wissen wie sich das anfühlt, wenn wir beim Kochen, beim Sprechen mit unseren Kindern oder bei den Blicken auf unsere Kleidung permanent Angst in uns fühlen.

Damit ich in allen Bereichen meines Lebens keine Angst oder Abhängigkeit entwickle, ist es wichtig, dass ich mich vom Wohlwollen des Mannes unabhängig mache. Es gibt niemanden, der oder die von sich sagen kann, dass er oder sie frei ist. Ein Mensch kann nur über sein Denken, seine Ideologie und die freie Äußerung seiner Gedanken frei werden. Dies ist ein ständiger Kampf um die Frage: Bis zu welchem Punkt akzeptieren wir die Versklavung unserer selbst, und ab wann beginnen wir uns dagegen zu organisieren? Über den Weg der Bildung und der Entwicklung unseres eigenen Denkens und Wissens können wir Kraft schöpfen. Über Bildung wird die Frau ihre Erkenntnisse gewinnen, die sie benötigt, um sich unabhängig und selbstbestimmt zu bewegen und sich zur Wissenden um ihre Persönlichkeit selbst zu erheben. Wir sagen, der Mann hat am meisten Angst vor der wissenden Frau. Und warum hat er Angst? Weil die Frau in sich selbst die Kraft besitzt, eigenständig und frei zu sein.«

Wenn Heval Şîn von der Revolution in Rojava spricht, sagt sie mit klaren Worten, dass es sich dabei um eine Frauenrevolution handelt. Sie weiss, wer uns heute bis hierher gebracht hat, das waren die Frauen. »Die Frau hat mit ihrer Fähigkeit die Gemeinschaftlichkeit entwickelt. Und dies bedeutet, dass wir darin auch eine Verantwortung tragen, indem wir alle zu Vertreterinnen und Vertretern unserer Organisierung und unserer Philosophie werden. Dies bedeutet in der Grundessenz, dass es möglich ist, die dominante Mentalität des Mannes zu überwinden. Der Mann entleert seinen Schmerz, dem er tagtäglich durch das System ausgesetzt ist, auf die Frau. Aber wenn der Mann wirklich stark ist, an sich selbst glaubt und sein Herz erweitert, dann nutzt er nicht Gewalt, um seine Nähe und Verbundenheit auszudrücken. Er wird sich dann mit Gleichberechtigung, mit Verständnis und Mitgefühl der Frau nähern und ihre Verbündete werden. Das ist es, was wir freies Zusammenleben nennen.«


 Kurdistan Report 211 | September/Oktober 2020