Diskussion der Broschüre »Revolutionäre Bildung« des Andrea-Wolf-Instituts

Die Revolution des Denkens als die erste und wichtigste Revolution

Sophia Angel


Broschüre »Revolutionäre Bildung« des Andrea-Wolf-InstitutsAm 18. Mai 2019 wurde in Rojava an der Jineologjî-Akademie das Andrea-Wolf-Institut eröffnet. Andrea Wolf war eine Internationalistin aus Deutschland, die sich in den 1990er Jahren dazu entschloss, Teil der kurdischen Freiheitsbewegung zu werden. 1998 fiel Heval Ronahî − so ihr revolutionärer Name − in den Bergen Kurdistans. Das Institut trägt ihren Namen, um das Verständnis von Freiheit, welches Şehîd1 Ronahî und mit ihr viele hunderte weitere internationalistische Frauen aus allen Ecken der Welt mit der Revolution in Kurdistan verbindet, weiterzutragen. Die Arbeiten, die nun am Institut umgesetzt werden, dienen der Erforschung und der Anwendung des Wissens von Frauen, von alternativen Methoden der Wissenschaft und Bildung, von natürlicher Gesundheit und alternativen Wegen der Reproduktion, von Selbstverteidigung, von revolutionärer Kunst und von der Schaffung von Gemeinschaft.

Zur Eröffnung des Instituts fand eine Bildung statt, die in Erinnerung an Şehîd Malda durchgeführt wurde. Sie fiel am 5. Mai 2019 einem Attentat des sogenannten Islamischen Staat (IS) zum Opfer. Heval Malda war eine der vielen jungen Frauen, die maßgeblich die Gedanken und Arbeiten der Jineolojî2 in Rojava vorangebracht hat. Die Jineolojî setzt sich unter anderem zum Ziel, eine Quelle des Wissens und des Lernens zu sein, um die Probleme der Frauen und der Gesellschaft zu lösen und die Frauenrevolution zu stärken. So wie jedoch Wissen und Kraft aus den Erfahrungen des Widerstands und der Revolutionen gezogen werden, umfassen die Arbeiten auch Bildungsarbeiten mit den IS-Frauen in den Camps, um zu verstehen, wieso sich so viele Frauen der hasserfüllten Ideologie des sogenannten Islamischen Staates zuwenden. Şehîd Malda befand sich gerade auf dem Weg zum Camp Hol, als sie ums Leben kam.

Voneinander lernen

Diese Bildung wurde von den Teilnehmerinnen dokumentiert und als Broschüre veröffentlicht. Deren Inhalt gliedert sich in sieben Teile und umfasst zudem ein Glossar der wichtigsten Begriffe und Konzepte der kurdischen Freiheitsbewegung. Im ersten Teil wird die Akademie und das Institut vorgestellt. Im zweiten Kapitel werden die Leser*innen in das Konzept der Bildung eingeführt und welcher Wert diese innerhalb der Freiheits- und Frauenbefreiungsbewegung in Kurdistan beigemessen wird. Für diese spezielle Bildung kamen Frauen zusammen, die in Rojava arbeiteten. Ein Großteil dieser Frauen kommt ursprünglich aus Nordeuropa, andere aus Südeuropa oder dem Mittleren Osten. Das Zusammenkommen von Frauen aus unterschiedlichen Kulturen bietet die große Chance, voneinander zu lernen, eine gemeinsame Kultur des Teilens zu entwickeln und daraus alternative Persönlichkeiten, alternative Lebenskulturen aufzubauen.

Kollektives Leben

Die kurdische Bewegung war schon immer eine Bewegung, der sich Menschen aus anderen Ländern angeschlossen haben, da hier das Verständnis von Internationalismus geteilt wird, dass es keine wirkliche Veränderung und keine dauerhafte Revolution geben kann, wenn diese nicht global ist und Freiheitskämpfe weltweit nicht auch als die eigenen betrachtet werden. Die afroamerikanische Feministin Audre Lorde prägte diese Perspektive für den Feminismus mit dem Satz: »Ich bin nicht frei, solange noch eine einzige Frau unfrei ist, auch wenn sie ganz andere Fesseln trägt als ich!« In der Bildung war es möglich, sowohl die Praktiken eines kollektiven Lebens in einem alternativen System zu leben, als auch voneinander zu lernen und Erfahrungen zu teilen. Für Internationalistinnen aus den Metropolen der kapitalistischen Moderne stellen diese Räume eine Chance und eine Hoffnung dar, die sich in der Gefangenschaft der kapitalistischen Ideologie und Funktionsweise so selten bieten, aber gefühlt und gesucht werden. So schreiben sie auch selbst: »Wir glauben, dass die Zeiten, in denen wir leben, die Energie zur Veränderung in sich trägt. Wir sind in der Hoffnung hergekommen, Wege zu finden, diese Energie voll auszuschöpfen. Hier entwickeln wir revolutionäre Liebe und radikale Kämpfe.«

Bildung als kritische Reflexion

Im dritten Kapitel werden wichtige Gedanken einer Genossin aus dem Mittleren Osten geteilt. Sie teilt ihre Beobachtungen über die Erfahrungen, welche die Frauen aus den westlichen Ländern mitbringen. Ihrer Betrachtung nach mangelt es den Bewegungen im Westen insbesondere an Kontinuität, welche sich insbesondere in der Trennung zwischen politisch und privat ausdrückt. Letztere Trennung wurde wiederholt auch von westlichen feministischen Bewegungen kritisiert und immer wieder auch angegangen. Jedoch hat das kapitalistische System gut verstanden, wie es Widersprüche zumindest oberflächlich absorbiert und sich aneignet, oder zumindest verschleiert. Umso wichtiger, Bildung auch als kritische Reflexion von allen Aspekten des Lebens zu begreifen − »die Hauptdimension unserer Bildung war das Leben selbst«.

Die Erkenntnis, dass wir alle voneinander abhängig sind und der Mensch nicht autonom lebt, sondern sowohl mit anderen Menschen, als auch mit all den anderen Formen des Lebens, ist etwas, was durch Individualisierung und Entfremdung in den westlichen Metropolen verschleiert werden soll. Im vierten Kapitel wird beschrieben, dass die Bildung auch selbst in Kommunen organisiert war. Die Praktiken des Gemeinschaftslebens konnten somit direkt erfahren werden. Zudem wird beschrieben, welche Rolle Rituale einnehmen können. Dabei gilt es jedoch Rituale stets kritisch zu betrachten, denn ohne sich ständig auch selbst zu (hinter-)fragen »Wieso mache ich das?«, »Welche Bedeutung gebe ich diesem Moment?«, droht ein Verlust der Ernsthaftigkeit und Bedeutung von ritualisierten Praktiken wie beispielsweise dem Gedenken.

Die eigene Geschichte kennen und sich als Teil davon sehen

Der Hauptteil der Broschüre setzt sich aus der inhaltlichen Wiedergabe der verschiedenen Seminare der Bildung zusammen. Behandelt werden: Wahrheitsregime; Geschichte des Mittleren Ostens und Orientalismus; Nation, Staat, Religion und Familie in Europa; Liberalismus; Jineolojî, Hevjiyana Azad3; demokratische Nation und demokratischer Konföderalismus. Auf eine Wiedergabe des Inhalts wird an dieser Stelle zugunsten des Aufrufes verzichtet, die Broschüre gemeinsam zu lesen und die dort benannten Punkte zu diskutieren. Das Bedürfnis zu verstehen schließt ein, die eigene Geschichte zu kennen und sich als Teil dieser zu sehen. Aus vergangenen Fehlern gilt es zu lernen und bisher ungenutzte Potenziale zu entfalten und sich anzueignen. Doch auch Utopien oder Vorstellungen einer auf Solidarität basierenden Zukunft, müssen formuliert werden. Diese Formulierungen lassen sich jedoch nicht von der Gegenwart trennen, denn auch in alltäglichen Praktiken gilt es, sowohl bedeutungsvolle Beziehungsformen alltäglich (wieder-)herzustellen, als auch für die materiellen Grundlagen einer kollektiven Gestaltung des Lebens zu kämpfen.

Kritik und Selbstkritik

Die beiden abschließenden Teile umfassen eine Beschreibung der sogenannten Plattformen und abschließende Worte einer Teilnehmerin »Über die Hoffnung«. Eine Plattform lässt sich als eine Methode der Kritik und Selbstkritik verstehen, geht jedoch noch tiefer in die persönliche Lebensgeschichte einer jeden Person ein und dient der Analyse der eigenen Persönlichkeit. Sich gegenseitig zu kritisieren ist eine solidarische, fürsorgliche Praxis und sollte auch als solche aufgefasst und wertgeschätzt werden. Kritiken fungieren zudem als Spiegel von Geschichte und Gesellschaft, da das Individuum nicht isoliert betrachtet werden kann.

Im Oktober 2019 fiel der türkische Staat in weitere Teile von Nord- und Ostsyrien ein und hält diese Gebiete bis heute besetzt. Vielmehr hat sich der Krieg noch weiter intensiviert, die kurdische Freiheitsbewegung in Südkurdistan steht unter der permanenten Bombardierung durch die türkische Luftwaffe, die Repression in Nordkurdistan gegenüber der demokratischen Opposition und der kurdischen Zivilbevölkerung hält unvermindert an. Die Worte am Ende der Broschüre wurden kurz nach der Invasion 2019 verfasst und heben die Bedeutung der Hoffnung inmitten all dieser Brutalität hervor: »Die Hoffnung war schon immer die am schwersten zu ziehende Saat. Sie fühlt sich zu zart und zerbrechlich an, um in dieser Welt zu existieren. Manchmal dämpfen wir sie mit Fleece und Netzen, um sie vor der Härte unserer Umgebung zu schützen. Aber damit sie wachsen und bestäubt werden kann, muss sie vom Wind geschüttelt werden. Sie muss lernen, sich gegen Vögel zu verteidigen und starke Wurzeln zu bilden, damit sie sich an der Erde festhalten kann. Sie wird verwittert und zäh werden, sie wird Blätter und Äste verlieren. Aber, meine Freund_innen, wenn der Sommer kommt, werden ihre Früchte die süßesten von allen sein.«

Die Broschüre »Revolutionäre Bildung am Andrea Wolf-Institut« als PDF-Datei: https://civaka-azad.org/wp-content/uploads/2020/05/Revolutionary-education-deutsch.pdf


Fußnoten:

1 - Şehîd – bedeutet in Kurmancî Märtyrer. Die kurdischeFreiheitsbewegung ehrt die Menschen, die ihr Leben im Kampf für die Freiheit gegeben haben und gibt immer wieder ihr Versprechen, deren Kämpfe weiterzuführen.

2 - Jineolojî – zusamengesetzt aus Kurmancî für jin – Frau, das gemeinsame Wurzeln mit dem Wort jiyan – Leben hat und dem griechischen Wort logos – Wissen oder Wissenschaft. Es ist die Wissenschaft der Frau und des Lebens. Abdullah Öcalan schlägt die Jineolojî als alternative Wissenschaft und Methode von Frauen vor, die Wissen und Analysen für die Befreiung von Frauen und Gesellschaft erarbeitet.

3 - Hevjiyana Azad – Kurmancî für hev – zusammen, jiyan – Leben und azad – frei. Es ist ein Konzept der Philosophie von Abdullah Öcalan und bedeutet »Zusammenleben in Freiheit«. Laut Abdullah Öcalan kann dies nur durch kollektive Befreiung und kommunale Formen des Zusammenlebens erreicht werden, nicht nur unter Menschen, sondern auch mit der Erde, der Natur und allen Lebewesen.


 Kurdistan Report 211 | September/Oktober 2020