Unser Kampf richtet sich gegen das Patriarchat und damit verbunden gegen den Kolonialismus und den Rassismus

Feministische Revolution in Abya Yala

Ein Interview mit Adriana Guzmán vom Antipatriarchalen Kommunitären Feminismus in Bolivien

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich in den Territorien von Abya Yala1 diverse feministische Bewegungen mit unterschiedlichen politischen Zielsetzungen gebildet. Eine dieser Bewegungen ist der Kommunitäre Feminismus, der in mehreren Ländern vertreten ist und sich im Rahmen einer breiteren kontinentalen Strömung indigener Bewegungen auf traditionelle Formen der Weltanschauung und des Gemeinschaftslebens beruft. Die Kommunitären Feministinnen verfolgen einen dekolonialen, antikapitalistischen und antisystemischen Ansatz.
Mónica Grados und Tamara Candela der Initiative für Basisbewegungen in Abya Yala (INAY) führten für den Kurdistan Report ein Interview mit Adriana Guzmán aus La Paz über die Bewegung und über die aktuelle politische Situation unter der Putschregierung. Adriana ist Angehörige der Volksgruppe der Aymara und internationale Sprecherin des Antipatriarchalen Kommunitären Feminismus in Bolivien.

Adriana Guzmán, was kannst Du uns über den Antipatriarchalen Kommunitären Feminismus und Eure Kämpfe in den vergangenen Jahren erzählen?

Als Feministinnen organisierten wird uns zuerst während der Gasmassaker im Jahr 2003.2 Das große Problem, das wir auf dieser Seite der Welt haben, ist der Extraktivismus, sind die transnationalen Unternehmen, die Ausbeutung der Gasvorkommen und anderer Ressourcen. Damals ging es um den Verkauf der bolivianischen Gasvorkommen an die USA. Der Präsident entsandte Soldaten in verschiedene Regionen, hauptsächlich nach El Alto, um dort Massaker an der protestierenden Bevölkerung zu verüben. Wir nahmen an den Mobilisierungen teil und bemerkten, dass wir Frauen zwar den gleichen Kampf führten wie die Männer, aber nicht unter den gleichen Bedingungen. So wurden zum Beispiel viel mehr Männer ermordet als Frauen. Der Machismo ließ unsere Brüder denken, die Kugeln würden sie nicht töten. Wir Frauen jedoch durften nicht sterben, denn wir waren diejenigen, die die Kinder aufziehen mussten. Es bedurfte also einer Diskussion der Frauen. Und diese musste berücksichtigen, dass wir aus verschiedenen Klassen kommen, dass es indigene, schwarze und nicht schwarze Frauen gibt, dass wir nicht gleich sind. Es ging um eine politische Positionierung, deswegen nannten wir uns Feministinnen. Dies half uns, mit den Männern in einen Dialog zu treten und am politischen Prozess teilzunehmen, denn sie waren es, die zu dem Zeitpunkt den Indianismus, den Kommunismus und den Sozialismus vertraten. Später nannten wir uns Kommunitäre Feministinnen, weil wir uns als Aymaras und Quechuas verstanden, womit wir die kolonialen Pakte durchbrachen, die dazu führen, dass wir unsere Mütter und Großmütter verleugnen. Auch mussten wir einen Vorschlag erarbeiten und dieser war und ist die Gemeinschaft. 2008 gründeten wir den Kommunitären Feminismus, 2016 fügten wir »Antipatriarchal« hinzu, denn manchmal reproduzieren sich innerhalb der Selbstorganisationen die Logiken der Macht, so dass wir das Patriarchat innerhalb und außerhalb der Organisationen bekämpfen müssen.

Der Antipatriarchale Kommunitäre Feminismus ist ein Symbol des Kampfes, nicht nur der Feministinnen, sondern auch der allgemeinen gesellschaftlichen Kämpfe, zum Beispiel gegen den Einfluss von internationalen Organisationen in den Ländern. Was sind Eure Ziele?

Unser Kampf richtet sich gegen das Patriarchat und damit verbunden, gegen den Kolonialismus und den Rassismus, denn wir wollen in Würde leben. Unser Kampf ist für das Vivir Bien, das Erbe der Völker ‒ verstanden als das Leben in der Gemeinschaft ‒ zwischen den Menschen und mit der Natur, ohne Akkumulation von Reichtum, ohne Ausbeutung. Wir kämpfen darum, dass dies jeden einzelnen Tag geschieht. Uns als Feministinnen zu bekennen hat uns dazu geführt, uns der Gewalt zu stellen, gewalttätige Beziehungen zu verlassen, eine eigene Stimme in der Politik zu haben, über Gesundheit zu diskutieren. Das ist das Vivir Bien. Es bedeutet, das Leben zu transformieren, das uns Frauen in eine untergeordnete Position setzt, ohne Stimme und ohne Worte.

Beinhaltet euer Vorschlag eine neue kommunitäre Ideologie?

Wir haben das Leben in der Gemeinschaft nicht erfunden. Sie ist die Lebensweise, die den individualistischen, patriarchalen, frauenfeindlichen und rassistischen Kapitalismus überdauert hat. Sie hat andere Formen der Wirtschaft, eine eigene Form der Justiz, der Organisation, ein anderes Prinzip der Verteilung von Macht. Unser Vorschlag ist ein Vorschlag für das Leben, für die Politik, für die Kultur. Es gibt nicht nur eine Weise die Welt, die Beziehung zur Natur, zur Musik oder zum Essen zu verstehen, auch wenn das System uns das glauben machen will. Die Pandemie hat uns deutlich vor Augen geführt, wie nützlich die ländliche Gemeinschaft ist. Denn dort zirkulieren die Nahrungsmittel, sie organisiert sich, um Diversität zu produzieren und muss nicht vom herrschenden System abhängig sein. Das Problem sind die Städte, die ihre Nahrung nicht selbst produzieren und Ausbeutung verursachen. Auch sind wir im Austausch mit anderen Selbstorganisationen, wir nehmen an der öffentlichen politischen Diskussion teil und wir hinterfragen die universitäre Akademie, die Universalität der Inhalte.

In den andinen Gemeinschaften3 in Peru und Bolivien gelten besondere Werte wie die Solidarität und die Geschwisterlichkeit der Völker und Gemeinschaften. Die drei Grundsätze sind Ama Sua, Ama Llulla, Ama Quella (Sei kein Dieb, sei kein Lügner, sei nicht untätig).

Ja, die Justiz basiert auf diesen Grundsätzen und die Gemeinschaft entscheidet geschlossen, nicht zu lügen, nicht zu stehlen und zu arbeiten. Denn wenn wir alle arbeiten, müssen wir niemanden ausbeuten. Die Wiederherstellung dieser Grundsätze betrifft auch die Bildung, Gesundheit, Ernährung und Politik. In Bolivien wurde versucht, das durchzusetzen. Und natürlich sind wir mit Peru ein gemeinsames Territorium, wir sind ein Volk und ohne diese Werte und diese Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft hätten wir nicht überlebt.

Was wäre die angemessene politische Lösung der aktuellen Probleme in Bolivien? Seht ihr diese bei Evo Morales Partei, der Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo, MAS), oder in der Gründung einer neuen Partei?

Die Gemeinschaft ist eine Form der Selbstorganisation, der Selbstregierung und der Selbstbestimmung. Es ist für uns fundamental, diese Autonomie nicht zu verlieren, denn der Staat sorgt weder für das gesundheitliche noch für das wirtschaftliche Wohlergehen der Bevölkerung. Es ist ein mörderisches System und der Staat ist für uns nicht die Lösung. Mit der de facto Regierung in Bolivien haben wir ein dringendes Problem, das gelöst werden muss. Denn erst dann wären wir frei von Repression und politischer Verfolgung. Auch verfolgt die de facto Regierung keine angemessene Gesundheitspolitik. Um überleben zu können, muss diese Regierung weg und das bedeutet bei den nächsten Wahlen, die MAS zu wählen. Wir glauben nicht, dass die de facto Regierung die Wahlen respektieren wird. Und wir glauben auch nicht, dass die Wahlen und die Demokratie die Konflikte lösen, mit denen wir konfrontiert sind. Dafür muss ein anderes Lebensmodell geschaffen werden. Andererseits ist die MAS keine Partei wie alle anderen. Sie ist ein politisches Instrument, das von den Völkern geschaffen wurde. Der Staat hat die MAS verschlungen. Er ist eine bourgeoise kapitalistische Maschinerie, die alles verschlingt, auch die Träume und die Kämpfe. Wir müssen die Putschregierung absetzen und dann keine weitere Partei schaffen, sondern die Autonomie und Selbstbestimmung der Völker stärken.

Ihr solidarisiert euch mit der kurdischen Bewegung, vor allem mit der autonomen Frauenbewegung in Rojava. Was ist es, das eure Kämpfe verbindet?

Ausgehend vom Gedächtnis unserer VorfahrInnen glauben wir, dass die Autonomie und Selbstbestimmung der Völker die Basis der Würde und der Revolution sind. Der Kampf der KurdInnen für Autonomie und die Wiederherstellung ihres Territoriums ist ein Kampf, den auch wir führen. Es ist auch unser Kampf, denn wir können nicht gut leben, wenn es einem anderen Volk schlecht geht, wenn es unterdrückt und unterworfen wird. Wir sind mit den kurdischen Schwestern aufgrund ihrer Positionierung gegenüber dem Patriarchat vereint, aufgrund ihrer Überzeugung, dass wir keine andere Welt aufbauen können, wenn es kein Verständnis für die Frauen und wenn es weiterhin Verletzungen und Gewalt gibt. Wichtig sind für uns hier die Kenntnisse der Frauen in der Jineolojî und die Selbstbestimmung in Rojava, die es beispielsweise ermöglicht haben, dort ein Frauendorf aufzubauen.

Unsere Ansätze ähneln sich und im Austausch mit den kurdischen Schwestern treffen wir uns als Geschwister, als alte und weise Völker. Auf dieser Grundlage möchten wir heute in dieser Welt leben können, doch das wird ohne Kämpfe nicht möglich sein. Uns mit den kurdischen Schwestern zu solidarisieren bedeutet daran zu erinnern, dass es keine Grenzen gibt, dass der Kampf gegen das Patriarchat von Abya Yala bis nach Kurdistan reicht.

Vielen Dank für euren Kampf und für die Solidarität mit den Frauen nicht nur in Bolivien und Abya Yala, sondern auch darüber hinaus. Vielen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.


Fußnoten:

1 - Abya Yala, aus der Sprache der Kuna aus Panama, ist die postkoloniale Bezeichnung für den fälschlicherweise »Lateinamerika« genannten Kontinent. Sie wurde von den organisierten indigenen Bevölkerungen übernommen.

2 - Im »Gas-Krieg« 2003 hatten tausende Bewohner der Armenstadt El Alto gegen die Entscheidung der De-Lozada-Regierung protestiert, bolivianisches Flüssiggas weit unter Weltmarktpreis ins US-amerikanische Kalifornien zu exportieren. Straßenblockaden hatten die Hauptstadt eingekesselt und von der Außenwelt abgeschnitten. Bei den Protesten waren 67 Menschen ums Leben gekommen, rund 400 wurden verletzt. Siehe auch https://amerika21.de/nachrichten/2011/09/39728/urteil-gas-krieg

3 - Indigene Gemeinschaften in den Anden


 Kurdistan Report 211 | September/Oktober 2020