Neuerscheinung: Broschüre zum würdevollen Gedenken an Halim Dene

»Halim Dener – Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen.

Interview mit der Kampagne Halim Dener


»Halim Dener – Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen.Zum 26. Jahrestag des Mordes an Halim Dener habt ihr als Kampagne eine umfangreiche Broschüre mit dem Titel »Halim Dener – Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen.« veröffentlicht. Könnt ihr, bevor wir auf die Neuerscheinung zu sprechen kommen, auf eure Kampagne näher eingehen? Seit wann ist die Kampagne aktiv und wie wertet ihr ihren Verlauf? Habt ihr es geschafft, dieses Thema in Hannover in die Öffentlichkeit zu rücken?

Die Kampagne Halim Dener hat sich im Jahre 2014 gegründet, zunächst mit dem Ziel, zum 20. Todestag von Halim am 30. Juni mehr Aufmerksamkeit für sein Schicksal in der Öffentlichkeit zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt dachte noch niemand daran, eine mehrjährige Kampagne zu starten. Traditionell hatte die kurdische Bewegung an Halims Todestag immer kleine Gedenkkundgebungen veranstaltet, die allerdings nur wenige Menschen erreichten. Der 20. Todestag schien ein guter Anlass zu sein, dies zu ändern und die Erinnerung an Halim Dener mehr in die Stadtöffentlichkeit zu tragen. Zuerst galt es aber, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Was uns aus heutiger Sicht in Hannover selbstverständlich scheint – eine enge und solidarische Verbindung zwischen der deutschen radikalen linken Szene und der kurdischen Bewegung – existierte damals nicht, jedenfalls nicht mehr. Im Vorfeld der Demonstration 2014 mussten die Kontakte deshalb völlig neu aufgebaut werden. Einladungen zu gemeinsamen Festen und Veranstaltungen halfen beim Kennenlernen und trugen dazu bei, über persönliche Bekanntschaften Vertrauen aufzubauen. Darüber hinaus verband – wie so oft – auch die Auseinandersetzung mit staatlicher Repression. Vor allem waren uns kurdische Jugendliche bekannt, die von staatlichen Sicherheitsbehörden drangsaliert wurden. Die Kontakte zu ihnen waren über gemeinsame Antirepressionsarbeit mit anderen linken Aktivist*innen und Gruppen entstanden. An diese ersten Erfahrungen von Solidarität konnte im Zuge des gemeinsamen politischen Prozesses angeknüpft werden. Schnell stand fest: Beide Seiten hatten großes Interesse daran, politisch zusammenzuarbeiten und sich in diesem Prozess genauer kennenzulernen. Der 20. Todestag Halims verknüpfte dabei als Ereignis viele relevante politische Themen. Ohne diese Themen lassen sich Halims Leben, die Umstände seines Todes und die Art, wie mit diesem Ereignis umgegangen wird, nicht erklären. Krieg, Flucht, Verfolgung, der Kampf des türkischen Staates – in den 1990er Jahren genau wie 2014 und bis heute – gegen die kurdische Befreiungsbewegung, rassistische Polizeigewalt hierzulande u. v. m. sind Themen, die auch 26 Jahre nach seinem Tod nichts an Aktualität eingebüßt haben.

Eine Stärke der Kampagne in diesem ersten Jahr war es, eine große Bandbreite von regionalen Akteur*innen einzubeziehen. Hierzu gehörten neben verschiedenen linken Gruppen mit Schwerpunkten besonders im Bereich Antifaschismus und Antirassismus und Gruppen innerhalb der kurdischen Bewegung auch verschiedene antirassistische Initiativen wie zum Beispiel der Flüchtlingsrat Niedersachsen und die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh sowie Gliederungen verschiedener politischer Parteien (Piratenpartei, Die Partei, Grüne, die Linke). In der Zusammenarbeit ist es möglich geworden, den wichtigen Kampf um eine würdevolle Erinnerung an Halims Schicksal mit aktuellen politischen Kämpfen und Auseinandersetzungen zu verbinden. Demonstrationen, Kundgebungen, Mahnwachen sowie Veranstaltungen usw. wurden nun regelmäßig von der Kampagne organisiert. In der Broschüre werdet ihr auf einen Artikel stoßen, der sich intensiv mit der Reflektion dieser Arbeiten auseinandersetzt. Unsere Hauptforderung der letzten Jahre war es, in Richtung einer Erinnerung und Auseinandersetzung mit dem Tod Halim Deners in der Stadtgesellschaft hinzuarbeiten. Dabei sollten die Stadtpolitik und -verwaltung in Hannover ein klares Zeichen setzen, mit dem sie Halim auch nach außen als einen wesentlichen Teil der Stadtgeschichte anerkennen, und ihren Willen zu einem öffentlichen Gedenken dokumentieren. Diesem Ziel waren wir 2017 im Zuge der Auseinandersetzung um die Benennung des Halim-Dener-Platzes sicherlich am nächsten. Die Reaktion der Stadt auf die Initiative des Bezirksrates, die vehemente Weigerung und die Ausschöpfung weitreichender juristischer Mittel zu diesem Zweck, hat uns aber auch klare Grenzen aufgezeigt. Wir müssen festhalten: Trotz teilweise anderslautender Lippenbekenntnisse weigert sich die Stadt Hannover bis heute hartnäckig, ihrerseits einen Beitrag zu einem würdevollen Gedenken an Halim zu leisten. Zusammenfassend lässt sich sagen: Wir haben auf Halims Schicksal und die damit verbundenen politischen und gesellschaftlichen Fragen auf vielfältigste Art und Weise aufmerksam gemacht: mit Demonstrationen, Gedenktafeln und zahlreichen anderen Aktionen. Wir haben die Auseinandersetzung mit der Stadtpolitik auf verschiedenen Wegen gesucht, in Gesprächen mit dem Oberbürgermeister, mit Diskussionsveranstaltungen, in der Zusammenarbeit mit dem Bezirksrat Linden-Limmer. Aber all diese Angebote und Formate, all die Aufmerksamkeit und die Unterstützung von so vielen Menschen, die mit uns auf der Straße waren, konnte die Front der Ignoranz und Untätigkeit in der herrschenden Stadtpolitik nicht aufbrechen. Einem der wesentlichen Ziele jedoch, mit dem das Vorhaben 2014 antrat, nämlich der stärkeren Verbindung zwischen kurdischer Bewegung und deutscher Linker, sind wir mit dem Prozess in der Halim-Dener-Kampagne mit Sicherheit einen großen Schritt näher gekommen.

Wie ist die Idee zur neuen »Halim Dener«-Broschüre entstanden?

In erster Linie ist diese Broschüre ein Beitrag zum würdevollen Gedenken an Halim Dener. Wie bereits erwähnt, konnten wir dies nicht in Zusammenarbeit mit der Stadt erreichen. So entstand die Idee, als Kampagne selbst eine Dokumentation auszuarbeiten. Die Broschüre ist aber auch ein Ergebnis unseres gemeinsamen Prozesses. Sie dient als Selbstverständigung, weil wir Revue passieren lassen, was seit Halims Tod geschehen ist, und führt uns vor Augen, in welchem Zusammenhang sein persönliches Schicksal steht. Und weil wir auf fünf Jahre Kampagnenarbeit zurückblicken, auf deren Erfolge, aber auch Rückschläge. Diese Broschüre entstand aber nicht nur für uns, sie richtet sich auch nach außen. Sie dient ‒ wie auch die anderen Aktivitäten der Kampagne ‒ dazu, Halims Geschichte weiter bekannt zu machen, indem wir sie erstmals umfassend publizistisch aufarbeiten. Nicht zuletzt dokumentieren und reflektieren wir hier auch unseren politischen Kampf mit dem Ziel, all denjenigen, die ähnliche Gedanken und Motive haben, mahnendes Beispiel und inspirierendes Vorbild zugleich zu sein. Viele Erfahrungen müssen im politischen Aktivismus immer wieder von neuem gemacht werden, und trotzdem können wir voneinander und von unseren vergangenen Kämpfen lernen ‒ das ist unsere Überzeugung.

Welchen Themen widmen sich die Beiträge?

Diese Broschüre besteht aus zwei Teilen, von denen der erste sich mit der Geschichte Halim Deners und seinem Tod sowie den Verhältnissen und Ereignissen in den 1990er Jahren beschäftigt. Die hier versammelten Beiträge befassen sich mit der historischen und aktuellen Situation in Kurdistan, die Grund für Halims Flucht im Jahr 1994 waren. Ein zweiter Beitrag beleuchtet die Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, zu denen auch Halim einst gehörte. Neben den Gefahren auf der Flucht selbst, geht es auch um die Rahmenbedingungen in Deutschland und deren Verschlechterung in den letzten Jahren. Über die Repression der kurdischen Bewegung in Deutschland, namentlich das erlassene PKK-Verbot, informiert ein weiterer Artikel. Die überregionalen politischen Proteste, die der Tod Halims bereits 1994 auslöste, und die ersten Initiativen für ein Gedenken und Erinnern, die lange vor der Kampagne Halim Dener entstanden, werden in einem eigenen Beitrag beleuchtet. Den Abschluss des ersten Teils bilden zwei Prozessberichte zum Gerichtsprozess gegen den Polizeibeamten, der Halim 1994 erschoss. In diesen historischen Dokumenten beschreiben Rolf Gössner, der als Anwalt der Nebenklage Halims Familie vertrat, sowie eine anonyme Beobachterin den teils absurd anmutenden Prozessverlauf und ihre Eindrücke vom Geschehen rund um das Verfahren. Der zweite Teil der Broschüre widmet sich den Aktivitäten und Ereignissen rund um die Kampagne Halim Dener seit 2013. Der erste Beitrag präsentiert Überlegungen zu einer Erinnerungskultur rund um das Schicksal Halim Deners, wobei sowohl eine kritische Bestandsaufnahme als auch die politische Vision Platz finden. Zur Einschätzung der Medienberichterstattung zum Fall Halim Dener gibt es in einem zweiten Beitrag ein Interview mit dem Sozialwissenschaftler Christian Hinrichs, der sich in einer Abschlussarbeit mit der Erinnerungskultur zu Halim Dener beschäftigte. Es folgt ein weiteres Interview mit einem Aktivisten der Kampagne Halim Dener. Darin geht es um die Erfahrungen in der Zusammenarbeit zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und der deutschen Linken, die während der Arbeit in der Kampagne gesammelt wurden. Diese Zusammenarbeit wurde von den deutschen Behörden offenbar äußerst skeptisch beäugt. In einem eigenen Beitrag informieren wir über die diversen Repressionsversuche gegen die Kampagne (und ihr Scheitern). Einen eigenen Beitrag widmen wir ebenfalls einer der einflussreichsten ‒ wenn auch letztlich bisher erfolglosen ‒ politischen Initiative der Kampagne, dem Kampf um die Benennung eines Platzes in Hannover nach Halim Dener. Den Abschluss dieses Bandes bildet ein Text über die Entstehung und Aktivitäten der Kampagne von 2014 bis 2019, den wir mit einer vorläufigen Bilanz und einem Ausblick beenden.

Welche Rolle spielt der Fall Halim Dener eurer Meinung nach heute noch und welche Perspektiven hat die Kampagne Halim Dener für die Zukunft? Gibt es weitere Projekte?

Der Fall Halim Dener ist wie auch bereits erwähnt kein Einzelfall. Die politischen Themen, die mit seinem Fall verknüpft sind – Krieg, Flucht, Polizeigewalt, Repressionen gegen die kurdische Befreiungsbewegung u. v. m. –, haben an Aktualität nichts verloren. Halims Geschichte von Folter, Flucht und sein Ankommen hier in Europa sowie der Umgang staatlicher Institutionen mit Geflüchteten ist nur ein Beispiel für Tausende von Menschen, die ähnliches auch heute noch durchmachen. Zudem kann der Fall ohne die Berücksichtigung des Verhältnisses Türkei-Deutschland nicht verstanden werden. Damals wie auch heute ist die Bundesrepublik Deutschland Mitunterstützer des Krieges gegen Kurd*innen, in Form von finanzieller Unterstützung und Waffenlieferung, aber auch der Verfolgung von kurdischen Aktivist*innen hier im Lande. Weiterhin ist der Fall eng verbunden mit der Geschichte der linken Bewegung sowie auch mit der Geschichte der Polizei. Die Zunahme rassistischer Polizeigewalt sowie die Kriminalisierung alternativer Bewegungen heutzutage zeigen die Aktualität des Falls Halims eindeutig.

Für die nächste Phase haben wir uns vorgenommen, mit der Broschüre bundesweit auf Lesereise zu gehen. So kann zum einen Halim Deners Fall bekannter gemacht und zum anderen aufgezeigt werden, mit welchen politischen Themen dieser Fall verknüpft ist ‒ und entsprechend ‒ wie aktuell dieser Fall noch ist. Leser*innen, die sich eine Lesung in ihrer Stadt wünschen und dies mit uns gemeinsam gestalten wollen, können uns gerne per E-Mail kontaktieren. Ein weiteres Projekt bzw. zunächst noch eine Idee ist es, auf den Beschluss der Stadtverwaltung zu pochen, eine Dokumentation über Halim Deners Geschichte als Alternative für die Platzbenennung zu erstellen und mit der Stadt gemeinsam zum Beispiel an einer mobilen Ausstellung zu arbeiten. Aber auch die Thematik um die Platzbenennung könnte im Zuge der Wahl eines grünen Oberbürgermeisters in Hannover wieder interessant werden. Wir können uns auch beispielsweise Schulprojekte vorstellen, die die Möglichkeit bieten, dass kurdische und nichtkurdische Jugendliche gemeinsam an einem Thema arbeiten. Wir sehen das nicht als etwas Trennendes zwischen Türk*innen, Kurd*innen und Deutschen, sondern als etwas verbindendes und mutiges.

Wie können Interessierte eure Aktivitäten verfolgen und wo und wie ist die Broschüre erhältlich?

Interessierte können unsere Aktivitäten über unseren Blog (http://halimdener.blogsport.eu/) verfolgen und uns per E-Mail (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.) erreichen. Die Broschüre besitzt eine ISBN-Nummer und kann somit in allen Buchhandlungen bestellt werden. Sie ist darüber hinaus aber auch in Hannover im Annabee-Buchladen, Infoladen Kornstraße, bei NAV-DEM Hannover sowie bundesweit in weiteren kurdischen und linken Buch- und Infoläden für 10 € erhältlich. Zudem kann sie über den Literaturvertrieb der Roten Hilfe bezogen werden (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.).


 Kurdistan Report 211 | September/Oktober 2020