Über den Zusammenhang zwischen der Isolation von Abdullah Öcalan auf Imralı, der Demokratisierung der Türkei und der Erlangung demokratischer Rechte durch die kurdische Gesellschaft

Isolation auf Imralı und Demokratisierung der Türkei

Rechtsanwältin Newroz Uysal, Istanbuler Rechtsbüro Asrın


Im Europaparlament in Brüssel hat Anfang Februar zum 16. Mal die internationale Konferenz »Die Europäische Union, die Türkei, der Mittlere Osten und die Kurden« stattgefunden. Die zweitägige Konferenz wurde von der EU-Turkey Civic Commission (EUTCC), den Fraktionen GUE/NGL, Die Grünen | Europäische Freie Allianz, Progressive Allianz der Sozialdemokraten und dem Kurdischen Institut Brüssel organisiert.
Wir veröffentlichen im Folgenden den Beitrag der Rechtsanwältin Newroz Uysal vom Istanbuler Rechtsbüro Asrın, die die Isolationsbedingungen ihres Mandanten Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imralı beschrieb:

Die Jugend Efrîns im Kanton Şehba hat einen Marsch zum 21. Jahrestag des internationalen Komplotts vom 15. Februar organisiert. Die Jugend ist entschlossen, den Faschismus mit dem Zorn der Jugend zu besiegen und das Imralı-System zu brechen.Foto: anfLiebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer,
ich freue mich, an dieser nunmehr 16. Konferenz teilzunehmen, und ich möchte Sie alle im Namen der Anwaltskanzlei Asrın begrüßen. Am 15. Februar wird Herr Öcalan 21 Jahre auf der Insel Imralı inhaftiert sein. Wir alle haben erlebt, dass in diesen 21 Jahren im Rahmen des Isolationssystems Imralı, das sich im Laufe der Zeit immerfort veränderte, weiterentwickelte und verschärfte, einerseits das Recht durch Willkür und Unregelmäßigkeiten definiert wurde, während andererseits die Politik von interessengeleiteten Herangehensweisen geprägt war.

Imralı widerspricht dem Folterverbot

Mit der Art und Weise der Verhaftung, des Prozesses, der Verurteilung und der Strafvollstreckung ist Imralı willkürlich und verstößt sowohl gegen universelle Rechtsnormen als auch gegen Rechtsvorschriften der Türkei. Das Imralı-System zeichnet sich durch Maßnahmen aus, die sich erstaunlich von vergleichbaren Beispielen in der ganzen Welt unterscheiden. Da es speziell als Insel für eine Person konzipiert ist, hat es zudem eine räumliche Dimension. Die Besonderheiten ergeben sich nicht aus rechtlichen, sondern aus politischen Motiven; folglich geht es hier um eine politische Frage. Das Inselgefängnis von Imralı ist als Erstes seiner Art eine Ausnahme. Seit der Überstellung Öcalans nach Imralı kann jede Ordnung auf der Insel als systematisch bezeichnet werden, denn sie wird fortwährend planvoll und als Ganzes weiterentwickelt. Die angewandten Maßnahmen werden je nach Ergebnis variiert, ersetzt oder verschärft. Grundlage des Systems ist nicht die Gewährung, sondern die Einschränkung von Rechten. Dieses System wird 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche aufrechterhalten, ohne Unterbrechung. Wegen seiner Auswirkungen auf Körper, Gesundheit und Psyche des Menschen widerspricht das System der Isolationshaft zudem gänzlich dem Folterverbot.

Das Imralı-System der Isolation begann mit einer Verletzung des Völkerrechts, mit einer rechtswidrigen Festnahme und Verhaftung, der Verletzung des Rechts auf einen fairen Prozess und des Rechts auf Verteidigung. Dann wurde eine vollständige Abschottung errichtet, Herr Öcalan wurde 10 Jahre lang ganz allein festgehalten. Weder durfte er von seinem Recht auf Telefongespräche Gebrauch machen, noch bekam er die ihm zugesandten Briefe; und ihm wurde der Zugang zu Zeitungen, Fernsehen und anderen Medien vorenthalten. Familienbesuche, die einen besonderen Platz unter den Rechten einnehmen, wurden eingeschränkt oder meist sogar verweigert, während das Verwehren von Anwält*innenbesuchen zu einer durchgängigen Praxis geworden ist. Schließlich wurde das Imralı-Gefängnis zu einem Ort, der 8 Jahre lang von keinem/r einzigen Anwalt*in betreten werden konnte.

Freiheitsstrafe bis zum Tod

Obwohl das gegen Herrn Öcalan verhängte Todesurteil während des EU-Beitrittsprozesses der Türkei gemäß der Rechtsharmonisierung aufgehoben wurde, erhielt er keine »festgelegte Freiheitsstrafe«, sondern eine »lebenslange Freiheitsstrafe bis zum Tod ohne Möglichkeit der Entlassung auf Bewährung«. Dafür wurde die bestehende Gesetzgebung vor allem durch die Einführung einer »verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe« geändert. In seinem Urteil vom 18. März 2014 hat der EGMR [Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte] entschieden, dass die Qualität dieser Freiheitsstrafe gegen das Folterverbot verstößt. Das führte jedoch nicht dazu, dass die Türkei eine Änderung ihrer nationalen Gesetzgebung vorgenommen hätte.

Die Isolationshaft geht alle etwas an

Unter Berücksichtigung der historischen Hintergründe sowie der jüngeren Entwicklungen, die beide im Folgenden skizziert werden, ist anzumerken, dass die Gefangenschaft und Isolationshaft von Herrn Öcalan nicht nur die Kurd*innen und/oder die kurdische Politik etwas angeht, sondern alle, die das Streben der Völker des Mittleren Ostens nach Freiheit unterstützen. Die Parallelität zwischen den Umständen der Isolation Öcalans, die sich in den letzten 7 bis 8 Jahren verschärft hat, und einer Phase außerordentlicher Unbeständigkeit im Mittleren Osten verrät uns viel. Der Aufbau und die Fortführung des Imralı-Systems sind ein Ergebnis der Sackgasse, in der sich der türkische Staat bezüglich der sog. kurdischen Frage befindet. Die jüngsten Vorhersagen und Warnungen von Herrn Öcalan haben alle beteiligten Parteien gehört. In einer Zeit, in der sich der Mittlere Osten in ein Meer von Blut verwandelt hat, hat Herr Öcalan in dem Versuch, zu einer Lösung beizutragen, einen lokalen, friedlichen und vernünftigen Ansatz für die Völker der Region vorgeschlagen. Dieser Ansatz ist zur Zielscheibe der herrschenden Machteliten geworden. Ihr Angriff wird durch ein internationales Komplott und die Isolationshaft gestützt.

Internationalisierung der sog. kurdischen Frage

Gegenwärtig treten Krisen überall auf der Welt auf, aus verschiedenen Gründen und vor unterschiedlichem Hintergrund. Am Ende des ersten Quartals des 21. Jahrhunderts wird der Mittlere Osten als Quelle des sich entfaltenden Chaos angesehen. Diese Krise ist ein Ausdruck der Misere der antidemokratischen Konzeption des Nationalstaates, die von den wechselnden Hegemonialmächten rund um die Welt verbreitet wurde. Nach den beiden Weltkriegen entwickelte Europa einen auf Verhandlungen basierenden demokratischen Stil, indem es neue administrative, politische und Regierungs-Mechanismen schuf. Im Mittleren Osten hingegen setzt sich die Krise in Form eines langwierigen Dritten Weltkriegs fort. Von Afghanistan über Kurdistan bis nach Libyen haben die letzten 21 Jahre Millionen von Todesopfern gefordert und noch andere Verluste und Verwüstungen mit sich gebracht.

Die Entwicklungen, die als Internationalisierung der sog. kurdischen Frage beschrieben wurden, sind in Wirklichkeit ein genaues Spiegelbild der Ursache des Problems. Unter der Vormundschaft von vier verschiedenen Nationalstaaten waren die Kurd*innen einer assimilierenden, vernichtenden und sogar genozidalen Politik unterworfen. Wenn Syrien, Iran, Irak und die Türkei zu Gewalt gegriffen haben, dann taten sie dies nicht im Alleingang, sondern mit Genehmigung der internationalen Gemeinschaft. Sicher, es gibt im Lauf der Geschichte auch zahlreiche Beispiele für Freiheitskämpfe, die die Weigerung der Kurd*innen aufzeigen, den Status quo als ihr Schicksal zu akzeptieren. Die Kurd*innen haben mit Bezug auf das »Recht auf Selbstbestimmung« ihre Entschlossenheit unter Beweis gestellt, als Volk zu existieren, auch durch ihren Beitrag zur Demokratisierung der Nationalstaaten, in denen sie von Genozid bedroht werden. Der stärkste Ausdruck dieses Willens hat sich in den Ideen Öcalans selbst manifestiert. Herr Öcalan erklärt daher, dass er sich als den »Willen des freien Kurden« versteht.

Für Frieden auf der Grundlage von Würde, Demokratie und Freiheit

In ihren philosophischen, soziologischen, ethischen, politischen, historischen und anderen Aspekten sind Öcalans Untersuchungsergebnisse zur sog. kurdischen Frage genau und umfassend. So wie seine Vorschläge zur Lösung des Problems auch einen lokalen und regionalen Schwerpunkt haben, so sind sie auch auf globaler Ebene diskussionswürdig. In den Jahren 1992–1993 hat Herr Öcalan zum Ausdruck gebracht, dass sein Streben von der Forderung nach »einer demokratischen politischen Lösung, einem Frieden auf der Grundlage von Würde, Demokratie und Freiheit« geleitet wurde, und hat Entsprechendes unternommen. Er erklärte mehrere einseitige Waffenstillstände, gab verschiedene Erklärungen ab und nahm an vielen Treffen teil, die eine Lösung erarbeiten sollten. Schließlich war Öcalan angesichts einer Kriegsgefahr, die unmittelbar nach seinem Aufruf vom 1. September 1998 zu Frieden und einer Lösung des Konflikts aufkam, gezwungen, seinen damaligen Aufenthaltsort Syrien am 9. Oktober 1998 zu verlassen. Er entschied sich, nach Europa zu gehen, um eine demokratische Lösung mit politischen Mitteln zu verfolgen.

Internationales Komplott statt Frieden

Europa bat er, seine Bemühungen um eine demokratische Lösung und Frieden zu unterstützen. Doch statt der Bitte nachzukommen, wurde ein internationales Komplott gegen ihn organisiert. Dennoch hat er seine Bemühungen um eine politische Lösung und Frieden nie aufgegeben. Er erkannte, wie dringend die Forderung nach Frieden geworden war; und indem er seine Gedanken zu einer noch energischeren und noch sorgfältiger begründeten Weltanschauung entwickelte, vergrößerte sich sein Einfluss. Regionale Kräfte, die sich als Unterstützer des Status quo positionieren, und internationale Kräfte mit ihren hegemonialen Interessen sind gleichermaßen verantwortlich für das anhaltende Chaos im Mittleren Osten, der nach wie vor durch Krisen und Kriege erschüttert wird. Inzwischen haben die Kurd*innen begonnen, sich darauf zu konzentrieren, ihre eigene Fähigkeit zur Versöhnung nach außen zu tragen. Tatsächlich haben die Entwicklungen im Mittleren Osten den Kurd*innen eine entscheidende Rolle in der Region zugewiesen und die Lösung der sog. kurdischen Frage zu einer Aufgabe von internationaler Bedeutung gemacht. Neben der Haltung der Kurd*innen zwingt uns die gegenwärtige Situation auch dazu, die Rolle von Herrn Öcalan zu überdenken. Vor und während seiner Gefangenschaft auf der Insel Imralı hat er oft genug seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, auf historischem Bewusstsein beruhende, vernünftige und realistische Vorschläge zur Lösung des Problems zu unterbreiten.

Invasion als Fortsetzung des Komplotts

Betrachtet man sowohl die historischen als auch die jüngeren Entwicklungen, so lässt sich erkennen, dass die Kurd*innen als Erpressungs- und Verhandlungsmasse benutzt werden, um die vier Staaten, auf die sie aufgeteilt worden waren, in das kapitalistische Weltsystem einzugliedern. Vor diesem historisch-politischen Hintergrund zeigt sich der Zweck des am 9. Oktober 1998 gegen Herrn Öcalan organisierten internationalen Komplotts, nämlich einen kurdisch-türkischen Krieg zu provozieren – ohne Ausweg und ohne Hoffnung auf eine Lösung – und die beiden schwächelnden Seiten in eine abhängige Position zu drängen. Der Besatzungsangriff auf Nordsyrien am 9. Oktober 2019, dem Jahrestag des Komplotts, muss als Demonstration verstanden werden, diese gleiche Politik fortsetzen zu wollen. Herr Öcalan selbst hat wiederholt darauf hingewiesen, dass das Komplott und seine Isolationshaft ein klares Spiegelbild der Kriegspolitik sind. Heute liegt der Fokus der Welt auf Syrien, insbesondere auf Nord- und Ostsyrien. Während diese Gebiete die Bühne für die jüngsten Entwicklungen waren, spielen auch die Spannungen und Widersprüche in Irak, Iran und in der Türkei eine wichtige Rolle. Die Politik der Türkei in Syrien steht in direktem Zusammenhang mit der sog. kurdischen Frage. Wenn man bedenkt, dass diese Politik eine solche des Krieges und der Blockade ist, können wir sie als Auslöser für die jüngste Welle von Tod, Zerstörung und Verlust, für die Fluchtbewegungen und für die Krisen im Bereich Migration und Asyl identifizieren. Trotzdem, wenn in der Türkei der notwendige Wille an den Tag gelegt werden würde, könnte eine Lösung der sog. kurdischen Frage auf einer Basis des Dialogs und der Politik erreicht werden. Herr Öcalan hat sich in seinen direkten und indirekten Beziehungen zum Staat bemüht, einen lösungsorientierten Standpunkt zu entwickeln; er hat viel Arbeit hineingesteckt und alle aufgerufen, sich einem demokratischen Frieden zu öffnen. Doch auf der internationalen Bühne missachten die politischen und menschenrechtlichen Mechanismen die Lösungs- und Friedensbemühungen, die Herr Öcalan vor und nach seiner Inhaftierung auf der Insel Imralı unternommen hat; sie ziehen es vor, ihn weiterhin als »Terroristen« zu bezeichnen. In juristischer Hinsicht hat dieses Verhalten willkürlichen Absprachen und Praktiken Vorschub geleistet, die die Isolationshaft auf Imralı und die Übernahme antidemokratischer Grundsätze in die türkische Verfassung und Gesetzgebung weiter verschärfen.

Besuchssperre nur kurz durchbrochen

Im Rahmen des willkürlichen und ungesetzlichen Isolationssystems von Imralı konnten die Rechtsvertreter*innen vom 27. Juli 2011 an für einen Zeitraum von 8 Jahren ihrem Mandanten keinen einzigen Besuch abstatten. Während der letztjährigen Konferenz diskutierten und verfolgten wir intensiv die Hungerstreiks und das Todesfasten von Tausenden von Menschen, die schließlich dazu führten, dass Herr Öcalan von seinen Anwält*innen besucht werden durfte. Insgesamt konnten fünf Besuche stattfinden; dem ersten Besuch am 2. Mai 2019 folgten weitere Besuche am 22. Mai, 12. Juni, 18. Juni und 7. August. Seit dem 7. August jedoch dürfen Öcalans Anwält*innen wieder nicht zu ihrem Mandanten, und ihre jeweiligen Einsprüche werden noch nicht einmal beantwortet.

Erneut Lösungsvorschläge

Während des ersten dieser Besuche hat Herr Öcalan der Öffentlichkeit seine Ansichten in einer Sieben-Punkte-Erklärung mitgeteilt, die u. a. Vorschläge zu aktuellen Fragen enthält. Die Erklärung, die er selbst als »Imralı-Haltung« bezeichnet, ist aber auch eine hinreichende Quelle, um seine Ansichten aufzuzeigen. Kurz skizziert umfasst sie die folgenden Inhalte:

  1. Die Notwendigkeit der sozialen Versöhnung,
  2. die Notwendigkeit, demokratische Verhandlungen einzuleiten,
  3. eine Lösung der Probleme der Türkei und der Region, insbesondere des anhaltenden Krieges, durch Soft Power,
  4. eine Lösung der Probleme in Syrien aus der Perspektive einer verfassungsmäßig garantierten lokalen Demokratie unter Beibehaltung der territorialen Einheit Syriens,
  5. Widerspruch zur Fortführung der Hungerstreiks,
  6. Entschlossenheit, an der Newroz-Erklärung von 2013 festzuhalten,
  7. eine Lösung, die auf menschenwürdigem Frieden und Demokratie basiert.

Auch während der vier Treffen, die auf diese aus dem ersten Besuch resultierende Erklärung folgten, bewertete Öcalan die Dimensionen und die voraussichtliche Entwicklung des erwarteten Krieges im Mittleren Osten und bewies damit erneut seine Bedeutung für eine Konfliktlösung. Im Zusammenhang mit dem, was in der kurdischen Politik als »Dritter Weg« bezeichnet wird, hat er deutlich gemacht, dass eine demokratische Verfassungslösung der Grundpfeiler einer demokratischen und gemeinsamen Zukunft der Völker ist. Während unseres fünften und letzten Treffens am 7. August 2019 wies Herr Öcalan auf die Wahrscheinlichkeit eines Krieges hin und bekräftigte sein Anliegen, ein solches Szenario zu verhindern. Er unterstrich seine Kompetenz, ein Ende der Gewalt und eine demokratische verfassungsmäßige Lösung der sog. Kurden*innenfrage herbeizuführen, und versicherte: »Geben Sie mir eine Woche und ich werde die Gefahr eines Konflikts ausräumen. Innerhalb einer Woche kann ich einen Weg zur Problemlösung ebnen; ich bin zuversichtlich, dass ich den Konflikt verhindern werde.« Aber weder wurde, wie Öcalan selbst einräumte, seinen Forderungen staatlicherseits Vernunft entgegengebracht; der Staat setzte seine Angriffe fort. Noch kam die erhoffte Antwort der internationalen Gemeinschaft. Da der Krieg weiterhin mit täglich verheerenderen Auswirkungen geführt wird, hält auch Herr Öcalan an seinem Aufruf zu einer friedlichen Lösung ebenso fest wie an seinem Angebot, seinen Beitrag zu leisten.

Das Imralı-System als Prototyp

Aus diesem und vielen anderen Gründen wäre es ein Fehler, das Imralı-System der Isolation im 21. Jahr allein als ein Problem der türkischen Gefängnispolitik zu betrachten. Dieses System ist nicht einfach nur ein Aspekt der Menschenrechts- und Demokratiefragen in der Türkei, sondern deren Ursache. Das Imralı-System ist ein Prototyp: In verschiedenen Bereichen werden die Erfahrungen und Kenntnisse aus diesem sich wandelnden und entwickelnden System, das kontinuierlich, ohne Unterbrechung und gezielt durchgesetzt wird, unter Anwendung der gleichen Techniken genutzt. Mit anderen Worten: Wir sollten Imralı nicht als eine einzelne Menschenrechtsverletzung wahrnehmen, sondern es als genaues Sinnbild des Zustands von Recht und Demokratie in der Türkei betrachten.

Über die Freiheit von Herrn Öcalan sprechen

Im Namen einer politischen und demokratischen Lösung der sog. kurdischen Frage und eines Friedensprozesses im Mittleren Osten sollte die Europäische Union Stellung beziehen und die Türkei von der Ausübung der Isolationshaft abbringen. Hätte es in der Vergangenheit Unterstützung für eine demokratische Lösung der sog. kurdischen Frage gegeben, so sähe die Bilanz der Türkei in Bezug auf Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit heute eindeutig besser aus. Ein Friedensprozess sollte in historischer und politischer Perspektive betrachtet werden, um zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt. Deshalb möchten wir heute alle demokratischen Institutionen, Organisationen der Zivilgesellschaft, politischen Parteien und ihre Organe, insbesondere die, die an dieser Konferenz teilnehmen, bitten, in ihrer Arbeit über die Beendigung der Isolation und schließlich auch über die Freiheit von Herrn Öcalan zu sprechen.

Wir rufen alle auf, dazu beizutragen, dass der Zusammenhang zwischen der Isolation, der Demokratisierung der Türkei und der Erlangung demokratischer Rechte durch das kurdische Volk verstanden wird, und dazu, zum Kampf für die physische Freiheit von Herrn Öcalan beizutragen. Wir wünschen Ihnen allen fruchtbare Diskussionen.


Kurdistan Report 208 | März/April 2020