Ziele sind mit militaristischen Methoden nicht weiter realisierbar

Iran: Krisen und Lösungen

Siamand Moeini, Ko-Vorsitzender von PJAK (Partei für ein Freies Leben in Kurdistan)


Iran: Krisen und Lösungen Foto: anfDie Bewertungen und Analysen zur aktuellen Situation in Iran und Ostkurdistan können nur dann ein angemessenes Ergebnis liefern, wenn ein strategischer und gut etablierter Ansatz entwickelt wird. Daher muss die Situation in Iran und Ostkurdistan parallel zur Realität und den Entwicklungen im Nahen Osten und in der Welt betrachtet werden. Während der Wandel im Nahen Osten an Dynamik gewinnt, organisiert sich jeder regionale und aktionistische Player selbst, indem er auf der Grundlage seines eigenen politischen Plans die Entwicklungen zu beeinflussen sucht. Im Verlauf dieser politischen und sektiererischen Krise, die die Menschen in der Region betrifft, wird der Versuch unternommen, anstelle des alten Systems ein neues zu errichten.

Die Reaktionen der Gesellschaft sind Ergebnisse der Diktatur

Während die Auswirkungen der Krise in dem sich in einer kritischen Phase befindlichen Iran zunehmen, hat die Islamische Republik keine Kraft, diese Krise zu bewältigen. Vielmehr hat die Krise das iranische System politisch und organisatorisch geschwächt. Im Besonderen schwächt die Krise der Regimeführung alle Grundlagen des Regimes, von der politischen, wirtschaftlichen, diplomatischen bis hin zur sozialen Ebene, und bedingt somit den Untergang des Systems.

Die Islamische Republik Iran versucht vorrangig, die Gesellschaft durch Massaker und Repression zu regieren, um das System am Leben zu erhalten. Doch ist es dem Regime auf lange Sicht nicht möglich, mit diesen Methoden die Kontrolle über die iranische Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Außerdem sehen wir, dass die Gesellschaft auf unterschiedliche Weise auf diese Repression reagiert. So sehen wir neben dem Widerstand von ArbeiterInnen, dass sich Frauen, LehrerInnen, LKW-Fahrer, Bauern und Bäuerinnen sowie StudentInnen in unterschiedlichsten Formen und Methoden gegen das Regime wenden. Diese Reaktion und Rebellion in der Gesellschaft ist zweifellos das Produkt der Despotie und der Diktatoren, die ihre eigene politische Dominanz darin sehen, die Gesellschaft zu zerschlagen und deren Forderungen zu unterdrücken.

2018 wurde das Jahr des Wandels

Das US-amerikanische Embargo hat ebenfalls die Lebensader des iranischen Regimes getroffen. Das Volk ist an der Grenze eines Aufstands angelangt. Als das natürlichste Recht stellen die Menschen die Forderung nach Demokratie und Leben in Freiheit. Andererseits können wir feststellen, dass die Jahre 2018 und 2019 für die iranische Regierung ziemlich schwierig und problematisch waren. 2018 kann als ein Jahr definiert werden, in dem sich in allen Bereichen der Gesellschaft eine Ablehnung gegen die Despotie entwickelt hat. Diese Reaktionen, die ihren Höhepunkt im September 2018 erreichten, zeigten ihre Wirkung in allen Bereichen und Klassen in Iran. Der in all seinen Mechanismen geschwächte Staat schuf eine bankrotte Wirtschaft, ein Mafia-Regime, Korruption und dreckigste Arbeitsbedingungen, insgesamt grauenhafte Bedingungen und die Atmosphäre eines Käfigs für die iranische Gesellschaft und insbesondere für Frauen. Diese Situation zeigt, dass die Öffentlichkeit nicht mehr so ​​weitermachen kann wie bisher und dass sie nach Möglichkeiten sucht, ihren Widerstand auf unterschiedliche Weise auszuüben. Dementsprechend sehen wir, dass die Zeitabstände zwischen den Aufständen kürzer und deren jeweilige Dauer immer länger werden. Dies offenbart den Willen des Volkes zum Machtwechsel.

Das Regime kann mit seinen militaristischen Methoden, öffentlichen Hinrichtungen und einer Politik der Terrorisierung der Öffentlichkeit nicht mehr seine Ziele verwirklichen. Es werden Reformen angestoßen, um den Widerstand zu beruhigen und die Öffentlichkeit zu überzeugen. Diese Maßnahmen sollen Hoffnungen wecken bei den Menschen, die gegen das Regime Widerstand zeigen, indem dieses etwaige Reformisten im bestehenden System überzeugt und sich ihrer – wie Muhammed Chatamis, Karroubis und Mussawis – bedient. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass diese Methode Früchte tragen wird.

Die Auswirkungen des politischen und wirtschaftlichen US-Embargos sind ebenfalls stärker zu spüren. Die von den USA im SWIFT-Bankensystem errichteten Hindernisse, insbesondere für den internationalen Geldtransfer, haben die wirtschaftlichen Beziehungen Irans in der Welt äußerst negativ beeinflusst. Darüber hinaus hat die Krise im Hinblick auf die FATF (Financial Action Task Force) auch die Autorität der iranischen Regierung beeinträchtigt.

Die Front gegen Iran erstarkt

Obwohl Iran die USA und Europa gegeneinander auszuspielen versucht, bleiben seine diplomatischen Konzepte angesichts der politischen Realität Europas und der globalen Wirtschaftsposition der USA eine alte und uneffektive Methode. Iran hat nicht die richtige Grundlage geschaffen, um seine Ziele zu erreichen. Selbst die iranische Diplomatie, oftmals effektiv, ist hier nicht erfolgreich. Das ist einer der Schwachpunkte Irans.

Die politischen Beziehungen Irans zu Russland und China sowie die Abkommen mit diesen Ländern haben jedoch langfristige Konsequenzen für die iranischen Beziehungen zu Europa. Das militärische und politische Eingreifen Irans in seinen Nachbarländern und anderen Ländern der Region sowie die Aktivitäten der iranischen Revolutionsgarden und insbesondere der Al-Quds-Brigaden, einschließlich Terrorismus, Angriffen und Drohungen gegen Europa sowie Staaten der Region, schaffen eine Grundlage für ein Bündnis gegen das iranische Regime. Die Stärkung des schiitischen Halbmonds durch Iran stellt eine Bedrohung für die Region dar. Aus diesem Grund wurden das unter der Führung und mit Unterstützung der USA errichtete Bündnis und die Front gegen Iran immer stärker. Dementsprechend war Iran das Hauptthema des Treffens der G7-Länder in Frankreich. Dabei wurden Themen wie die Bewaffnung Irans mit ballistischen Raketen und die Verhinderung des illegalen Verkaufs von Waffen an Iran auf die Tagesordnung gesetzt.

Die Frauen können eine Vorreiterrolle in der Revolution spielen

Die ökonomische Krise und das interne Chaos in Iran lassen der Gesellschaft keine Lebensmöglichkeiten mehr. Zudem belastet auch die (sicherheits-)politische Lage die Gesellschaft. Die Menschen sind außerdem mit einer kulturellen und politischen Assimilation konfrontiert. Den Frauen werden die Gesetze der Scharia aufgezwungen. Somit bilden die Frauen eigentlich das stärkste revolutionäre Potential in Iran. Sie können nicht nur eine feministische, freiheitliche Revolution anführen, sondern eine gesamtgesellschaftliche.

Fehlende Organisierung und Zersplitterung brechen den Widerstand

Die Auswirkungen der sich aus inkompetenten Mafia-Methoden auf das Leben von ArbeiterInnen und BeamtInnen ergebenden Wirtschaftskrise sind von Tag zu Tag stärker spürbar. Die Belastung durch die Krise schmälert die wirtschaftliche Stärke dieser Gruppen. Der Rückgang der Wirtschaftskraft hat das Ausmaß einer Krise erreicht. Die beunruhigte iranische Gesellschaft ist verzweifelt. Fehlende Organisierung und Zersplitterung führen zum gesellschaftlichen Kräfteverlust gegenüber den Machthabern. Obwohl die iranische Gesellschaft damit unzufrieden ist, brechen die fehlende Organisierung und Zersplitterung ihren Widerstand gegen die Macht. Trotzdem sehen wir, dass die Menschen ihre Hoffnung nicht verloren haben, sich erheben und rebellieren.

Iran am Scheideweg

In der Realität der iranischen Administration gibt es zwei Möglichkeiten, um dieser Krise zu entkommen, die sich aus der politischen und wirtschaftlichen Situation ergibt und auch mit dem US-Embargo verbunden ist. Darüber hinaus haben das innere Chaos und die Reaktionen in Iran sowie die Haltung der Weltmächte ihn an einen Scheideweg gebracht. Entweder muss er seine Institutionen und sein System reformieren, um das System zu schützen – doch eine Änderung des Systems scheint mit dieser Haltung nicht möglich. Für eine Reform ist es zu spät, da die Forderungen der Öffentlichkeit diesem Szenario entgegenstehen. Oder – der zweite Weg – das Regime wird das System und alle seine Institutionen militarisieren. Die zweite Option scheint eher der in Iran herrschenden Realität zu entsprechen, weil die Demonstration der iranischen Staatsmacht und ihre Distanz zur Öffentlichkeit und zur Gesellschaft nicht mehr auf deren Bedürfnisse eingehen. Trotzdem hält sich die iranische Regierung zurück, die Politik des Drucks und der Einschüchterung aufrechtzuerhalten. Sie will demokratischen und säkularen Kräften nicht die Möglichkeit bieten, diese Situation auszunutzen und einen neuen, alternativen Mechanismus für die Verwaltung zu schaffen. Ansonsten weiß das Regime, dass diese Gruppen eine Grundlage für verschiedene Projekte im Zusammenhang mit der Zukunft Irans bilden werden.

Die Kriegsfront in Syrien wurde nach Irak verlegt

Die Krise verschärfte sich nach dem Angriff von Haschd-al-Schaabi auf die US-Botschaft in Irak und insbesondere nach dem Mord an Qassem Soleimani. Diese Krise könnte noch eine Weile andauern. Die USA töteten Soleimani und übermittelten Iran, Russland und China eine klare Botschaft. Mit dem Mord zeigten sie, in der Region bleiben und Aktivitäten der iranischen Führung außerhalb der von ihnen gezogenen Grenzen nicht akzeptieren zu wollen. Während die Lage in Iran in jeder Hinsicht zu Engpässen und Spannungen führt, können die jüngsten Ereignisse die Situation noch verschlimmern. Der Abschuss des ukrainischen Passagierflugzeugs durch Iran und das Massaker an der Zivilbevölkerung haben Iran in eine noch kompliziertere Situation manövriert. In einem lächerlichen Szenario griff Iran mit Raketen zwei US-Stützpunkte in Irak an und verlor damit seinen Ruf. Seine militärischen Drohungen waren gehaltlos. Mit der Ermordung Soleimanis wurde die Kriegsfront in Syrien tatsächlich nach Irak verlegt. Obwohl sie sich der iranischen Grenze nähert, bedeutet dies nicht, dass der Krieg in Syrien vorbei ist. Vielleicht wird er in Syrien fortgesetzt, aber die Auswirkungen der Front in Irak sind unbekannt. Während der Krieg gegen Irak gewalttätiger und umfassender wird, sieht sich Iran mit radikaleren Widersprüchen konfrontiert. Obwohl Iran über Russland und China Anstrengungen unternommen hat, um Spannungen in diesem Krieg abzubauen, sind Ergebnisse unwahrscheinlich. Möglicherweise werden die USA ihren Druck auf Iran auf ein bedrohliches Niveau steigern, um die Ernsthaftigkeit der Anti-Iran-Abkommen zu demonstrieren.

Für Russland und die Türkei ergeben sich neue Möglichkeiten

Diese sich abzeichnende Situation bietet Russland die Möglichkeit, eine größere Rolle in der Region zu spielen. Russland befürwortet keinen Krieg zwischen den USA und Iran. Im Falle eines möglichen Krieges erscheint es wenig wahrscheinlich, dass Russland eine alternative praktische Rolle spielt, während die KurdInnen ihrer Rolle möglicherweise mehr Aufmerksamkeit schenken werden. Zurzeit planen die USA keinen direkten militärischen Angriff auf Iran, doch sie versuchen, ihre Bündnisse mit der antiiranischen Front zu stärken, indem sie Iran mit verschiedenen Methoden unter Druck setzen. Iran, der seine Abkommen mit den Regionalmächten ausbauen will, wird in diesem Fall vor ernsthaften Problemen stehen. Die Türkei wird von dieser Situation am meisten profitieren. Sie versucht, ihre Hegemonie in der Region auszuweiten und die Rolle der KurdInnen einzugrenzen, indem sie die kurdische Freiheitsbewegung zu liquidieren versucht. Um die anvisierten Staatsgrenzen des Misak-ı Millî zu erreichen, plant sie, die Demokratische Partei Kurdistans PDK, die SunnitInnen und TurkmenInnen zu benutzen, um den Krieg auszuweiten. Ohne Zweifel versucht sie, Südkurdistan in ein Schlachtfeld zu verwandeln und die Krise weiter zu verschärfen.

Das kurdische Volk muss die richtige Politik verfolgen

Dagegen sollte das kurdische Volk auf der Grundlage der nationalen Einheit und verlässlicher Bündnisse zusammen mit anderen Volksgruppen in diesem historischen und sensiblen Prozess eine richtige Herangehensweise an die politischen Akteure in der Region verfolgen. Um die Pläne der Feinde des kurdischen Volkes und aller für die Freiheit eintretenden Völker ins Leere laufen zu lassen, ist es von großer Bedeutung, im Rahmen des Freiheits-Paradigmas und als Führung der nach Freiheit strebenden Völker den Kampf zu erweitern. Außerdem ist dies sehr wichtig, um sich gegen das den Status quo schützende System zu behaupten und die Völker vor dem Chaos und vor Zusammenstößen zu schützen.


Kurdistan Report 208 | März/April 2020