Erdoğan kann sich mit seiner Okkupation der Gebiete in Nordsyrien fürs Erste durchsetzen

Die internationale Gemeinschaft macht sich zum Handlanger der Türkei

Elmar Millich


Die internationale Gemeinschaft macht sich zum Handlanger der TürkeiUm es vorwegzunehmen: Es scheint, als habe sich der türkische Präsident Erdoğan mit seiner völkerrechtswidrigen Invasion in Nordsyrien zumindest kurz- und mittelfristig auf internationaler Bühne durchgesetzt, indem er wie schon zwei Jahre zuvor beim Einmarsch in Efrîn Fakten geschaffen und die internationalen Akteure geschickt gegeneinander ausgespielt hat. Vor den ersten Tagen der Invasion und währenddessen sah das anders aus. Der US-amerikanische Präsident Donald Trump drohte die türkische Wirtschaft zu »zerstören«, wenn Erdoğan nicht näher definierte Linien überschreiten würde, und auch Deutschland und die EU brachten Wirtschaftssanktionen ins Spiel.

Davon steht nichts mehr im Raum. Der US-Präsident brachte sich aus der innenpolitischen Schusslinie, indem er Vizepräsident Mike Pence und Außenminister Mike Pompeo nach Ankara schickte, um der Türkei eine fünftägige Waffenruhe abzupressen, währenddessen sich die kurdischen Selbstverteidigungskräfte aus der von der Türkei beanspruchten dreißig Kilometer breiten Sicherheitszone entlang der syrisch-türkischen Grenze zurückzuziehen hätten. Die US-Truppen selbst verbleiben in Nordsyrien und werden teilweise verstärkt, um die Kontrolle über die Ölfelder bei Deir ez-Zor als Faustpfand für mögliche Verhandlungen mit Syriens Staatspräsident Baschar al-Assad zu behalten. Nachdem auf diese Weise die Interessen der Türkei und der USA in Nordsyrien entflechtet waren, stand einem Gipfeltreffen zwischen Erdoğan und Trump Mitte November nichts mehr im Wege, bei dem Trump sich als »großer Fan des [türkischen] Präsidenten« outete. Wasser auf dessen Mühlen, der sich vor allem innenpolitisch als unverzichtbarer Player in der Weltpolitik präsentieren konnte.

Mit dem eigentlichen starken Mann in Syrien, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, hatte sich Erdoğan bereits bei einem Treffen am 22. Oktober in Sotschi über den Kopf des syrischen Präsidenten al-Assad hinweg geeinigt, dass die Türkei und die mit ihr verbündeten islamistischen Milizen der sogenannten »Syrischen Nationalarmee« (SNA) die Kontrolle des zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend eroberten Gebietes zwischen den Städten Serê Kaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) vorerst behalten könnten und es in den anderen Bereichen der syrisch-türkischen Grenze gemeinsame Streifen von türkischem Militär und russischer Militärpolizei geben werde, um sicherzustellen, dass sich YPG und YPJ (Volksverteidigungs- und Frauenverteidigungseinheiten) aus diesen Gebieten zurückgezogen hätten.

Deutschland versuchte noch, durch einen nicht einmal innerhalb der Regierungskoalition abgestimmten Vorstoß der Verteidigungsministerin Anne Kramp-Karrenbauer über Sicherheitszonen unter Beteiligung europäischer, russischer und türkischer Streitkräfte einen Resteinfluss Europas in Syrien zu bewahren. Aber dies entsprach weder den Interessen Russlands noch denen der Türkei. Ein entsprechender Vorschlag des US-Präsidenten Trump wenige Monate früher, dass sich europäische Streitkräfte an der US-Präsenz in Nordsyrien stärker beteiligen sollten, der auch von den »Demokratischen Kräften Syriens (QSD)« begrüßt worden war, hatte die Bundesregierung noch harsch abgelehnt.

Nachdem klar war, dass von US-amerikanischer Seite kein ernsthafter Druck auf die Türkei zu erwarten war und die syrische Armee mit begrenzten Kräften auf Bitten der QSD über den Euphrat vorrückte, um gemeinsam die türkische Invasion zumindest einzugrenzen, ruderten Deutschland und die EU schnell wieder zurück. Von Wirtschaftssanktionen war nichts mehr zu hören und wenn überhaupt, dann nur im Zusammenhang mit Provokationen der Türkei wegen der umstrittenen Erdgasvorkommen vor Zypern. Selbst ein Waffenembargo, das Deutschland und Frankreich gegen die Türkei verhängten, ist so löchrig, dass seit Beginn der Nordsyrien-Offensive weiterhin Ausfuhrgenehmigungen für deutsche Waffen in die Türkei im Wert von ca. drei Millionen Euro erteilt wurden.

Devotes Auftreten des deutschen Außenministers in Ankara

Als Bundesaußenminister Heiko Maas Ende November seinen türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu in Ankara traf, hatte die Türkei längst wieder diplomatisches Oberwasser. Bei der mit der üblichen Floskel »es ist wichtig, im Gespräch zu bleiben« begründeten Reise trat Maas denn gewohnt devot auf. Schon im Vorfeld von seinem Amtskollegen verwarnt, »nicht mit erhobenem Zeigefinger« anzureisen, verzichtete er auf die zwei Wochen vorher erhobene Forderung, dass die Türkei die Invasion stoppen und sich wieder aus Nordsyrien zurückziehen müsse. Stattdessen beschränkte er sich auf allgemeine Forderungen nach menschlichem Umgang mit den Flüchtlingen und erkannte die türkische Okkupation damit de facto an. Die zu diesem Zeitpunkt schon ausgewiesenen Gräueltaten der islamistischen Milizen unter Aufsicht der türkischen Armee an der Zivilbevölkerung Nordsyriens kamen nicht zur Sprache. Stattdessen war es ihm wichtiger, von Ankara aus eine Retourkutsche an die CDU-Verteidigungsministerin loszuwerden, da er sich bei deren Vorschlägen zu Sicherheitszonen übergangen fühlte. Wie sehr die Bundesregierung bereit ist, aktuell vor den Menschenrechtsverletzungen durch die Türkei in Nordsyrien die Augen zu verschließen, zeigte Maas bei einer aktuellen Fragestunde im Bundestag am 6. November mit der realitätsfernen Behauptung, die Türkei würde ihre Angriffe im Moment nicht fortsetzen. Da fragt es sich, wozu sich Deutschland einen milliardenschweren Bundesnachrichtendienst leistet.

Im Zusammenhang mit dem türkischen Einmarsch in Nordsyrien kam auch zunehmend wieder der Flüchtlings­deal zwischen der EU und der Türkei in die politische Auseinandersetzung. Schon im Vorfeld hatte sich die Migration von syrischen und afghanischen Flüchtlingen aus der Türkei nach Griechenland wieder stark erhöht, sicher nicht ohne entsprechendes Zutun der Türkei. Als dann Kritik aus der EU an der türkischen Invasion kam, ließ Präsident Erdoğan keine Gelegenheit aus, damit zu drohen, »die Schleusen« zu öffnen und alle drei Millionen Flüchtlinge nach Europa zu schicken, falls die Europäer das türkische Vorgehen auch nur als solches – Invasion – benennen. Stattdessen fordert er die EU auf, sich an der angeblich geplanten Ansiedlung der syrischen Flüchtlinge in den okkupierten Gebieten in Nordsyrien und so an der ethnischen Säuberung finanziell zu beteiligen. Schon zu Beginn der Invasion bediente er sich des politisch gleichgesinnten ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, um eine adäquate Verurteilung durch die EU zu verhindern.

Auch die Vereinten Nationen, deren eigentliche Aufgabe es ist, über das internationale Völkerrecht zu wachen, kommen Erdoğan entgegen. Resolutionen des UN-Sicherheitsrates gegen die türkische Invasion wurden in den ersten Tagen sowohl von den USA als auch von Russland gestoppt. Anfang November reiste UN-Generalsekretär António Guterres nach Istanbul, um sich dort mit Erdoğan zu treffen. Doch statt einer Verurteilung der völkerrechtswidrigen Invasion und der Kriegsverbrechen in Nordsyrien durch die Türkei besprach er ernsthaft mit Erdoğan dessen Pläne, die syrischen Flüchtlinge in der Türkei umzusiedeln. Ein Expertenteam des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) solle dazu mit den Verantwortlichen auf türkischer Seite einen Plan erstellen. Die einzige Forderung Guterres‘ war, die Rückkehr der Flüchtlinge müsse »freiwillig, sicher und in Würde« erfolgen. Über den Verbleib der hunderttausenden Menschen, die bislang vor dem Einmarsch und den Gräueltaten geflohen sind, verlor er kein Wort. Um zu verdeutlichen, wie sehr das internationale Völkerrecht in Syrien am Boden liegt: Falls Deutschland mal wieder auf die Idee käme, Elsaß-Lothringen mit dem Ziel zu besetzen, dorthin deutsche Asylbewerber umzusiedeln, um der AFD den Wind aus den Segeln zu nehmen – was wäre da wohl die Reaktion der UN?

Auch IS-Kämpfer mit europäischem Pass brachte die Türkei als Drohpotential ins Spiel. Mittlerweile wurden deutsche Staatsbürger mit vermutlichem IS-Hintergrund in einstelliger Anzahl aus der Türkei nach Deutschland gebracht. Die Bundesregierung, die entsprechende Ansinnen der nordsyrischen Konföderation über Monate beharrlich ignoriert hatte, macht nicht mal den Versuch, dagegen politischen Druck aufzubauen, auch wenn ihr de facto die Hände gebunden sind, wenn die Türkei Personen mit deutschem Pass per Turkish Airlines nach Frankfurt fliegt.

Türkische Invasion stellt die NATO infrage

Gravierendere Auswirkungen scheint das Vorgehen der Türkei für den Zusammenhalt in der NATO zu haben. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte in einem Interview Mitte Oktober die NATO als »hirntot« bezeichnet. Ausschlaggebend für diese Einschätzung nannte er die mangelnde Kooperation im Zusammenhang mit dem türkischen Einmarsch in Nord­syrien, in dem Frankreich zumindest vor der türkischen Invasion mit ca. 300 Spezialkräften vertreten gewesen war, die an der Seite der QSD den Islamischen Staat (IS) bekämpft hatten. Die Kritik betraf sowohl den US-Abzug aus dem syrisch-türkischen Grenzgebiet als auch den anschließenden Angriff der Türkei. In einem Gespräch mit NATO-Generalsekretär Stoltenberg Ende Oktober erneuerte Macron die Kritik. Zwar respektiere Frankreich die türkischen Sicherheitsinteressen, aber wenn die Türkei vollendete Tatsachen schaffe, könne sie keine Solidarität einfordern. Außerdem schade die Aktion dem internationalen Kampf gegen den IS. Erdoğan gab darauf dem französischen Präsidenten den Ratschlag, sich selbst auf Hirntod untersuchen zu lassen. Die Türkei fordert unbeschadet der Tatsache, dass die Aggression eindeutig von ihr ausging und es auch regelmäßig zu Kampfhandlungen mit der syrischen Armee kommt, die Solidarität der NATO-Partner und setzt auf Erpressungspolitik. Im geheim tagenden NATO-Rat, in dem das Einstimmigkeitsprinzip herrscht, knüpfte sie ihre Zustimmung zu einem Verteidigungsplan für die baltischen Staaten und Polen gegen Russland an die Forderung, dass die NATO-Staaten die kurdischen Verbände von YPG und YPJ als Bedrohung ihrer NATO-Südgrenze ansehen sollten. Das Vorhaben scheiterte an der Intervention der USA. Auch beim NATO-Gipfel zum siebzigsten Jubiläum des Bündnisses am 3./4. Dezember in London drohte Erdoğan, eine gemeinsame Abschlusserklärung zu verhindern, falls die Partner die YPG/YPJ nicht als terroristische Bedrohung des Bündnisses einschätzen würden, konnte sich aber damit nicht durchsetzen. Parallel zum NATO-Gipfel hatte ein Spitzentreffen der Regierungschefs von England, Frankreich, Deutschland und der Türkei stattgefunden mit dem Fokus auf die geplante Umsiedlung von Flüchtlingen aus der Türkei nach Syrien. Die Erklärungen der Beteiligten nach dem Gespräch enthielten zwar zumeist nur Allgemeinplätze, aber niemand stellte das Vorhaben infrage, das ohne Einwilligung der syrischen Regierung ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht ist. De facto erfolgte damit die Anerkennung der türkischen Okkupation durch die an dem Gespräch beteiligten europäischen Staaten.

Es ist schwierig, die weiteren Entwicklungen in Nordsyrien abzuschätzen, aber am wahrscheinlichsten ist, dass es für einen längeren Zeitraum zu einem Erhalt des Status quo ähnlich wie in Efrîn kommt. Die Türkei wird das von ihren Milizen besetzte Gebiet nicht räumen, aber auch gegen den Willen Russlands und der USA nicht nennenswert ausweiten können. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass es zu größeren Umsiedlungen von syrischen Flüchtlingen in diese Region kommt. Notwendige milliardenschwere Investitionen in einen völkerrechtlich luftleeren Raum will und kann Ankara sich nicht leisten. Die territoriale Besetzung von Teilen Syriens geben der Türkei vor allem die Gewähr, dass es zu keiner zukünftigen politischen Einigung in Syrien kommt, die ihren Interessen entgegenläuft. Zudem geben diese Gebiete der Türkei die Möglichkeit, sich parallel zur eigentlichen Armee dauerhaft eine dschihadistische Söldnerarmee von Zehntausenden Kämpfern und ihren Familien zu halten, ohne dass es in der Türkei selbst zu innenpolitischen Spannungen kommt.

Die QSD werden entgegen den Forderungen Russlands, sich in die syrische Armee zu integrieren, weiter auf ihrer Unabhängigkeit bestehen und versuchen, die lokalen Selbstverwaltungsstrukturen sowohl gegen Erdoğan als auch gegen al-Assad zu schützen. Die weiterhin bestehende Zusammenarbeit mit den in Nordsyrien verbliebenen US-amerikanischen Streitkräften dient ihnen dabei als Faustpfand gegen Russland.

Europa ist in der Region aktuell kein Player und wird – speziell Deutschland – versuchen, seine Beziehungen zur Türkei wieder möglichst zu normalisieren. Es besteht auch nach wie vor das gemeinsame Interesse sowohl der Türkei als auch der EU, eine vollständige Restauration der Herrschaft des Al-Assad-Regimes über ganz Syrien auf jeden Fall zu verhindern. Insofern war ein wesentlicher Grund für die vehemente Kritik an der türkischen Invasion zu Anfang nicht nur die Gefahr eines wiedererstarkten IS, sondern auch, dass dadurch Syrien und Russland ihren Einfluss wieder östlich des Euphrats ohne einen politischen oder militärischen Preis ausweiten konnten. Dadurch, dass die türkische Armee und die mit ihr verbündeten Milizen auch in Scharmützel mit den syrischen Streitkräften verwickelt sind, verläuft die Konfrontationslinie in Nordsyrien nun tendenziell zwischen der Türkei und Russland und nicht mehr zwischen NATO-Mitgliedern. Ein Umstand, den die westlichen Staaten sicherlich nicht bedauern werden.

Wird die Rechnung der Europäer aufgehen, dass sich Erdoğan mit den Gebietseroberungen in Nordsyrien zufriedengibt und wieder zum normalen politischen Mitspieler wird? Mit Sicherheit nicht. Auf die Gefahr hin, dass der Vergleich mit der Appeasementpolitik des britischen Premiers Neville Chamberlain gegenüber Adolf Hitler 1938 oft überstrapaziert wurde, bestehen hier Parallelen. Erdoğan hat die Lektion gelernt, dass seinen Expansionsplänen im Mittleren Osten von Seiten der USA, Russlands und Europas keine ernsthaften Hindernisse in den Weg gelegt werden, wenn er sie geschickt gegeneinander ausspielt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er das Spiel, das er jetzt in Syrien für gewonnen hält, im Irak fortsetzt. Die Mischung aus einer hochgerüsteten NATO-Armee und einer immensen dschihadistischen Fußtruppe, die bei militärischen Abenteuern den Blutzoll unter der türkischen Bevölkerung minimal hält, hat das Potential, den gesamten Mittleren Osten vollständig zu destabilisieren. Wenn die internationale Gemeinschaft Erdoğan jetzt nicht die Stirn bietet, wird sie über kurz oder lang zum Handlanger der Türkei in der Region.


 Kurdistan Report 207 | Januar/Februar 2020