Kulturarbeit unter Kriegsbedingungen

Şervano: Das Lied des Widerstands

Interview mit dem Künstler Şêro Hindê

Nach Beginn der Invasion des türkischen Staates in Nord- und Ostsyrien hält der Widerstand des kurdischen Volkes unvermindert an. KurdInnen in Kurdistan und auf der ganzen Welt antworten auf die menschenrechtswidrige Besatzung mit der globalen Verbreitung ihres nationalen Geistes, indem sie international auf der Straße protestieren. Vor allem nach dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg des türkischen Staates in Rojava leisten KurdInnen tatkräftig starken und auch im Westen spürbaren Widerstand, um den Angriff auf ihre Ideologie deutlich zu verurteilen. Dabei erhalten sie große Unterstützung von InternationalistInnen, die mit ihnen Schulter an Schulter gemeinsam an die internationale Solidarität appellieren und insbesondere dem faschistischem AKP-Regime unter Erdoğan das Ende verheißen. Gemeinsam sind sie die Stimme des Rojava-Widerstands. Da in der Geschichte des kurdischen Volkes Kunst seit jeher eine sehr große Rolle spielt, entstand aus der durch den Widerstand geschaffenen Atmosphäre u. a. das Lied »Şervano«; demnach ist es als klares Widerstandssymbol zu interpretieren.

Şervano: Das Lied des Widerstands»Şervano« stammt aus der Feder des Freundes Şêro Hindê, der sowohl bei »Hûnergeha Welat« (Atelier der Heimat) in Rojava arbeitet als auch Mitglied der Filmkommune Rojava ist. Mittlerweile ist es ein fester Bestandteil auf Kundgebungen, Feldern, an den Fronten und wird sogar zu Ehren der MärtyrerInnen auf Beerdigungen gespielt, begleitet von den Anwesenden, die es sich eingeprägt haben. Wir interviewten den Komponisten, der gleichzeitig auch Regisseur der Dokumentarfilme »Darên bi tenê« (Einsame Bäume) und »Bajarên weranbêy« (Verwüstete Städte) ist, zur Entstehungsgeschichte des Revolutionsliedes.

Wie entstand das Lied »Şervano«? Unter welchen Umständen und wo wurde das dazugehörige Video aufgenommen?

Als die türkische Regierung und ihre Banden am 9. Oktober 2019 mit der völkerrechtswidrigen Invasion begonnen hatten, waren wir in Qamişlo, an diesem Abend zusammen mit dem Musiker Mehmûd Berazî und dem Schriftsteller Ibrahim Feqe. Gemeinsam schrieben wir das Stück und komponierten die passende Musik. Währenddessen fielen türkische Bomben auf Qamişlo, die sechs Menschen das Leben nahmen und weitere zum Teil schwer verletzten.

Diese Nacht war von großer Bedeutung, weil die WiderstandskämpferInnen unbeugsam und furchtlos in Stellung gingen, um die Zivilbevölkerung zu schützen und sie zeitgleich erneut auf den Krieg vorzubereiten. Der Anblick dieser mutigen KämpferInnen verleitete uns regelrecht, das Gesehene zu Papier zu bringen und es zu komponieren. Somit sahen wir buchstäblich das Lied »Şervano« vor unseren Augen und am nächsten Tag begannen wir mit den Aufnahmen zum Video auf dem Fundament der Geschehnisse der vergangenen Nacht und verzichteten dabei bewusst auf extravagante Bilder und Technik, um es so authentisch wie möglich zu gestalten.

Der im Video zu sehende Kämpfer der Volksverteidigungseinheiten (YPG), Elî Feqe, ist zugleich Mitglied der Filmkommune Rojava, Kameramann und spielt eine aktive Rolle in der Filmkunst.

Habt Ihr mit dieser großen Wirkung von »Şervano« gerechnet? Welche Reaktionen gab es?

Wir waren uns im Klaren darüber, dass das Stück die Menschen erreichen und berühren wird, aber auch wir waren über die Dimensionen dieser Wirkung erstaunt. Wir versuchen immer eine Kunst zu schaffen, die den Zeitgeist widerspiegelt. Dennoch liegt es uns sehr am Herzen, unseren jahrhundertealten Kunsttraditionen und unserer Kultur der Folklore- und Dengbej-Musik gerecht zu werden und sie am Leben zu erhalten.

Außerdem möchte ich betonen, dass unser Genosse Mehmûd Berazî, der Komponist von »Şervano«, den größten Beitrag zur Musik in Rojava leistet und den größten Einfluss hat.

Die Menschen lieben unsere Lieder, vor allem »Şervano«. Gewiss hat es vorher auch schon beliebte Stücke gegeben wie »Nivişta Gerilla«, »Tîna Çiya«, »Edlaye« und »Tola Salanîya Efrînê«, die ebenfalls auf Beerdigungszeremonien unserer gefallenen FreundInnen gespielt wurden, auf Kundgebungen und an der Front. Wesentlicher Bestandteil dieser Musikkultur sind die darin zu sehenden WiderstandskämpferInnen, die keine Angst vor dem Feind zeigen. Selbstverständlich beeinflusst und berührt uns unsere musikalische Arbeit in demselben Maße wie jeden anderen Menschen auch. Aus der Liebe und der Wertschätzung, die uns dabei entgegengebracht werden, resultieren die emotionalen Besonderheiten unserer künstlerischen Arbeit.

Das wird auch am Märtyrer Yusuf Nebî sehr deutlich. Sein letzter Wunsch war es, dass die anwesenden Menschen auf seiner Beisetzung nicht weinen, stattdessen bat er sie zu tanzen. Seinem letzten Willen versuchte die Familie nachzukommen, indem sie auf der Beerdigung das Stück »Şervano« spielte und dazu die bedeutsamen Strophen mitsang und tanzte. Dieser Anblick war für uns wie für alle anderen sehr schmerzvoll und ergreifend zugleich.

Ihr setzt Eure Arbeiten während der Revolution fort. Welche sind das?

Auch vor Beginn der Revolution waren wir künstlerisch tätig, allerdings konnten wir uns nicht so frei entfalten wie im Moment.

In der Tat ist es erstaunlich, dass wir unter diesen erschwerten Lebensbedingungen, in Anbetracht der Intensivität des Krieges und der täglichen Verluste unserer KämpferInnen und der zivilen Todesopfer, in der Entfaltung unserer Kunst freier sind als davor.

Auf diese Weise versuchen wir als kurdische KünstlerInnen unseren Beitrag zur Revolution zu leisten. Eine Revolution hat verschiedene Bereiche. Unsere Aufgabe ist es, die Emotionen und den Geist der Revolution in Verbindung mit den Schmerzen, die unser Volk erleiden muss, nach außen spürbar darzustellen. Dabei legen wir keinen Wert darauf, wie die Öffentlichkeit unsere Kunst auffasst, ob positiv oder negativ. Unser primäres Ziel ist es, unserem Volk gerecht zu werden. Sein Leiden sowohl zu verbildlichen als auch weitestgehend zu lindern und die Moral zu stärken.

Wir produzieren auch Filme. Die Filmkommune Rojava wurde 2015 gegründet. Wir drehen Dokumentarfilme, Kurzfilme, Clips und Spielfilme. Ich persönlich beschäftige mich primär mit Musik, auch mit meinen Filmprojekten. Meine momentane Arbeit besteht aus der Produktion eines Dokumentarfilms über die Dengbej-Musikkultur. Unter dem Titel »Darên bi tenê« haben wir eine Dokumentation über die Dengbej-Lieder in Şengal hergestellt und zuvor das Leben des unvergesslichen Künstlers Mihemmed Şêxo dokumentarisch festgehalten. Ich kann mich am besten mithilfe von Musik ausdrücken. Als KünstlerInnen der Filmkommune Rojava und des Hûnergeha Welat wollen wir der Revolutionskunst neue Elemente hinzufügen. Wir wollen keine klassische, allseits bekannte parolenhafte Kunst verbreiten, stattdessen den gegenwärtigen revolutionären Geist und die Gefühle der Gesellschaft von Rojava widerspiegeln.

Begegnen Euch auch Schwierigkeiten bei der Arbeit?

Wir arbeiten unter sehr schwierigen Bedingungen, inmitten eines Krieges. Dennoch streben wir an, scharfe Bilder und klare Töne aufzunehmen. Unsere Arbeit ist nur dank der gemeinschaftlichen Institutionen möglich, da wir einen gemeinsamen Widerstand leisten. So sehr die Zeiten des Widerstands auch mit Kreativität gefüllt sind, sind sie genauso mit Schwierigkeiten verbunden. Große Projekte sind inmitten des Krieges offensichtlich nicht realisierbar. Wir hatten ein großes Forschungsprojekt über die Dengbêj-Lieder aus Rojava begonnen. Unter anderem wollten wir von Dicle (Tigris) bis nach Xabûr welche aufnehmen und in einem Dokumentarfilm festhalten. Aufgrund der aktuellen Kriegsbedingungen mussten wir diese Projekte zwangsweise ruhen lassen. Unsere einzige Möglichkeit im Moment ist es, der Öffentlichkeit den allgegenwärtigen Widerstand mit unseren Projekten näherzubringen. Das ist leider nicht genug. Für die Realisierung unserer Projekte bedarf es vor allem der Ressourcen, die anderen Institutionen zur Genüge zur Verfügung stehen, die nicht mit uns zusammenarbeiten und auch sonst in keinem Zusammenhang mit uns oder zu Rojava stehen und uns unsere Projekte stehlen und sie als eigene Arbeit veröffentlichen. In der kommenden Zeit möchten wir natürlich notwendige Maßnahmen ergreifen, um diese und weitere Diebstähle zu verhindern.

Sind Veröffentlichungen neuer Produktionen zu erwarten?

Aktuell arbeiten wir besonders an einigen Projekten, die primär den Widerstand dokumentieren. Ein wichtiger Schauplatz dieses großen und starken Widerstands ist Serê Kanîye. Und wir wollen diesen großartigen Widerstand mithilfe von Kunstprojekten für die Geschichte festhalten. Wichtig ist uns dabei, keine klassischen Revolutionsfilme zu produzieren, sondern Projekte zu verwirklichen, die in uns Menschen das Bewusstsein schaffen, uns als diejenigen zu verstehen, für die die WiderstandskämpferInnen kämpfen und ihr Leben opfern. In diese Richtung verlaufen unsere Arbeiten und werden demnächst veröffentlicht. Wie sehr sie auch vom Volk geliebt und auch wertgeschätzt werden, so erhalten wir hin und wieder auch Kritik. Das ist wichtig für die Verbesserung unserer weiteren Projekte. Unsere SängerInnen Xalît Derîk, Haci Musa, Sîdar, Eyşe und Şefîka Şehriban Güneş, die mit tiefen Gefühlen stets jahrhundertealte Volkslieder singen, versuchen die kulturelle Volksmusik fest- und vor allem am Leben zu halten.

Wie wurde Hûnergeha Welat gegründet und wie setzt es sich zusammen?

Hûnergeha Welat wurde am 1. Juli 2014 in Qamişlo gegründet. Es gibt zwei entscheidende Bereiche: Musik und Dokumentation. Jedes Jahr werden Musik- und Videoarbeiten erstellt, mit Dengbej und MusikerInnen Dokumentarfilme produziert.

Fast alle, nämlich 90 % aller Lieder und Musikvideos, die der Revolution gewidmet sind und in Rojava gedreht wurden, sind Produktionen von Hûnergeha Welat.

Der Name ist ein Andenken an den Märtyrer Welat. Der Genosse kam durch die Detonation einer Autobombe des sogenannten IS ums Leben. Er war ein sehr wertvoller Freund, der sich gern mit Musik und Kunst beschäftigte und sich künstlerisch sehr gut auskannte.

Das Projekt Hûnergeha Welat war ein Projekt, das wir mit ihm umsetzen sollten. Stattdessen haben wir ihn mit der Namensgebung in Erinnerung und das Projekt ins Leben gerufen. Der Genosse Mehmûd Berazî arbeitet derzeit auf dem Gebiet der Musik; Kawa, Serxebên, Comerd, Ozan, Evan und viele weitere unserer Freunde, deren Namen ich leider vergessen habe, ebenfalls. In der Dokumentarsektion sind der Genosse Alab und Ali Ansprechpersonen. Natürlich bestehen wir aus mehr Mitgliedern, die ich nicht alle aufgezählt habe, die aber dennoch ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeiten sind.


 Kurdistan Report 207 | Januar/Februar 2020