Die südkurdisch-türkische gegenseitige Abhängigkeit und der Krieg

Kurdistan muss als ein Ganzes verstanden werden

Besê Hozat, Kovorsitzende der Gemeinschaften der Gesellschaften Kurdistans (KCK), im Interview


Wir dokumentieren Auszüge aus einem Interview mit der Kovorsitzenden der Gemeinschaften der Gesellschaften Kurdistans (KCK), Besê Hozat, über die Militärintervention der türkischen Armee in Südkurdistan/Nordirak und die Rolle der südkurdischen Regionalregierung. (https://firatnews.com/kurdistan/hozat-kuert-duesmanligi-bitise-goetuerecek-128078)

Demonstration in Silêmanî gegen die Ermordung von Heval Helmet / Diyar Xerib, Mitglied des Präsidialrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), durch die türkische Luftwaffe in Südkurdistan.Erdoğan beharrt auf seiner Kriegspolitik, um politisch zu überleben, obwohl ihn genau diese Politik in die heutige unsichere Lage gebracht hat. Was bedeutet dieser Angriff auf Südkurdistan?

Die AKP-MHP-Regierung denkt, mit ihrer genozidalen Politik an der Macht bleiben zu können. Sie versucht die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme in der Türkei mit der Kriegspolitik zu verschleiern. Sie verhindert, dass die wesentlichen Probleme offensichtlich werden, indem sie die Agenda der Türkei ständig mit Krieg füllt. Trotz einer sehr ernsten wirtschaftlichen und politischen Krise befeuert sie den Nationalismus und lenkt die Aufmerksamkeit auf den Okkupationskrieg in Südkurdistan und Rojava. Der ist ein Teil des genozidalen Krieges der AKP-MHP-Regierung gegen die Kurden. Entsprechend dem Nationalpakt Misak-ı Millî will der türkische Staat Südkurdistan besetzen.

Erdoğan und Bahçeli nutzen in ihrem neoosmanischen Wahn die Bedingungen des Dritten Weltkrieges, um ihren Misak-ı-Millî-Plan zu verwirklichen. Die PKK betrachten sie dabei als großes Hindernis. Der Grund für die Gründung und die Existenz der PKK ist die Verhinderung des Genozids an den Kurden und die Gewährleistung von deren demokratischen Rechten. Die PKK ist eins mit der kurdischen Gesellschaft. Wer die PKK angreift, greift die kurdische Gesellschaft an.

Der türkische Staat nutzt seit Jahren die Spaltungen, Widersprüche und Konflikte zwischen den Kurden für seine Okkupationspolitik aus. Auf diese Weise verhindert er ihre demokratische Einheit. Denn er weiß, dass deren Einheit seine genozidale Politik nicht zulassen würde. Er unternimmt nun große Anstrengungen, damit sich PDK (Demokratische Partei Kurdistans) und PKK gegenseitg bekämpfen, Peschmerga gegen Guerilla. Das ist eine böse Falle. Die PKK ist die Garantie für die Errungenschaften in Südkurdistan. Sie stützt die PDK grundlegend. Das Richtige in dieser Phase ist es, die demokratische nationale Einheit zu schaffen, um eine gemeinsame nationale Haltung zeigen zu können.

Obwohl sich die AKP in ihrer schwächsten Position befindet, bekommt sie bei ihren Angriffen in Südkurdistan Unterstützung von der PDK. Warum das, trotz der Drohungen Erdoğans gegen die Barzanî-Familie während des Unabhängigkeitsreferendums 2017?

Die PDK betreibt eine kollaborationistische Politik. Deshalb sieht sie freiheitliche, revolutionäre und demokratische kurdische Organisationen als Bedrohung für sich selbst. Um sie zu vernichten, kollaboriert sie mit dem kurdenfeindlichen türkischen Staat. Sie denkt nicht viel über die nationalen Interessen und Freiheiten der Kurden nach, sondern an ihre eigenen familiären Interessen. Die Kurden führen immer noch einen Krieg um ihre Existenz. Diese wurde noch nicht anerkannt und ihre Freiheit noch nicht gewährleistet. In einer solchen Situation hat die Unterstützung einer sich selbst als kurdische Partei bezeichnenden Organisation für die Vernichtungspolitik des türkischen Staates und ihre Zustimmung zu den Angriffen auf die PKK nichts mit dem kurdischen Freiheitskampf zu tun. Es ist zu einem Stil der PDK geworden, andere kurdische Gruppen mit einer anderen Kraft zusammen zu eliminieren. Doch diese Politik hat ein Niveau erreicht, das das freie und demokratische Leben der kurdischen Gesellschaft gefährdet.

Das Problem der PDK hängt mit ihrer Mentalität zusammen und ist eine Sache der Entscheidung. Ihr nationales Bewusstsein ist sehr schwach entwickelt. Ihre Existenz sieht sie darin, zusammen mit kurdenfeindlichen Kräften die politische Potenz anderer kurdischer Organisationen zu eliminieren. Sie hat keine demokratisch-nationale und freiheitliche Lösungsperspektive für die kurdische Frage. Sie vertritt ein primitiv-nationalistisches Verständnis. Wenn sich die kurdische Gesellschaft mit einem demokratisch-nationalen Bewusstsein erhebt und organisiert, wird diese Politik der PDK wirkungslos werden. Die PDK muss von dieser Position abrücken, die dem Freiheitskampf der Kurden schadet. Sie muss aufhören, die Vernichtungs- und Verleugnungspolitik des türkischen Staates zu unterstützen, und sich den nationalen Werten entsprechend positionieren. Wenn sie ihren Ansatz ändert und mit nationaler Sensibilität agiert, kann sie sehr leicht mit der PKK zusammenkommen und ein demokratisch-nationales Bündnis entwickeln. Auf diese Weise kann ein nationaler Kongress realisiert und die nationale Einheit gewährleistet werden. Die PKK ist jederzeit dafür bereit.

In politischer Hinsicht ist die AKP-Regierung auf die südkurdischen Kräfte angewiesen, um sich halten zu können. Doch es wird ständig der Eindruck erweckt, als seien diese Kräfte auf die AKP angewiesen. Wie würden Sie dieses Verhältnis bezeichnen, wie bewerten Sie es?

Das hervorstechendste Merkmal des kollaborationistischen Verständnisses ist das fehlende Selbstvertrauen. Weil es an Selbstvertrauen mangelt, wendet man sich der Kollaboration zu und meint, auf diese Weise die eigenen Interessen schützen zu können. An diesem Punkt täuscht man sich am meisten. Das erzeugt zunehmend einen Charakter und eine Mentalität, die nationalen Werten entgegenstehen. Doch eigentlich hat die PDK und jede andere kurdische Partei dies nicht nötig. Die PDK verfügt über immense Möglichkeiten. Südkurdistan ist ein in jeder Hinsicht reiches Land. Es ist offen für Produktion, Landwirtschaft und Viehzucht. Es könnte sich selbst genügen, doch weil es nicht richtig geplant und langfristig für die Gesellschaft genutzt wird, werden diese Werte aufgerieben. Zurzeit ist nicht Südkurdistan von der Türkei, sondern die Türkei von Südkurdistan abhängig. Wenn ein Tag lang kein Erdöl aus dem Süden in die Türkei fließen würde und die Türkei keine billigen Waren im Süden verkaufen könnte, könnte sich die AKP nicht einen Tag länger an der Macht halten. Sie spricht in den letzten Jahren ständig von einer Verbesserung der Wirtschaft. Das gewährleistet die Kolonialisierung Südkurdistans. Die gesellschaftlichen Werte der Menschen Südkurdistans werden für ein konformistisches Konsumentenleben an die Türkei verkauft. Die AKP-Regierung hält sich seit Jahren wirtschaftlich und politisch mit der Unterstützung der kurdischen Regionalregierung auf den Beinen. Auch dieser genozidale Krieg wird von der PDK unterstützt. Sonst hätte die Türkei nicht einen Fuß nach Südkurdistan, geschweige denn nach Xakurkê setzen können.

Seitdem die PKK auf die Bühne der Geschichte getreten ist, heißt es immer wieder, die Kurden könnten durch ihre Einheit eine Kraft werden. Welche Hindernisse bestehen heute bei der Entstehung einer nationalen Einheit der Kurden?

Die politische Linie der PDK und die daraus resultierende Kollaboration mit dem türkischen Staat ist ein ernsthaftes Hindernis für die nationale Einheit.

Die Entschlossenheit und der Wille der Organisationen außerhalb der PKK oder der PKK nahestehenden politischen Organisationen zur Schaffung der politischen nationalen Einheit sind schwach.

Trotz der Entwicklung eines bedeutenden Niveaus des demokratischen nationalen Bewusstseins in der kurdischen Gesellschaft gibt es immer noch Mängel bei der Entwicklung einer starken Haltung. Es herrscht kein starker nationaler Druck für die Entwicklung einer demokratischen Einheit bzw. eines demokratischen Bündnisses.

Kurdische Intellektuelle spielen eine unzureichende Rolle bei der Entwicklung einer demokratischen nationalen Einheit. Sie bleiben leider sehr opportunistisch dabei, die Hindernisse für die nationale Einheit zu analysieren, zu kritisieren, das Bewusstsein der Gesellschaft zu stärken und sie in den Widerstand zu ziehen.

Auch die Künstler spielen keine ausreichende Rolle bei der Entwicklung der demokratischen nationalen Einheit. Obwohl die stärkste Stimme und das schönste Beispiel für eine demokratische Einheit im Kunst- und Kulturbereich entstehen sollten.

Es gab Veränderungen in der südkurdischen Regierung. Welche Verantwortung trägt sie für die Schaffung der nationalen Einheit und der Demokratisierung in Südkurdistan?

Es gibt keine grundlegende Veränderung in der südkurdischen Regierung. Der jetzige Ministerpräsident Nêçîrvan Barzanî spielte auch zuvor eine wichtige Rolle in der Regierung. Für den Premierminister Mesrûr Barzanî gilt dasselbe. Er war zuvor in gewissem Sinne zusammen mit Mesûd Barzanî Teil der Regierung. Deshalb gibt es im Grunde keine neue Regierung. Das Wichtigere ist sowieso die Veränderung in Mentalität und Politik. Selbstverständlich ist das neue Team jünger und agiler. Sie haben eine historische Verantwortung übernommen, nämlich die nationale Einheit der Kurden zu gewährleisten. Es gibt gesellschaftliche Erwartungen. Südkurdistan kann nicht unabhängig von den anderen Teilen geführt werden.

Auch wenn die herrschenden Kräfte Kurdistan geteilt und Grenzen gezogen haben, ändert das nichts an der Realität, dass es ein Land ist. Auch die kurdische Frage muss als ein Ganzes verstanden werden. Deshalb ist es ein großer Irrtum zu denken, der Süden habe mit einer Föderation die Freiheit gewonnen, bevor die Probleme in den anderen Teilen Kurdistans nicht gelöst sind.


 Kurdistan Report 205 | September/Oktober 2019