Über die Notwendigkeit einer ehrlichen Aufarbeitung der IS-Verbrechen – auch in Europa

Von Schuld und gesellschaftlicher Verantwortung

Arif Rhein


Friedhof der Gefallenen in KobanêDer Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) hatte seinen Preis. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: mehr als 10.000 Gefallene und ca. 20.000 Verletzte. Zehntausende vorwiegend junge Frauen und Männer haben in den vergangenen Jahren ihr Leben in die Waagschale geworfen. Tausende haben schwerste Verletzungen davongetragen: Querschnittslähmungen, fehlende Beine und Arme, aber auch verlorenes Sprechvermögen und Erinnerungen sind der ganz konkrete Preis des Kampfes. Die unerträgliche Haltung der Regierungen dieser Welt, wenn es um die Rückführung ihrer StaatsbürgerInnen geht, die sich dem IS angeschlossen hatten, zeugt von einer maßlosen Verachtung für die gefallenen und verletzten Anti-IS-KämpferInnen der YPG (Volksverteidigungseinheiten), YPJ (Frauenverteidigungseinheiten) und QSD (Demokratische Kräfte Syriens). Auch die Erklärungen der deutschen Bundesregierung in den vergangenen Monaten zeugen von dieser Haltung. Umso wichtiger wird es in den nächsten Monaten sein, dass die Zivilgesellschaft Druck aufbaut und eigene Schritte zur Unterstützung der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien unternimmt.

Destabilisierung des Mittleren Ostens durch den IS

Für welche soziologische, soziale und politische Realität steht der IS? Spricht man mit Überlebenden des Kampfes der letzten Jahre, werden die bodenlose Brutalität und Perspektivlosigkeit deutlich, die der IS repräsentiert. Man erfährt in den Berichten immer wieder von mit Drogen vollgepumpten IS-KämpferInnen, an deren Gürteln ein Löffel und ein Schlüssel baumelten: der Schlüssel für die Tür zum Paradies und der Löffel für das Essen mit dem Propheten. Folterzentren, Massengräber und medial dokumentierte Kriegsverbrechen prägen die Erinnerungen an den IS. Über 60.000 vorwiegend junge Männer [und auch Frauen] aus der ganzen Welt schlossen sich ihm an. Tausende kamen auch aus Europa. Unter dem Vorwand, für einen jahrhundertealten Glauben zu kämpfen, mordeten, raubten und zerstörten sie. Bombenanschläge, Attentate und die Brände auf Feldern in den vergangenen Wochen in Nordsyrien zeigen, dass diese zerstörerische Ideologie weiterhin ihr Unwesen in der Region treibt. Die Folgen im gesamten Mittleren Osten sind massiv: jahrtausendealte Monumente und historische Städte wie Mossul oder Raqqa wurden zerstört, ganze Regionen entvölkert, Glaubensgemeinschaften wie die êzîdische im Irak oder arabische Stämme in Syrien auseinandergetrieben, der Islam als Glaubens- und Identifikationsquelle für Millionen von Menschen in der Region instrumentalisiert und diskreditiert. Weite Teile Syriens, des Irak und anderer Länder des Mittleren Ostens stehen heute vor einer Landschaft der Zerstörung und einer zutiefst traumatisierten Gesellschaft.

Der Westen und die Destabilisierung des Mittleren Ostens

Zweifellos entstand der IS nicht aus dem Nichts. Da wären zum einen jahrhundertealte Konflikte in der Region selbst, die zehntausende Jugendliche in die Arme des IS trieben. Dieser Umstand kann nicht ignoriert werden, wenn man die Verbreitung des IS verstehen möchte. Ebenso wichtig ist es, ehrlich zu benennen, welche Rolle die ideologische, logistische und militärische Unterstützung westlicher Länder und ihrer regionalen Verbündeten für radikalislamische Organisationen spielt. Wer sich mit der jüngeren Geschichte des Mittleren Ostens auseinandersetzt, muss schnell einsehen, dass sich seit mindestens zweihundert Jahren Mächte wie Großbritannien, die USA, Frankreich oder Deutschland gegenseitig darin übertreffen, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Region gegeneinander auszuspielen. Der IS ist das jüngste Beispiel für die Folgen dieser unmoralischen und menschenverachtenden Politik. Seine Wurzeln können sicherlich Jahrhunderte weit zurückverfolgt werden. An dieser Stelle soll der Hinweis auf eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte genügen: Spätestens seit den siebziger Jahren unterstützen westliche Staaten mithilfe ihrer Geheimdienste und ihres Militärs massiv radikale Islamisten. Was vor vierzig Jahren in Afghanistan begann, um die Sowjet­union zu schwächen, findet heute in Form von IS, al-Nusra und vielen anderen kleinen Gruppen seine Fortsetzung. Der Westen verfolgt zwei grundlegende Ziele: Zum einen sollen geostrategische Rivalen, allen voran Russland, in der Region keinen Fuß fassen. Zum anderen geht es seit dem Zerfall der Sowjetunion um eine Neustrukturierung des gesamten Mittleren Ostens gemäß den Interessen des Westens. Die Strategie scheint zu sein, die Grenzen der Länder neu zu ziehen, um kleinere, besser kontrollierbare Nationalstaaten zu schaffen. Auf sozialer und kultureller Ebene soll die Zerstörung der Region in Folge der Konflikte der vergangenen Jahrzehnte die Grundlage für eine Integration der mittelöstlichen Gesellschaften in eine liberale Weltordnung schaffen. Der IS hat in den letzten Jahren einen entscheidenden Beitrag zur Zerstörung des kulturellen Erbes der Region und zur Vernichtung jahrtausendealter sozialer Bindungen geleistet. Die westlichen Mächte werden diese Situation zu nutzen versuchen, um Städte wie Mossul nach ihren Vorstellungen wiederaufzubauen und mithilfe ihrer Medien oder NGOs das soziale und kulturelle Leben in der Region entsprechend liberal-westlichen Wertevorstellungen neu zu gestalten.

Die Rolle der Türkei als strategischer Partner des Westens

Die Destabilisierung und Neugestaltung der Region wird ganz entscheidend über die Türkei organisiert. Zahllose Medienberichte und offizielle Stellungnahmen von Regierungs- und StaatsvertreterInnen aus den USA, Russland oder der EU belegen die zentrale Rolle der Türkei beim Aufbau, der Unterstützung und Lenkung von Organisationen wie dem IS. Auch hier ist es wichtig, die historischen Dimensionen hinter den aktuellen Entwicklungen zu verstehen. Dazu gehört neben einer Auseinandersetzung mit den politischen und gesellschaftswissenschaftlichen Umständen der Gründung der Republik Türkei vor ca. hundert Jahren auch eine Analyse der britischen, amerikanischen, französischen oder deutschen Rolle bei der Zerstückelung der gesamten Region in diverse schwache Nationalstaaten. Auf internationaler Ebene wird zunehmend offen über die enge Zusammenarbeit des türkischen Regimes mit den radikalislamischen Kräften dieser Welt gesprochen. Ohne diese Unterstützung in Form von Waffen, Ausbildung oder medizinischer Versorgung wären Organisationen wie der IS wohl nie so einflussreich geworden. Weniger offen wird darüber gesprochen, welch kontinuierliche Unterstützung durch Länder wie Deutschland das AKP-Regime seit mittlerweile siebzehn Jahren genießt. Es sind die Waffen, das Geld und die politische Anerkennung durch Europa und die USA, die das türkische Regime dazu ermutigten, ein strategisches Bündnis mit all den radikalislamischen Kräften einzugehen – ob nun IS, al-Nusra oder Muslimbrüder. Ganz zu schweigen von den Tausenden europäischen Jugendlichen, die sich von Europa aus über die Türkei ohne größere Hindernisse dem IS anschließen konnten.

Eine gesellschaftliche Aufarbeitung der IS-Verbrechen

Europa ist den zehntausenden Menschen, die gegen den IS gekämpft haben, etwas schuldig. In Gesprächen mit Kämpferinnen und Kämpfern der YPG, YPJ und QSD stößt man immer wieder auf die Erwartung, dass die Gesellschaften Europas eine ehrliche Aufarbeitung der Rolle ihrer Länder bei der Entstehung und Ausbreitung des IS leisten. Das heißt konkret, dass die Länder Europas sich gewisse Fragen stellen: Warum haben sich tausende junge Menschen aus Europa dem IS angeschlossen? Wie konnten sie ungehindert aus ihren Heimatländern nach Syrien gelangen und dort Mitglied des IS werden? Welche Unterstützung ließen europäische Länder der Türkei, aber auch direkt islamistischen Gruppen zukommen? Welche politischen und wirtschaftlichen Interessen verfolgen Europas Regierungen dabei? Welche gesellschaftliche Antwort ist nötig, um die Zerstörung und Vertreibung zu stoppen, die von Organisationen wie dem IS und seinen Unterstützern wie der Türkei ausgehen?

Die Gesellschaft Nord- und Ostsyriens hat bereits damit begonnen, z. B. im Rahmen der dreitägigen internationalen Konferenz des Zentrums für strategische Studien Rojava (NRLS) zu den Hintergründen des sogenannten IS, die jüngst unter breiter internationaler Beteiligung in der nordsyrischen Stadt Amûdê stattfand. Seit Monaten fordern zudem Frauen- und Jugendverbände, die verschiedenen Glaubensgemeinschaften, VertreterInnen der Familien gefallener Anti-IS-KämpferInnen und offizielle VertreterInnen der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofes in der nordsyrischen Stadt Kobanê. Mit logistischer, finanzieller und inhaltlicher Unterstützung der internationalen Gemeinschaft soll den Tausenden IS-Gefangenen der Prozess gemacht werden. Zurzeit befinden sich ca. 70.000 IS-Kämpfer und ihre Familienangehörigen in Nord- und Ostsyrien in Haft. Ganz bewusst entschied man sich für Kobanê als Ort der Aufarbeitung. Die Stadt, in der Tausende YPG- und YPJ-KämpferInnen im Jahr 2014/15 dem IS einen entscheidenden Schlag versetzt und die Niederlage der Organisation eingeleitet hatten. Die Regierungen dieser Welt reagieren bisher ausweichend bis ablehnend auf dieses Anliegen. Es ist also an den Gesellschaften der Länder Europas – insbesondere Deutschlands als wichtigstem politischem Akteur des Kontinents –, Druck auf die eigenen Regierungen auszuüben und sie mit den oben genannten Fragen zu konfrontieren. Sollten sich die Regierungen einer Aufarbeitung verweigern, werden die Gesellschaften ihre eigenen Wege finden, um z. B. in Form von Recherchen, Konferenzen und Delegationen in die Region Antworten zu finden und Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Alles andere wäre ein Schlag ins Gesicht der Zehntausenden jungen Menschen, die ihr Leben und ihre Gesundheit im Kampf gegen den IS verloren haben.


 Kurdistan Report 205 | September/Oktober 2019