Jineolojî als Wissenschaft zur Verteidigung und Verwirklichung der Frauenrevolution

Wir geben es nie mehr her!

Interview mit Andrea Benario


Angesichts der aktuellen Kriegsdrohungen der Türkei gegen die autonome Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien fragen sich viele Menschen, wie der Aufbauprozess und die aktuellen Arbeiten der Jineolojî dort weitergehen. Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, in dem eine Mitarbeiterin der Jineolojî-Akademie in Rojava Fragen zur Bedeutung von Jineolojî im revolutionären Prozess und zur aktuellen politischen Situation beantwortete.

Welche Rolle spielt die Jineolojî in der Revolution in Rojava?

Jineolojî ist die »Wissenschaft der Frau«, wobei das Wort »Frau« – d. h. jin im Kurdischen – eng mit den Wörtern Leben und Gesellschaft verbunden ist. Auch Wissenschaft verstehen wir nicht im Sinne westlicher positivistischer Wissenschaften. Jineolojî hat weder den Anspruch, »neutral« und »objektiv« zu sein, noch betreibt sie Forschung allein der Erkenntnis wegen. Denn diese Herangehensweise der positivistischen Wissenschaften ist das Paradigma patriarchaler Macht und kapitalistischer Ausbeutung. Das Ziel dieser Wissenschaften ist, alles zu rationalisieren und beherrschbar zu machen, indem Wissen von Ethik abgespalten, Geist, Seele und Körper voneinander losgetrennt und Details aus dem Gesamtkontext gerissen werden. Diese Logik der herrschenden Wissenschaft macht Frauen, die gesamte Gesellschaft und die Natur zu Objekten, um sie kapitalistischen Profit- und Machtinteressen entsprechend erforschen und benutzen zu können.

Demgegenüber definiert sich Jineolojî als eine ganzheitliche Wissenschaft von und für Frauen und die Gesellschaft. Sie versteht sich als eine Wissenschaft für die Frauenrevolution. Wissen ist hier nicht Mittel der Macht von Eliten. Es geht vielmehr darum, das bei Frauen und in allen Gesellschaften vorhandene Wissen über freie, ökologische, kommunale Lebensformen zusammenzutragen, neu zu interpretieren und einander zugänglich zu machen. Solches Wissen entsteht aus historischen und gesellschaftlichen Erfahrungen, aus unserem Leben und ist mit ihm verbunden. Das bedeutet, dass wir das Leben ganzheitlich betrachten, um seine Bedeutung, unseren Platz darin und unsere Handlungsmöglichkeiten verstehen zu können.Jineolojî als Wissenschaft zur Verteidigung und Verwirklichung der Frauenrevolution

Wenn wir archäologische Funde deuten oder gesprochener Geschichte, Liedern und Geschichten lauschen, dann können wir solidarische, kommunale Lebensgemeinschaften kennen lernen, in denen Frauen eine zentrale Rolle spielten. Muttergöttinnen-Figuren zeigen uns, dass es in allen Teilen der Welt Gesellschaften gegeben hat, in denen Frauen eine ideelle, produktive und schützende Kraft symbolisierten. Insbesondere in Kurdistan und in ganz Mesopotamien finden wir viele Symbole, Geschichten und Bräuche dieser Epoche, die aus dem neolithischen Zeitalter ca. 8000–3000 v. u. Z. stammen. Wir bezeichnen diese Phase als eine erste Frauenrevolution. Denn Frauen spielten eine führende Rolle in der Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht, beim Aufbau von Dorfgemeinschaften, bei der Aneignung und Weitergabe von Wissen, das der Menschheit großen Nutzen brachte. Dieser Prozess bedeutete eine tief gehende Erneuerung der Lebensqualität, der menschlichen Beziehungen, gesellschaftlicher Strukturen und Werte. Er lässt uns erkennen, dass die größten Fortschritte in der Menschheitsgeschichte nicht durch Kriege und Gewalt, sondern durch Kooperation, solidarisches Teilen, Empathie, gegenseitige Verantwortung und Wertschätzung gemacht wurden.

Dieses Wissen und die Weisheiten von Frauen sind eine Grundlage der Jineolojî. Eine weitere Grundlage sind für uns das Erbe und Erkenntnisse von Frauen, von Frauenbewegungen und sozialen Kämpfen weltweit. An allen Orten und zu jeder Zeit haben Frauen und Gemeinschaften gegen jegliche Form von Unterdrückung und Unrecht individuell und kollektiv Widerstand geleistet. Diese Kämpfe dauern an. Da die Geschichte aber zumeist von Männern und aus der Perspektive der Herrschenden niedergeschrieben wurde, bedeutet das für uns, die Charakterisierung von Frauen, ihre vielfältigen Aufstände und Freiheitskämpfe aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Hierdurch wollen wir die Argumente entschleiern, die von Mythologien, Religionen, Philosophie und Wissenschaft kreiert wurden, um Gewalt, Versklavung und Raubzüge zu rechtfertigen. Die Entwicklungsgeschichte und andauernden Kämpfe der Frauenbewegung in Kurdistan begreifen wir als dritte Grundlage und Wissensquelle der Jineolojî. In den vergangenen vier Jahrzehnten hat sich in Kurdistan eine Frauenbewegung herausgebildet, die heute in allen Bereichen der Gesellschaft, in der Politik und bei der Verteidigung der Revolution eine führende Rolle spielt. Hierfür waren die theoretischen Arbeiten und das Engagement von Abdullah Öcalan eine ausschlaggebende Inspirationsquelle. Theorie und Praxis haben hierbei immer in Wechselbeziehung zueinander gestanden. Die Analysen über die gesellschaftliche und politische Situation der Frauen in Kurdistan führten zum Aufbau einer Frauenguerilla. Die massenhafte Beteiligung von Frauen am Guerillakampf führte zu Diskussionen über eine Frauenbefreiungsideologie und zu Überlegungen zum Aufbau einer militanten Frauenpartei. Mit der Frauenpartei wurde die Basis für Diskurse über die Notwendigkeit und Bedeutung einer Frauenrevolution und einen neuen Gesellschaftsvertrag geschaffen. Mit der Organisierung von Frauenkommunen, -räten, -akademien und -selbstverteidigungsstrukturen wurden in Kurdi­stan patriarchale Rollenmuster und Denkweisen aufgebrochen. Frauen formulieren heute ihren Willen, gestalten kommunale und internationale Politik, kämpfen gegen sexistische Gewalt in der Familie und Gesellschaft, gegen Kolonialismus und Angriffe des Islamischen Staates und der türkischen Armee. Frauen bauen in allen gesellschaftlichen Bereichen ihre autonomen Strukturen der demokratischen Selbstverwaltung auf, entwickeln eigene Visionen und setzen sie um. Das sind die Prozesse, die die Basis der Revolution in Rojava darstellen und die dazu geführt haben, dass die Revolution in Rojava als Frauenrevolution bekannt wurde.

All diese Diskurse, Organisierungsansätze, damit verbundenen praktischen Arbeiten und Aktionen sowie die hieraus resultierenden Erfahrungen und Analysen stellen einen wichtigen Nährboden für die Jineolojî dar. Wobei es zugleich ein Anliegen der Jineolojî ist, diesen revolutionären Prozess zu stärken. Deshalb ist eine wichtige Aufgabe der Jineolojî-Forschungszentren, der Arbeiten an der Jineolojî-Akademie und der Jineolojî-Fakultät der Rojava-Universität, gesellschaftliche Widersprüche und deren Wurzeln tiefer zu analysieren und neue Perspektiven für ihre Lösung zu entwickeln. Jineolojî erforscht die Geschichte/n des Widerstands, alternative Heilmethoden, Wirtschafts- und Lebensformen von Frauen der verschiedenen Völker, Kulturen und Glaubensgemeinschaften in Rojava und Syrien. Hierdurch wird das Bewusstsein für Gemeinsamkeiten gestärkt, werden nationalistische Spaltungen überwunden. Unsere Sicht und unsere Gefühle werden vom patriarchalen Blick, der Ignoranz und der dazugehörigen Herrschaftshörigkeit enttrübt. Uns als aktiven Teil der Gesellschaft verstehend, können wir uns aus der Hilfs- und Hoffnungslosigkeit befreien. Als Frauen, als Menschen mit unterschiedlichen Realitäten können wir so die Art und Weise unseres Zusammenlebens neu gestalten; mit Empathie, Respekt und Selbstrespekt leben.

Die Jineolojî-Akademie ist durch ihre Bildungsprogramme und die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Einrichtungen der Demokratischen Selbstverwaltung ein wichtiges Standbein der Revolution in Rojava geworden. Es findet ein gegenseitiger Prozess des Lernens und der Weiterentwicklung statt. So können hierarchische, patriarchale, ignorante Herangehensweisen in Theorie und Praxis überwunden sowie kommunale, basisdemokratische Werte in der Gesellschaft von Neuem gestärkt werden. Die Frauen hier, die heute an Bildungen teilnehmen oder diese selber geben, machen jeden Tag unzählige neue Schritte voller Mut und oft ins Unbekannte. Jeder Tag ist voller kleiner Revolutionen. Das ist der Weg zur großen Revolution. Die Widersprüche in der Gesellschaft zu benennen und Alternativen zu finden, die dem alltäglichen Leben und Miteinander Sinn geben und Veränderung schaffen, ist ein grundsätzlicher Teil jedes revolutionären Prozesses. Dies gilt nicht nur für den gesellschaftlichen Neuaufbau in Rojava, sondern auch darüber hinaus.

Seit Dezember gab es wiederholt aggressive Drohungen der türkischen Regierung, Rojava und die selbstverwalteten Gebiete in Nord- und Ostsyrien anzugreifen und zu besetzen. Welche Auswirkungen hat dies auf die Arbeiten der Jineolojî? Kann wissenschaftliche Arbeit unter diesen Bedingungen stattfinden?

Wie bereits erwähnt, begreifen wir Jineolojî als eine wissenschaftliche Quelle, die sich aus der Revolution speist und zugleich die Revolution nährt. Die Bedingungen, unter denen Jineolojî in Kurdistan entwickelt wurde und unter denen auch der Aufbau der Demokratischen Autonomie in Rojava, in Nord- und Ostsyrien umgesetzt wird, waren und sind von ständigen Angriffskriegen geprägt. Ziel dieser Kriege – seien sie durch Armeen der Besatzerstaaten, durch imperialistische Mächte oder ihre Proxies wie den IS geführt – war und ist es, die Verfügungsgewalt über die Ressourcen und die Menschen in dieser Region an sich zu reißen. Hiergegen leisten die kurdische Bevölkerung, die kurdische Befreiungsbewegung seit Jahrzehnten entschlossenen Widerstand. In der Tradition der PKK, durch deren Einfluss eine neue politische Kultur in der kurdischen Bevölkerung entstanden ist, ging dieser Widerstand über eine bloße Verteidigung der physischen Existenz hinaus. Der Kampf war tief verbunden mit der Frage »Wie leben?« Deshalb opferten Menschen ihr eigenes Leben auf, um ein würdevolles Leben und eine freie Zukunft für ihre Gesellschaft zu erreichen.

Die Drohungen der Türkei eines erneuten, diesmal sehr großflächig angelegten Besetzungskrieges gegen Rojava kamen im Dezember 2018 auf die Tagesordnung, als die Verteidigungskräfte YPG/YPJ (Volks-/Frauenverteidigungseinheiten) und QSD (Demokratische Kräfte Syriens) gerade in der letzten Phase des Kampfes um den militärischen Sieg über den IS standen. Hieran zeigt sich, dass die Türkei keinerlei Interesse an der Zerschlagung des IS hat. Im Gegenteil, die Türkei sowie auch die imperialistischen Staaten wollen die Bevölkerung in Rojava und im gesamten Mittleren Osten in ständigen Kriegen gefangen halten. Mit ihren Angriffen wollen sie verhindern, dass alternative gesellschaftliche Aufbau- und Emanzipationsprozesse voranschreiten. Denn sie wissen, wenn sie diese ins Stocken bringen, dann kämpfen sie gegen eine Gesellschaft ohne Selbstverteidigungsbewusstsein und -strukturen.

Mit ihren Kriegsdrohungen wollen die Herrschenden die Menschen zur Aufgabe zwingen, sie entwurzeln und vertreiben. Dann können sie sich als Retter anpreisen und bekommen dazu noch Milliarden von Euros aus UN- und EU-Flüchtlingsfonds, um neue Grenzmauern zu bauen und sich militärisch aufzurüsten. Um diese psychologische und faktische Kriegsführung zu entlarven und ins Leere laufen zu lassen, ist es gerade unter Kriegsbedingungen – wie sie in Syrien und im gesamten Mittleren Osten herrschen – für die Menschen und die Gesellschaft besonders wichtig, dass der gesellschaftliche Aufbau stets weiter voranschreitet. Genauso wie die physische, militärische Verteidigung überlebenswichtig ist, gilt das auch für die mentale Verteidigung, die Organisation und das solidarische Bewusstsein der Gesellschaft. Nur so lassen sich die vielfältigen Ebenen der Zerstörung, die der Krieg und das Unrecht anrichten, in einen entschlossenen Widerstand verwandeln. Nur so lässt sich verhindern, dass sich eine Brutalisierung in der Gesellschaft ausbreitet, Mentalität und Methoden des Aggressors reproduziert werden. Dieser Prozess der bewaffneten Verteidigung und des politisch-ethischen Gesellschaftsaufbaus ist in Rojava nie als Gegensatz, sondern als zwei Seiten derselben Medaille begriffen worden. Deshalb konnte verhindert werden, dass sich eine Einstellung nach dem Motto breitmacht: »Heute ist jedes Mittel legitim; wenn wir gesiegt haben, dann klären wir den Rest!« Diese in vielen Kriegen und auch in vielen Befreiungskämpfen auf der Welt angewendete Losung hat dazu geführt, dass militärische Siege kaum zu freieren Gesellschaften geführt haben. Alte Machthaber wurden durch neue ersetzt. Gerade Frauen haben dies immer wieder bitter erfahren müssen. Unzählige Frauen, die entscheidende Rollen in Kämpfen und Revolutionen gespielt hatten, wurden danach wieder aus dem öffentlichen Leben verbannt. Sie wurden zurück ins Heim und in die Ehe geschickt, da andere gesellschaftliche Rollen für Frauen langfristig nicht vorgesehen waren. Wenn sich wirklich etwas Grundlegendes ändern soll, dann müssen sich mit dem Kampf gegen staatliche und koloniale Aggressoren auch die Mentalität und Strukturen in der Gesellschaft ändern, die Unterdrückung entstehen lassen und reproduzieren.

Das heißt hier konkret, dass der Kampf der Frauen in den Frauenverteidigungseinheiten YPJ, bei den Frauensicherheitskräften Asayîşa Jin und in den zivilen Verteidigungsstrukturen Parastina Jin mit dem Kampf um gesellschaftliche Veränderung und kollektive Befreiung als Frauen einhergeht, damit sie sich nicht eines Tages wieder alten Familienstrukturen unterordnen müssen. Das Bewusstsein über die Errungenschaften der Rojava-Revolution ist für Frauen und die Bevölkerung eine wichtige Motivation, sich auf allen Ebenen für ihre Verteidigung einzusetzen. Das ist es, was den Frauen der YPJ von Serê Kaniyê und Kobanê bis hin nach Reqqa und Dêrazor den Mut und die Kraft verlieh, den IS in die Flucht zu schlagen und zu besiegen, während zuvor staatliche Armeen vor diesen faschistischen Mörderbanden kapituliert hatten.

Deswegen ist es für uns – genauso wie für alle zivilgesellschaftlichen Arbeiten – entscheidend, den jeweiligen Bedingungen angepasst unsere Arbeiten weiterzuführen. Denn sie sind Bestandteil des Widerstands, der Selbstverteidigung und des Aufbaus. Sicher werden Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, den jeweiligen Situationen entsprechend andere Prioritäten gesetzt oder den Bedürfnissen der Gesellschaft entsprechend neue Projekte und Arbeitsfelder bestimmt. Wir sind entschlossen, die Frauenrevolution in Rojava gegen jegliche Aggression zu verteidigen und auszuweiten.

Welche Bedeutung messt Ihr in diesem Kontext dem seit über einem Jahr andauernden Widerstand zur Befreiung von Efrîn bei?

Der Widerstand der Bevölkerung von Efrîn und insbesondere die entschlossene Rolle, die Frauen darin gespielt haben, hat wirklich eine historische Bedeutung. Dieser Widerstand ist ein Symbol für die Entschlossenheit und Willenskraft der Bevölkerung, ihre Verbundenheit mit ihrem Land und dem Wunsch, auf diesem Land frei und selbstbestimmt zu leben. In gewisser Hinsicht können wir Parallelen zwischen dem Widerstand in Efrîn und dem Kampf für die Verteidigung der Pariser Commune ziehen: Die gesamte Bevölkerung hat sich auf allen Ebenen – militärisch, politisch, ökonomisch – selbst organisiert, am Kampf beteiligt und verteidigt. Wie auch beim Angriff auf Efrîn im Januar 2018 hatten sich 1871 die Armeen zweier verfeindeter Großmächte verbündet, um die Pariser Commune niederzuschlagen und zu verhindern, dass sich die Hoffnungen und revolutionären Dynamiken verbreiten. Letztendlich hat die Pariser Commune Geschichte geschrieben. Ihre Erfahrungen führten zu neuen strategischen und taktischen Überlegungen, die später für den Erfolg anderer revolutionärer Kämpfe ausschlaggebend waren. Ähnlich können wir sagen, dass die Bewertung der Erfahrungen von Efrîn auch wichtige Lehren für die Verteidigung der Revolution in Rojava und die Ausbreitung revolutionärer Dynamiken an anderen Orten in der Welt enthält. Sie hat uns gezeigt, wie wichtig die praktische internationale Solidarität ist. Und zugleich hat sie uns spüren lassen, dass es für die Verteidigung der Revolution notwendig ist, dass revolutionäre Kämpfe und Organisierung, die eine breite gesellschaftliche Basis haben, auch außerhalb von Rojava stattfinden. Rojava kann ein Beispiel sein, das inspiriert. Aber wichtig ist, dass Menschen überall den Widerstand gegen Faschismus, gegen Feminizide, gegen kapitalistische und koloniale Ausbeutung organisieren. Unsere Selbstverteidigung gegen die verschiedenen Formen von Angriffen und Kriegen zu organisieren bedeutet zuallererst auch, das Selbstverteidigungsbewusstsein, die gesellschaftliche und politische Organisierung der Bevölkerung zu stärken. Wichtig ist hierbei, dass der Kampf und der Widerstand zur Befreiung von Efrîn weitergehen. Seit über einem Jahr hat die Bevölkerung von Efrîn in Flüchtlingscamps in der Region von Şehba erneut ihre Selbstverwaltungsstrukturen aufgebaut. Genauso wie die bewaffneten Widerstandseinheiten von Efrîn tagtäglich Aktionen gegen die türkische Besatzungsarmee und die von ihnen benutzten islamistischen Söldner durchführen, um das illegale Besatzungsregime zu beenden, so dauern auch die Aktionen der Bevölkerung für ihre Rückkehr in ein freies Efrîn an.

Für uns ist es wichtig, diesen Widerstand sichtbar und international bekannt zu machen. Um den Kampf der Frauen aus Efrîn mit Frauenkämpfen in anderen Ländern zu verknüpfen, haben wir gemeinsam mit Kongra Star und anderen Frauenorganisationen in Rojava die internationale Solidaritätskampagne »WomenRiseUpForAfrin« initiiert, die mit neuen Aktionsformen und Mobilisierungen weitergeht.

Welche neuen Entwicklungen und Herausforderungen erwartet Ihr jetzt, nachdem die Einheiten von QSD, YPG und YPJ auch die letzte vom IS in Syrien besetzte Region befreit haben?

Nach dem militärischen Sieg über den IS in der Region Dêrazor gibt es qualitativ eine neue Situation. Der Krieg ist damit noch nicht vorbei. Weder das militärische noch das ideologische Gefahrenpotential, das noch vom IS ausgeht, sollte unterschätzt werden. Mit seiner militärischen Schwächung in den von ihm zuvor besetzten Gebieten ist der IS schon im vergangenen Jahr zu neuen Taktiken übergegangen. Neben den Versuchen, in Innenstädten Bombenanschläge mit möglichst vielen Opfern unter der Zivilbevölkerung durchzuführen, wurden insbesondere gezielte Mordanschläge auf Persönlichkeiten verübt oder geplant, die den Aufbau der Demokratischen Autonomie in Nordsyrien vorantrieben. Morde an solchen Menschen aus der arabischen Gemeinschaft verfolgen das Ziel, das Projekt der konföderalen, demokratischen Selbstverwaltung zu sabotieren, Misstrauen und Angst zu schüren. Andererseits gibt es Hunderttausende von Menschen, die über 4–5 Jahre unter dem faschistischen Regime des IS gelebt haben. Eine Generation von Kindern ist unter dem Einfluss der menschen- und frauenverachtenden Ideologie des IS aufgewachsen. Sie mussten Enthauptungen und Verstümmelungen von Menschen auf offener Straße mit ansehen. Sie selbst oder Menschen aus ihrem Umfeld wirkten – gezwungenermaßen oder aus Überzeugung – an Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit ... Welche Folgen wird dies für die zukünftige Gesellschaft in Syrien oder im Irak haben? Werden die TäterInnen für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden? Werden sie ihre Taten bereuen und sich wirklich von der faschistischen Ideologie des IS lösen? Wird es im Rahmen der Strukturen und der Philosophie des Demokratischen Konföderalismus gelingen, die junge Generation die Werte von Freiheit, Respekt vor dem Leben und allen Menschen spüren und leben zu lassen? Das sind Herausforderungen, auf die es keine einfachen, geradlinigen Antworten gibt.

Zugleich stellen die Kriegs- und Besetzungsdrohungen der Türkei gegen die Gebiete der Demokratischen Autonomie in Nord- und Ostsyrien weiterhin eine akute Gefahr dar. Die imperialistischen Mächte benutzen die Türkei und deren Armee in diesem Spiel genauso, wie die Türkei mit den NATO-Staaten und Russland herumjongliert, um unter allen Umständen zu verhindern, dass die KurdInnen einen politischen Status in einem demokratischen Syrien erhalten. Auch das syrische Regime weigert sich nach wie vor, grundlegende demokratische, politische und kulturelle Rechte der Völker in Rojava anzuerkennen.

Jedoch haben die Menschen – insbesondere die Frauen – in den acht Jahren des Kampfes für den Aufbau und die Verteidigung der Demokratischen Autonomie tief greifende Erfahrungen gemacht und Erkenntnisse erlangt, die unwiderruflich sind: Frauen haben neue Bereiche des gesellschaftlichen und politischen Lebens kennen und gestalten gelernt. Sie haben erfahren, dass sie durch ihre Organisierung stark werden, ihrer Meinung und ihren Interessen Geltung verschaffen und sich selbst verteidigen können. KurdInnen, AraberInnen, SyrianerInnen, TschetschenInnen, TscherkessInnen, TurkmenInnen, ArmenierInnen, ÊzîdInnen, ChristInnen, Muslime – Menschen der verschiedenen Gemeinschaften, die zuvor gegeneinander ausgespielt wurden, haben einander kennen und schätzen gelernt. Sie haben erfahren, dass nicht nur sie Leid erlitten haben. Sie haben Ängste und Freude miteinander geteilt und gemeinsam die ersten Schritte zum Aufbau einer lebenswerten Zukunft gemacht. Die Stärke, die in diesen Beziehungen entstanden ist, war in den entschlossenen Worten der Co-Vorsitzenden der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) in Til Temir anlässlich einer Hungerstreikaktion in Solidarität mit Leyla Güven, für die Aufhebung der Isolationsfolter gegen Abdullah Öcalan und gegen die Kriegsdrohungen der Türkei deutlich zu spüren. Die junge arabische Frau, die sich gegen den Willen ihrer Brüder durchsetzte und mit der Befreiung von Til Temir anfing, politisch aktiv zu werden, sagte: »Wir – KurdInnen, AraberInnen und Aschurî – haben diese Erde unter großen Opfern und mit unserem Blut gemeinsam vom IS befreit. Wir geben dieses Land und unsere Freiheit nie mehr auf. Wir werden sie auch jetzt gegen das neue Osmanische Reich von Erdoğan verteidigen – koste es, was es wolle!«


 Kurdistan Report 203 | Mai/Juni 2019