Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

mit den Kommunalwahlen am 31. März hat sich das seit Jahren festgefahrene Kräfteverhältnis, das die AKP-Regierung begünstigt hatte, in der Türkei und in Kurdistan verändert. Die HDP hat, entsprechend ihrer Wahltaktik, die sich mit den Worten »In Kurdistan gewinnen und im Westen verlieren lassen« zusammenfassen lässt, während der Wahlen in den großen westlichen Metropolen als »unsichtbare Kraft« gewirkt. Ankara, Istanbul, Izmir, Adana, Mersin, Antalya, Hatay, Wan, Amed, Mêrdîn ... Dieser sogenannten Großstadtkommunen beraubt zu sein, bedeutet für die AKP die kommunaltechnische Kontrolle über einen Markt zu verlieren, der circa 32 Millionen Menschen umfasst. Überall, wo die AKP gestürzt wurde, entspricht die Anzahl der Stimmen für die siegreichen Bürgermeisterkandidat*innen der Anzahl der Stimmen, die die CHP-Iyi-Parteien und die HDP bei den Wahlen vom 24. Juni 2018 zusammen erreicht hatten.

Bei der Bewertung der Wahlen darf ebenfalls nicht die Brutalität der türkischen Regierung gegen die kurdische Gesellschaft außer Acht gelassen werden, die seit dem Ende des Friedensprozesses im Jahr 2015 unerträgliche Ausmaße erreicht hat. Die türkische Akademikerin im deutschen Exil Nazan Üstündağ sprach jüngst von einer seit fünf Jahren währenden »Reichskristallnacht« gegen die Kurdinnen und Kurden – eine Anspielung auf die antijüdischen Pogrome in Nazi-Deutschland 1938.

Währenddessen haben Hunderttausende auf den symbolträchtigen Newroz-Festen und Kundgebungen zum internationalen Frauentag ihre Verbundenheit mit den zentralen Werten und Forderungen der kurdischen Freiheitsbewegung kundgetan. Da in den vergangenen Jahren aufgrund der staatlichen Repression zivilgesellschaftlicher Protest auf den Straßen und Plätzen kaum möglich war, kommt diesen Massenprotesten angesichts der staatlichen Propaganda eine besondere Bedeutung zu. So ist die Forderung des anhaltenden Hungerstreiks von tausenden politischen Gefangenen und Aktivist*innen für die Aufhebung der Isolationshaft gegen den Politiker Abdullah Öcalan eine von der kurdischen Gesellschaft als Ganzes getragene Angelegenheit; sie ist die essenzielle Grundbedingung für eine Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen zwischen dem türkischen Staat und der PKK.

In Europa wird trotz allem weiterhin die Strategie des medialen und öffentlichen Schweigens fortgesetzt und nur das in den öffentlichen Diskurs aufgenommen, was im politisch-wirtschaftlichen Interesse der Herrschenden liegt. So erklärt der Anwalt Jan Fermon in einem Interview, dass die »Terror«-Listung der PKK durch die EU den türkischen Staat nicht zum Frieden, sondern zum Krieg anhalte. Was dadurch unterstützt wird, dass trotz der Feststellung des EuGH in Luxemburg, die Listung der PKK auf der EU-Terrorliste von 2014 bis 2017 sei rechtswidrig und unbegründet, die EU-Staaten und allen voran Deutschland an der Verbotspraxis festhalten – und die Medien dazu weitestgehend schweigen. Siehe dazu auch den Artikel von AZADÎ zur Verbotspraxis in dieser Ausgabe.

Wir sehen, auch diese Ausgabe des Kurdistan Reports bewegt sich entlang der Linie, dass wir die uns entgegenstehenden Hindernisse nur selbst aus dem Weg räumen können. Und werden.

Eure Redaktion


 Kurdistan Report 203 | Mai/Juni 2019