Leyla Güven, Abgeordnete der HDP, ist seit dem 7. November im Hungerstreik

Die Isolation von Abdullah Öcalan muss durchbrochen werden

Eva Juhnke

Leyla Güven mit ihrer Tochter und ihrem Sohn.»So wie heute all eure Aufmerksamkeit nach drinnen in die Gefängnisse gerichtet ist, so ist unsere Aufmerksamkeit nach draußen auf ein Anzeichen eines Aufbruchs des Widerstands gerichtet. Während mir am Ende nur zu betonen bleibt, dass ›Widerstand einen wachsen lässt, tatenlos zusehen jedoch tödlich ist‹, bin ich an einem Punkt angelangt, an dem ich mit Freuden für das Leben, das es wert ist, dass man dafür auch sein Leben opfert, und dessen Teil ich bin, nun meinerseits das meine zu geben ....« Das schreibt Leyla Güven in einer Erklärung, die sie aus dem Gefängnis in Amed (Diyarbakır) heraus im Januar abgegeben hatte.

Leyla Güven ist Ko-Vorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskongresses (DTK). Der DTK ist eine demokratische Plattform, die sich 2007 mit der Zielsetzung einer selbstverwalteten, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft gebildet hat. Eine ihrer Säulen ist die »Demokratische Autonomie«, was die demokratische Basisorganisierung auf kommunaler Ebene (hier das kurdische Gebiet der Türkei) bedeutet. Seit September 2017 sind Leyla Güven und der Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker HDP von Agirî (Ağrı), Berdan Öztürk, die Ko-Vorsitzenden des DTK.

Anfang 2018 wird Leyla Güven verhaftet, nachdem sie sich öffentlich und in den sozialen Netzwerken kritisch über die Besetzung der nordsyrischen Region Efrîn durch die türkische Armee und ihr angebundene dschihadistische Milizen geäußert hatte. Sie wird trotzdem bei den Präsidenten- und Parlamentswahlen im Sommer letzten Jahres von der HDP als Kandidatin aufgestellt und ist unter den 67 Abgeordneten, die für die HDP ins türkische Parlament gewählt werden. Aus dem Gefängnis entlassen wird sie – trotz Mandat – jedoch nicht.

Wie alle Aufrechten hat sich Leyla Güven auch vom Gefängnis nicht schrecken lassen. So verhält sie sich auch dort ihrer Anschauung und ihrem Mandat entsprechend politisch. Am 7. November ist sie mit der Forderung nach Aufhebung der Isolationshaft von Abdullah Öcalan in den Hungerstreik getreten. Sie sieht in der über Abdullah Öcalan verhängten Isolationshaft eine kollektive Isolation des kurdischen Volkes, die dem Wunsch der Herrschenden in der Türkei entspringt, in der Beziehung der Türkei zum kurdischen Volk nur eine einzige Option offen zu lassen – die Option einer militärischen »Lösung«. In einem Brief äußert sie sich zu ihrer Forderung wie folgt: »Ohne ein Ende der Isolationshaft von Abdullah Öcalan kann keines der gesellschaftlichen Probleme der Türkei gelöst werden. Öcalan hat zur Schaffung eines gesellschaftlichen Friedens eine große Entschlossenheit an den Tag gelegt und wichtige Erklärungen abgegeben.«

Ausführlich sei in dem Zusammenhang an Öcalans Newroz-Erklärung 2013 erinnert, in der er eine neue Ära einläutet. Er erklärt: »Der Kampf ist nicht zu Ende, sondern ein neuer, anderer Kampf beginnt ... Das System der demokratischen Moderne ist die neue Option des Wegs aus der Unterdrückung. Nehmt Euren Platz darin ein und eignet Euch seine Mentalität und Form an.« Für Öcalan ist »die egalitäre, freie und demokratische Organisierung« aller Unterdrückten die Stammzelle einer neuen freieren und demokratischeren Welt. Mit der Isolation gegen Öcalan und mit ihm gegen alle politischen Inhaftierten in der Türkei, sowie gegen das kurdische Volk, versperrt die Türkei den Weg für eine politische Lösung des Konflikts.

Mehr noch: Der Versuch des Völkermords an den Kurden und die Isolationshaft als ein Teil dessen öffneten der Diktatur in der Türkei den Weg. Es scheint nichts zu geben, was im Sinne der Staatsräson nicht legitim wäre. Ob die Vertreibung Hunderttausender, das Verhängen von Ausgangssperren, die Zerstörung und Bombardierung von Städten, das Massakrieren von unzähligen Zivilisten, die Unterstellung ganzer Regionen unter Regentschaft von Zwangsverwaltern, die Ausschaltung der Opposition durch Massenverhaftungen bis hin zur Verhaftung ihrer gewählten Abgeordneten, und als selbst das als unzureichend erachtet wird, die Umgestaltung des politischen Regimes mit der Installierung des Präsidialsystems. Heute herrschen Willkür und Folter. Die Medien sind gleichgeschaltet, oppsitionelle Journalisten inhaftiert oder aus dem Land getrieben. Im Zuge ihres sogenannten Feldzugs gegen das kurdische Volk sind Waffengänge selbst gegen die Nachbarländer längst die »Normalität«. Was seit Anfang 2018 auch völkerrechtswidrige Kriege, wie den Angriffskrieg gegen und die Besatzung von Efrîn, mit einschließt. Täglich folgen neue Drohungen seitens der Herrschenden der Türkei, selbiges auch an anderen Orten zu wiederholen.

Und die Kurden? Sie sind in den letzten hundert Jahren mehrmals Opfer von Massakern und Völkermord geworden. Auch aktuell ist für sie die Gefahr groß. In Zeiten großer Gefahr und schwerster Folter haben die Kurden in der Türkei bereits einmal in Form eines Hungerstreiks einen entscheidenden Widerstand geleistet. Sie griffen dann zum Hungerstreik, wenn ihnen kein anderes probates Mittel mehr blieb ... Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 hat sich zwei Jahre später im Foltergefängnis Diyarbakır der Widerstand gegen Folter, Unterdrückung und Willkür formiert. Mazlum Doğan, Hayri Durmuş, Kemal Pir, Akif Yilmaz, Ali Çiçek, um nur einige namentlich zu nennen, gaben ihr Leben und wurden zu Hoffnungsträgern der Völker der Türkei. Der Geist des Widerstands hinter den Mauern des Militärgefängnisses von Diyarbakır 1982 ist bis heute lebendig. Seine Seele ist es, die in der Ebene zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris den Freiheitskampf der Kurden zeugte, dessen Echo an den Hängen von Ararat, Herekol und Zagros widerhallt, die in der Schlacht um Kobanê zu seiner Verteidigung Menschen aus allen Himmelsrichtungen zusammenströmen ließ, die Rojava gebar, die, als die Êzîden des Şengal 2014 dem Untergang ins Gesicht sahen, mutig ihnen zur Seite eilen ließ. Es ist sein Geist, der Efrîn 58 Tage lang hat standhalten lassen und jetzt, wo es unter türkischer Besatzung ächzt, auch nicht verlassen lässt. Jetzt, wo die Türkei erneut in Willkür und Diktatur versinkt, ist es erneut ein Hungerstreik, der Hoffnung bringen soll.

Leyla Güven, zu der Zeit noch im Gefängnis in Amed  (Diyarbakır), war die erste, die in den Hungerstreik trat. Ihrer Aktion schlossen sich politische Gefangene verschiedener türkischer Gefängnisse am 27. November an. Die Hungerstreiks wurden zunächst im zehntägigen Wechsel durchgeführt. Am 16. Dezember trat die erste Gruppe Gefangener in den unbegrenzten Hungerstreik. Inzwischen sind es über 300 Gefangene in 59 Gefängnissen. Auch an anderen Orten der Welt sind Menschen unbegrenzt in den Hungerstreik getreten. So in Hewlêr (Erbil) Nasır Yağız, in Mexmûr Fadile Tok, in Newport/Wales İmam Şiş, in Toronto Yusuf İba, in Den Haag Hüseyin Yıldız und Hasbi Çakıcı, in Duisburg Mustafa Tuzak, in Nürnberg Şiyar Xelil, in Kassel Ömer Bağdur und Cemal Kobanê, in Gießen Mehmet Şerif Narman, in Wien Şivan Ağaoğlu und Sultan Yiğit, in Straßburg sind es 14 kurdische Aktivistinnen und Aktivisten, die in den unbegrenzten Hungerstreik getreten sind. Des Weiteren sind in nahezu 130 Gefängnissen über 1000 politische Gefangene, darunter auch unterstützend die der TKP/ML, in wechselndem Turnus im Hungerstreik. In Hewlêr, in Silêmanî, in Şengal/Xanesor, im Flüchtlingslager Şehid Rustem Cudi (Mexmûr), in Dortmund, in Russland und in Kassel finden weiterhin Massenhungerstreiks von unbegrenzter Dauer, aber mit turnusmäßig wechselnden Teilnehmergruppen, statt. 

Am 25. Januar wurde Leyla Güven unter Auflagen aus der Haft entlassen und führt seitdem ihren Hungerstreik in ihrer Wohnung in Amed (Diyabakır) fort. Sie und eine wachsende Anzahl weiterer, die im Hungerstreik sind, sind mittlerweile akut in Gefahr ...

Die Volksinitiative von Amed ruft dazu auf, »jeden Ort zu einem Ort des Widerstands zu machen«. Es wird Zeit, dass wir ihrer Stimme auch die unsere hinzufügen. Denn es ist das Schweigen, das Diktatur möglich macht. Wer gegen Diktatur ist, muss sich äußern und Position beziehen ... Leyla Güven ist eine starke und unerschrockene Vertreterin der kurdischen Bewegung für einen gerechten Frieden, genauso wie sie eine ideenreiche Frauenrechtlerin ist und in der Zeit, als sie Bürgermeisterin von Wêranşar (Viranşehir) war, viele innovative Ideen zur Stärkung der Rechte von Frauen einführte.

Der jetzige Hungerstreik ist der Kampf um Demokratie und Selbstbestimmung in Zeiten einer faschistischen Ein-Mann-Diktatur, in der alle Aktionsebenen eines demokratisch-politischen Agierens in stärkstem Maße eingeschränkt bzw. zunichte­gemacht sind. Was 1982 der Widerstand im Militärgefängnis von Diyarbakır und 2014/15 die Schlacht um Kobanê, 2018 der Kampf gegen die Besatzung Efrîns war, das ist heute der Hungerstreik von Leyla und ihren Weggefährten. Leyla, wir unterstützen dich im Kampf für Frieden und Demokratie. Wir fordern alle auf, sich mit diesem Kampf zu solidarisieren und aktiv zu werden. Lassen wir Leyla, lassen wir die Menschen im Hungerstreik, lassen wir die Menschen in den Gefängnissen der Türkei, die sich für Demokratie, Menschenrechte und einen gerechten Frieden einsetzen, nicht allein! Ihr Widerstand ist auch der unsere!


 Kurdistan Report 202 | März/April 2019