Die Akademikerin Latife Akyüz und ihre Zwangsmigration

Ich habe alles zusammengepackt und bin gekommen

Ismet Kayhan, Yeni Özgür Politika

Der Anfang ...

Auf dem Sultanahmet-Platz sprengt sich jemand in die Luft. Noch bevor irgendjemand versteht, was passiert ist, und noch bevor die Krankenwagen den Tatort erreicht haben, wird eine Nachrichtensperre verhängt. Internationale Nachrichtenagenturen bringen die Explosion als aktuelle Schlagzeile. Der türkische Präsident Erdoğan spricht in einer Live-Sendung nur 44 Sekunden über diese Explosion. Er hatte ein vollkommen anderes Tagesthema. Er spricht über die AkademikerInnen, die einen Tag vor der Explosion das Flugblatt »Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein« unterschrieben hatten und die er im Visier hat: »Professor oder Dozent zu sein, macht niemanden zum Intellektuellen. Diese Leute sind ein niederes, tyrannisches, düsteres, dummes, widerwärtiges Lumpenpack, Strohmänner der Terrororganisation, charakterlose, seelenbeschmutzte Vaterlandsverräter.«

Auf diese Worte Erdoğans folgen sofort Reaktionen der Universitäten und des Hochschulrats. AkademikerInnen werden festgenommen, Universitäten gründen Untersuchungskommissionen. Insbesondere unterzeichnete MitarbeiterInnen der anatolischen Universitäten erleben Lynchkampagnen und werden »mit dem Tod« bedroht.

Das Presseorgan der AKP, die Zeitung Yeni Şafak, zielt mit der Schlagzeile, sie seien »Beteiligte an den PKK-Verbrechen«, auf die AkademikerInnen. Auf Anordnung Erdoğans erklärt der Hochschulrat, dass es gegen die unterzeichneten AkademikerInnen Untersuchungen geben werde, und das AkademikerInnensterben beginnt.

AkademikerInnen für den Frieden protestieren an der Universität in Istanbul. | Foto: AkyüzDie AkademikerInnen sind nicht nur Zielscheibe der staatlichen VertreterInnen. Der faschistische Mafiaboss Sedat Peker sagte dazu: »Wir werden euer Blut in Strömen fließen lassen und uns damit duschen.«

Esra Mungan, Meral Camcı, Kıvanç Ersoy und Muzaffer Kaya gaben zu diesen Entwicklungen eine Presseerklärung ab, in der sie betonten, dass sie auf ihrer Friedensforderung beharren.
Der per Notstandsdekret (KHK) aus dem Dienst entlassene Akademiker und Autor unserer Zeitung, Abdurrahman Aydın, bewertete diese Zeit als »Phase der Entmenschlichung«, »in der die Republik all ihr Unterbewusstes auskotzt«.

Derzeit laufen gegen 499 AkademikerInnen zig Verfahren unter der Anklage, »Propaganda für die Terrororganisation« betrieben zu haben. Gegen sie werden derzeit an 22 verschiedenen Gerichten Verfahren mit derselben Anklage und Anklageschrift geführt.

Uns sind die verstärkten Migrationsbewegungen in repressiven Zeiten bekannt. Nach dem Putsch von 1980 und nach den 1990ern gab es sehr hohe Migrationszahlen von Kurdistan nach Europa. Nun findet eine weitere Migrationswelle nach Europa statt. Dieses Kapitel hat mit der Zwangsmigration der AkademikerInnen begonnen, die das Flugblatt unterschrieben hatten, ist aber nicht nur auf sie begrenzt. Alle Gruppen, die der Wut des türkischen Machtapparats ausgesetzt sind, wie StudentInnen, GewerkschafterInnen, KünstlerInnen, JournalistInnen und PolitikerInnen, die unter dem Druck von Justiz und Polizei stehen, sind davon betroffen. Die Akademikerin Latife Akyüz erzählt authentisch von diesen »aktuellen AsylantInnen«, die auch in ihrem eigenen Land unerbittlich für ihre humane, moralische und politische Haltung eingestanden sind, von ihren Erlebnissen vor- und nachher.

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Die Akademikerin Latife Akyüz war keine halbe Stunde nach den anklagenden Worten des Präsidenten Erdoğan, die AkademikerInnen seien »naive Möchtegern-Intellektuelle«, einer Lynchkampagne ausgesetzt. Die von der Universitätsleitung angeführte Kampagne wurde immer größer. Ein Haftbefehl wurde gegen sie erlassen und Akyüz per Notstandsdekret aus dem Dienst entlassen. Später verließ sie die Türkei und ging nach Deutschland. Derzeit setzt sie ihre akademische Arbeit an der Goethe-Universität fort. Wir haben mit Dr. Latife Akyüz, die zu den Themen Exil, Migration und Asyl forscht, über ihre Migrationsgeschichte gesprochen.

Sie sind die einzige Akademikerin der Düzce-Universität, die die Friedenspetition unterschrieben hat. Außerdem sind Sie eine derjenigen AkademikerInnen, die Opfer einer Lynchkampagne waren. Was ist in Düzce passiert? Können Sie uns erzählen, was Sie erlebt haben?

Am 11. Januar 2016 wurde die Friedenspetition der Öffentlichkeit mit einer Presseerklärung bekannt gegeben. Am nächsten Tag, dem 12. Januar, explodierten in Sultanahmet Bomben und zwölf Personen, darunter etliche deutsche StaatsbürgerInnen, verloren ihr Leben. Erdoğan traf sich am selben Tag mit BotschafterInnen. Er widmete hier der Explosion 44 Sekunden und redete fast zehn Minuten lang über die Friedens­petition, wobei er die Unterzeichneten zur Zielscheibe machte und die Universitätsleitungen und regionalen Staatsanwaltschaften dazu aufrief, das Nötige zu tun. Es wurde deutlich, dass die FaschistInnen in Düzce dies zu ihrer Aufgabe machten und kaum eine halbe Stunde nach dieser Rede in den sozialen Medien eine Lynchkampagne begannen. Eine regionale Zeitung und ein Fernsehsender haben den ganzen Tag lang die Nachricht als Schlagzeile gebracht, dabei meinen Vor- und Nachnamen und die Fakultät, an der ich beschäftigt war, öffentlich bekannt gegeben.

Am selben Tag gab der Vorsitzende der Grauen Wölfe eine Presseerklärung ab mit dem Inhalt, sie würden »Düzce von den PKKlern säubern«, und erklärte dabei einen hauptsächlich von KurdInnen bewohnten Stadtteil zum Ziel. Am nächsten Tag entschied sich die Universitätsleitung zu meiner Entlassung. Und die Lynchkampagne wurde immer schlimmer. Es gab Leute, die nach meiner Adresse fragten oder die Fakultät anriefen, um an mich heranzukommen. Mit Hilfe meiner FreundInnen habe ich Düzce verlassen und bin zu meiner Familie nach Istanbul gefahren. Bereits am nächsten Tag hatte die Polizei mein Büro in der Universität gestürmt und einen Haftbefehl erlassen, als sie mich nicht fanden. Seitdem bin ich nicht mehr nach Düzce zurückgekehrt. Meine FreundInnen haben meine Wohnung geleert und meine Sachen nach Istanbul geschickt. Mein fast dreijähriges Abenteuer an der Universität Düzce war innerhalb von dreieinhalb Tagen beendet. Nach meiner zehn Monate dauernden Suspendierung wurde ich am 29. Oktober 2016 laut Notstandsdekret aus meinem Staatsbedienstetenverhältnis entlassen.

Die unterzeichneten AkademikerInnen in Ankara, Istanbul und Izmir hatten mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen als Sie in Düzce. Wie war es als Akademikerin in der Provinz?

Als AkademikerInnen war es für uns schon von Anfang an eine andere Erfahrung. Sie haben in den kleinen Ortschaften, in denen die Zahl der Unterzeichneten gering war, mit den ersten Angriffen auf uns begonnen und es war nicht einfach, sich allein oder mit wenigen FreundInnen oder KollegInnen vor diesen Angriffen zu schützen. In größeren Städten haben die Universitätsleitungen ein wenig später reagiert und der außeruniversitäre Bereich stellte für unsere FreundInnen keine so große Gefahr dar, so dass sie weiterhin an ihren jeweiligen Wohnorten leben und arbeiten konnten. Ich möchte aber betonen, dass meine Äußerungen natürlich Ausnahmen beinhalten und jede einzelne Erfahrung eigene Schwierigkeiten mit sich bringt. In der folgenden Zeit, vor allem nach dem Putsch, haben viele FreundInnen, die in Großstädten lebten, arbeiteten oder entlassen wurden, diese Städte nach den erlassenen Notstandsdekreten verlassen, um ihr Leben weiterführen zu können. Sie sind zu ihren Familien gezogen oder an Orte, an denen sie eine Chance auf einen Job haben. Letztendlich mussten wir, sowohl diejenigen aus den Provinzen als auch die aus den Großstädten, unsere Häuser und Städte verlassen.

Eine Bewertung über das Leben als Akademikerin in der Provinz kann ich schlicht nicht anstellen, da ich dazu nicht lange genug in Düzce gelebt habe. Fast die Hälfte der drei Jahre habe ich immerhin im Ausland verbracht. Und ich selbst muss diese kurze Phase aufteilen auf die Zeiten vor und nach der Unterschrift. Denn vor der Unterschrift bin ich weder in meiner akademischen Arbeit noch im Alltag auf Schwierigkeiten gestoßen. Ich fand sogar Gefallen an der Einfachheit, die das Leben in einer kleinen Stadt mit sich brachte. Die sofort begonnene und von der Universitätsleitung verstärkte Lynchkampagne, das Zurückschrecken vor einem Gruß als nahestehend geglaubter Menschen und das Entfernen aus ihren sozialen Kontaktlisten war aber eine wichtige Erfahrung, um zu erkennen, dass all diese Beziehungen nur an einem seidenen Faden hingen und sich innerhalb weniger Stunden ins Gegenteil wenden können. Da es nicht wie in einer Großstadt die Möglichkeit gab, in der Menge unterzutauchen, mussten viele von uns aus Gründen der Sicherheit für ihr Leben ihre Städte verlassen.

Warum waren Ihrer Meinung nach die AkademikerInnen das Ziel? Hat der Staat Angst gehabt, dass diese Bewegung wachsen wird? Oder fürchtete er, dass sich zum ersten Mal AkademikerInnen so deutlich gegen den Krieg stellten?

Es ist kein neues Phänomen, dass unter Gewaltherrschaften AkademikerInnen, JournalistInnen, AutorInnen und KünstlerInnen, kurz kritisches Denken Schaffende und Veröffentlichende zur Zielscheibe gemacht werden. Das ist weder nur für die Türkei charakteristisch noch ist es das erste Mal in der Geschichte der türkischen Republik. Das Entfernen von Namen wie Behice Boran und Pertev Naili Boratav aus Sprache und Geschichte, die Entlassungen unserer Lehrenden laut Erlass Nr. 1402 [nach dem Putsch vom 12. September 1980 wurden mit Erlass Nr. 1402 5.000 Staatsbedienstete entlassen; d. Übers.] sind Ergebnisse derselben Gesinnung. Angesichts der Geschehnisse nach der Veröffentlichung der Friedenspetition, der Zahl der von Repression Betroffenen und der folgenden Solidarität gegen diese Unterdrückung ist diese Zeit aber von der vorherigen abzugrenzen. Diese Phase der Unterschriften, während der Staat mit aller Kraft seinen Krieg in Kurdistan fortsetzte, tagtäglich Todesnachrichten aus dieser Region kamen, im Westen in den Stadtzentren Bomben explodierten, so dass die Menschen nicht mehr nach draußen konnten, ist das Kapitel, in dem alle oppositionellen Stimmen zum Verstummen gebracht werden sollten. Das öffentliche Stellungbeziehen der AkademikerInnen in einer solchen Zeit und das Teilen dieser Stellungnahme mit der Öffentlichkeit ist der Grund für den großen Zorn Erdoğans. Es wurden trotz Hausdurchsuchungen, Festnahmen, Druck, die Unterschrift zurückzuziehen und Personen anzuschwärzen, keine Rückzieher gemacht und man stand hinter der Friedensforderung. Es wurde erwartet, dass wir nach den ersten Angriffen schweigen, unsere Unterschriften zurückziehen und wieder in unsere Büros zurückkehren.

Ist denn derzeit in der Türkei überhaupt noch ein akademisches oder kritisches Denken übriggeblieben?

Seit ich 1991 als Studentin begonnen hatte, hat mein universitäres Leben mit kurzen Unterbrechungen bis 2016 gedauert. Ausgehend von diesen 25-jährigen Erfahrungen kann ich offen heraus sagen, dass unabhängig davon, ob StudierendeR oder ProfessorIn, jedeR, der oder die sich an außeruniversitären, gesellschaftlichen Belangen aktiv beteiligte, jederzeit zur Zielscheibe wurde. Bedenkliche Themen wie die kurdische Frage oder der armenische Genozid waren nur an einigen Universitäten und mit einigen Lehrenden möglich. Die Selbstzensur fand stets statt. Ich will damit klarstellen: Die türkische Akademie war für oppositionelle AkademikerInnen noch nie ein dornenloser Rosengarten. Aber zu keiner anderen Zeit in der Geschichte war sie so heftigen und systematischen Angriffen ausgesetzt wie derzeit. Die mit der Gründung des Hochschulrats während der Amtsperiode Özals begonnene, von der AKP-Regierung voller Drang zwischen 2002 und 2018 weitergeführte und allein und ohne akademische, technologische oder physische Infrastruktur erhöhte Zahl der Universitäten von 66 auf 183 reicht aus zu belegen, dass durch die neoliberale Politik in den Universitäten Arbeitsbedingungen für ein akademisches Profil fern von gesellschaftlichen Fragen, nur auf Projekte bezogen und in Konkurrenz zu den KollegInnen geschaffen wird.

Aber die Unterschrift für den Frieden und die folgende Solidarität hat diese Politik zunichtegemacht. Insofern ist es zu einer Bewegung geworden, die uns natürlich Hoffnung gegeben und den Staat aufgeschreckt hat. Er konnte sie nur durch ein »akademisches Gemetzel« stoppen und durch Vorschriften, die eine daraus möglicherweise entstehende größere Opposition blockieren würden. Und genau dies hat er mit den erlassenen Notstandsdekreten nach dem angeblichen Putsch getan.

Trotz allem wäre es ungerecht, von einem Ende des kritischen Denkens zu sprechen, denn es gibt noch immer FreundInnen in den Akademien, die dort weiterkämpfen. Aber sie wissen auch, dass sie das mit den neuen Regelungen nicht lange fortsetzen können.

War die Ausreise nach Deutschland unumgänglich? Was haben Sie dazu überlegt?

Natürlich war es nicht unumgänglich. Sehr viele der unterzeichneten FreundInnen sind noch immer in der Türkei. Hinter der Entscheidung zu bleiben oder zu gehen stehen viele persönliche Situationen. Das gilt auch für mich. Ich kann dazu sagen, dass ich eventuell ein bisschen Luft atmen wollte. Und selbstverständlich war auch ausschlaggebend, dass hier ein fertiges und mindestens zweijähriges Stipendium wartete.

Wäre ich geblieben, würde ich höchstwahrscheinlich Arbeit suchen, in kurzfristigen Stellen arbeiten und meine akademische Arbeit innerhalb der solidarischen Akademie fortsetzen. Und selbstverständlich wäre ich mit der Eröffnung der Verfahren ein Teil der Çağlayan-Arbeit [den Verfahren folgende und sie begleitende akademische Solidaritätsgruppe, die zu jedem der Verfahren bei Gericht anwesend ist; d. Übers.]. Das Fehlen dabei betrübt mich am meisten.

Wie bewerten Sie Ihr Herkommen? Als erzwungene Migration oder als »freiwilliges« Exil?

Ich weiß nicht, ob von einem »freiwilligen« Exil die Rede sein kann, wenn ich an die negative Assoziation des Wortes Exil denke. Stellen Sie sich vor, dass Sie sich, zufrieden oder nicht, ein Leben unter Menschen schaffen, die Sie kennen und lieben, denen Sie Ihre Jahre widmen, und eines Tages wirft jemand Ihr in all den Jahren geschaffenes Leben mit seinen über Sie getroffenen Entscheidungen über den Haufen, so dass Sie dort nicht mehr leben können und es verlassen. Um diese Entscheidung zu treffen, muss nicht zwangsläufig nur Ihr Leben in Gefahr sein. Sie können nicht entscheiden, wie Sie leben wollen, wie Sie arbeiten wollen. Um es kurz zu sagen, Sie werden in dieser Zeit, wie wir oft sagen, zu einem »zivilen Toten« und verlassen Ihren Wohnort. In dieser Situation können Sie vielleicht nur freiwillig das Land wählen, in das Sie gehen ... und das nur vielleicht.

In den letzten 3–4 Jahren hat eine intellektuelle Abwanderung stattgefunden. Das wird von manchen als Exil, als Herausforderung oder als Braindrain bewertet. Wie deuten Sie das?

Ich denke, dass sich die Antwort darauf je nach Definition des Exils und dem Erlebten ändern kann. Herausforderung kann es nicht genannt werden, wenn das Exil als »erzwungenes Fernbleiben von der Heimat« definiert wird. Der Staat hat uns dazu gezwungen und wir haben es akzeptiert und sind gegangen. Wer dies zur Herausforderung umwandeln will, muss dort, wo er oder sie sich befindet, damit weitermachen zu sagen, woran er oder sie glaubt, und so agieren. Eine Flucht ist es natürlich. Wenn die Flucht dich freier macht, dann musst du an einigen Stationen des Lebens fliehen – wobei die Begriffe Flucht, Freiheit, Herausforderung natürlich alle stundenlang diskutiert werden könnten.

Was ist für Sie, die über Grenzen und Migration forscht, der Unterschied zwischen der jetzigen Situation und der Migration der 70er Jahre?

Wie Sie wissen, gibt es seit den 1960ern eine verstärkte Migration nach Europa. Aber deren Charakteristik ändert sich periodisch. Während zu Beginn vermehrt eine Auswanderung aus ökonomischen Gründen stattfand, stieg in der Zeit nach dem Putsch natürlicherweise die Zahl des politischen Asyls. Auch mit der Migrationswelle nach dem 12. März, dem 12. September (Militärputsche) und den Vertreibungen während der 90er kamen denkende Werktätige. Auch damals emigrierten JournalistInnen, PolitikerInnen, KünstlerInnen und AkademikerInnen als politische AsylantInnen nach Europa. Der Unterschied zu jetzt ist die Besonderheit, dass der Großteil der MigrantInnen dieser Gruppe angehört und auch, hier spreche ich insbesondere von den AkademikerInnen, ihr in der Türkei geschaffenes Netzwerk der Solidarität und Organisation hier rübergebracht haben. In kurzer Zeit haben wir sowohl untereinander als auch mit unseren hiesigen KollegInnen verschiedene Netzwerke geschaffen bzw. haben uns auf schon existenten Plattformen getroffen. Und wir haben den Verein »AkademikerInnen für den Frieden – Deutschland« gegründet. Wir erhalten hier unsere Beziehungen zu internationalen Netzwerken, mit denen wir in der Heimat Kontakt hatten, aufrecht und organisieren gemeinsame Aktionen. Meines Erachtens ist dies der elementarste Unterschied zu früher. Wir haben unsere bereits bestehenden Netzwerke auch hier aktiviert und machen gemeinsam Politik. Selbstverständlich ist dies alles noch sehr neu und kommt nur langsam voran. Aber ich kann sagen, dass wir eine politische Praxis »jenseits vom Staat« entwickeln und dies in die Migrationsliteratur aufgenommen werden wird.

Zudem besagt die häufigste Aussage seit unserer Ankunft, dass wir hier aufgrund unserer Sprachkenntnisse auf keine Schwierigkeiten stoßen würden und im Vorteil seien. Bis zu einem gewissen Punkt mag dies richtig sein. Aber es kommt auch der Moment, da alle ExilantInnen vor den offiziellen Ämtern ohne Unterscheidung nach Beruf oder Sprachkenntnissen als gleich betrachtet werden. Es hat keine Bedeutung mehr, warum oder wie du hergekommen bist. Aus der Sicht des Staates und seiner Arbeitsweise haben wir alle die Grenzen eines Staates verletzt, legal oder illegal, und sind potentielle Schuldige, die die Grenzen eines Staates überschritten haben. Wenn wir doch diese Gleichheit als Chance nutzen und untereinander auch gleich sein könnten – ich würde gern sagen, dass sich alle ExilantInnen der Welt zusammentun sollten.

Ich habe meinen Koffer geöffnet, aber ...

  • Diese Phase hat mich physisch von meinen Lieben und meinen Lieblingsorten getrennt. Von meiner Familie, von FreundInnen. Ich habe das Glück, dass ein Teil von ihnen noch immer verreisen kann und sie mich besuchen kommen. Anderseits habe ich eigentlich nichts zurückgelassen. Ich habe alle Erfahrungen meines 41-jährigen Lebens zusammengepackt und bin hierhergekommen. Und mein Leben geht nun hier weiter.
  • Sesshaftigkeit war noch nie ein Gefühl, das ich in meinem Leben gespürt habe. Ich glaube nicht, dass ich, die mit Leichtigkeit Wohnung, Stadt oder sogar das Land wechseln kann, mich irgendwo endgültig niederlassen werde. Ich habe meinen Koffer geöffnet und mich derzeit hier niedergelassen, kann ihn aber sehr schnell wieder packen und woanders weiterleben.
  • In meiner Familie ersten Grades gibt es keine Exilgeschichten. Aus unserem Freundeskreis gibt es zwar welche, die nach den 80ern und 90ern als AsylantInnen nach Europa geflüchtet sind, aber deren Geschichten kennen wir eher flüchtig. Wir haben ihre Migration aus den Büchern gelernt. Nun schreiben wir unsere eigene Geschichte und unsere Familien sind Zeugen dessen.

     Kurdistan Report 202 | März/April 2019