Frauenbündnisse zur Verteidigung der Revolution in Rojava

Solidarität ist eine Waffe

Andrea Bengî

Qamişlo, 9. Januar: Kundgebung im Gedenken an die im Kampf für Befreiung gefallenen Frauen. | Foto: GKDie Kampagne »Women Rise Up For Afrin – Frauen erhebt Euch für Afrin!« begann am 8. Februar 2018 mit einem Appell von Frauen aus Efrîn. Während die türkische Armee Efrîn bombardierte, riefen Vertreterinnen der Frauenbewegung Kongreya Star an diesem Tag zu einer globalen Kampagne der Solidarität mit dem Widerstand der Bevölkerung von Efrîn und zur Verteidigung der Frauenrevolution auf.

Die riesigen Fußabdrücke, die auf dem Steinboden des historischen Tempels in Ain Dara die Anwesenheit der Schutzgöttin Ischtar symbolisieren, wurden zum Symbol der Kampagne. Mit der Bombardierung dieses Tempels manifestierte der türkische Staat die gewaltsame Durchsetzung seiner patriarchalen und faschistischen Ordnung. Demgegenüber erklärten die Frauen aus Efrîn ihre Entschlossenheit, das Erbe der neolithischen Frauenkultur und die gegenwärtige Frauenrevolution zu verteidigen. Frauen in allen Teilen Kurdistans und in vielen Regionen der Welt griffen den Slogan auf. Insbesondere in den Tagen um den 8. März erklärten sie mit vielfältigen Aktionsformen ihre Solidarität mit dem Widerstand in Efrîn. Aus allen Regionen Nordsyriens begaben sich Frauen mit Solidaritätskonvois in die umkämpfte Stadt. Zugleich verurteilten sie die stillschweigende Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft für die faschistischen und völkerrechtswidrigen Angriffe des türkischen Staates.

Nach 58 Tagen des ungebrochenen Widerstands gegen Bomben, Belagerung und Kriegsverbrechen der türkischen Armee und dschihadistischer FSA-Gruppen sahen sich 200.000 Menschen gezwungen, Efrîn zu verlassen, um einem Massenmord zu entgehen. Aus den Flüchtlingscamps in der Region Şehba wandten sich die Frauen aus Efrîn am 8. April vergangenen Jahres mit einem erneuten Aufruf an die Öffentlichkeit: »Efrîn gehört uns, Nein zur Besatzung!« Sie riefen Frauen aus aller Welt zu entschlossenen Aktionen gegen die Besatzung, ethnische Säuberung und kulturellen Genozid auf: »Die türkische Regierung hat in dieser Phase des Krieges begonnen, mit Hilfe internationaler Kräfte die Demografie Efrîns zu verändern und Menschen aus dem Süden Syriens und insbesondere aus Ghouta nach Efrîn zu bringen. Zudem wurden Dschihadisten aus der ganzen Welt auf syrisches Territorium gebracht. Zur Zeit der Eroberung Efrîns haben zudem hunderte Frauen und Kinder ihr Leben verloren. Die Besatzung Efrîns bedeutete keinesfalls ein Ende der Angriffe. Neben systematischer Plünderung und Zerstörung wurden sexistische Angriffe auf Frauen zur Regel. Entführungen, Belästigungen, Vergewaltigungen, Morde, Folter und erzwungene Konvertierung zum Islam sind konkrete Beispiele für den Faschismus der Türkei und der dschihadistischen Gruppen. Wir rufen Euch ein weiteres Mal dazu auf, uns dabei zu unterstützen, unsere Stadt vom türkischem Staat und dschihadistischen Gruppen zu befreien. Efrîn ist nicht nur eine Stadt der Kurd*innen, sondern auch eine Stadt der FRAUEN. Als Frauen werden wir weiterhin für Efrîn aufstehen und uns für Efrîn organisieren, bis Efrîn befreit ist und die Besatzer zur Rechenschaft gezogen werden.«

Efrîn nicht den Faschisten überlassen

Seit über einem Jahr dauert nun der Widerstand gegen die völkerrechtswidrige Besatzung Efrîns an. Inspiriert von der internationalen Solidaritätskampagne, gelang es in dieser Zeit einigen internationalen Frauendelegationen nach Rojava zu kommen. Ein Weg, der nicht einfach ist und auf dem Reisende – auch mit Reisepässen der Europäischen Union – das politische Kalkül der menschenverachtenden Grenzziehungen und die Willkür bei der Erteilung von Genehmigungen zum Grenzübertritt hautnah zu spüren bekommen: Das Ziel der 826 Kilometer langen Grenzmauer, die in den letzten zwei Jahren von der türkischen »Wohnungsbaubehörde« TOKI an der Staatsgrenze zu Syrien errichtet und durch EU-Gelder zur Abschreckung von Flüchtlingen finanziert wurde, ist dasselbe wie das der schikanösen Verzögerungen oder des Zurückweisens bei der Erteilung von Grenzübertrittsberechtigungen durch die PDK (Demokratische Partei Kurdistans) in Südkurdistan: die Abschottung und Isolierung von Rojava.

Dennoch gab und gibt es Frauen, die Wege finden, mit AugenzeugInnen des Widerstands und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zusammenzukommen. Menschen in den Flüchtlingslagern berichteten ihnen von ihrem Leid des Verlusts von Angehörigen, FreundInnen und ihrer Heimat sowie von ihrer Wut auf die Mittäterschaft und Gleichgültigkeit der internationalen Politik. Vor allem aber sprechen sie vehement von ihrer Entschlossenheit, Efrîn nicht den Faschisten zu überlassen und in ein freies Efrîn zurückzukehren. Auch in den Flüchtlingslagern haben Frauen – wie zuvor in Efrîn – eine führende Rolle dabei gespielt, ihre Selbstverwaltung von Neuem aufzubauen. Dort haben sie Schulen und Krankenhäuser organisiert, so dass Kinder weiterhin eine Ausbildung erhalten und PatientInnen medizinisch behandelt werden können. Gleichzeitig geht der bewaffnete Widerstand in Efrîn weiter: Einheiten der »Kräfte zur Befreiung von Efrîn« führen täglich erfolgreiche Aktionen gegen die türkischen Besatzer und ihre dschihadistischen Verbündeten durch.

Frauendelegationen aus vielen Ländern kommen nach Rojava

Frauen aus Deutschland, Spanien, Frankreich und Italien waren im Oktober 2018 im Rahmen einer Delegation »Mütter für Frieden« nach Rojava gekommen, um mit Müttern aus Efrîn zusammenzutreffen und bleibende Netzwerke der Solidarität zu knüpfen. Sie berichteten: »Wir besuchten Frauenorganisationen, die uns einen Eindruck von dem tiefgreifenden Wandel vermitteln konnten, der in Hinblick auf Frauenbefreiung und Geschlechtergerechtigkeit in der Gesellschaft Nordsyriens im Gange ist. Wir hatten Gelegenheit soziale Zentren kennen zu lernen, die die Wunden lindern, welche der Krieg in den Menschen verursacht hat. Es ist bemerkenswert, welche Arbeit von einer ganzen Gesellschaft geleistet wird, die freiwillig diejenigen unterstützt, die es am meisten brauchen; trotz Abwesenheit internationaler Hilfe und trotz der durch das Embargo erzwungenen Knappheit – die Türkei hat ihre Grenzen geschlossen und die KRG (Regionalregierung Kurdistan) erlaubt den Verkehr von Gütern nur tröpfchenweise, genau wie das Regime von Beschar Assad.«

Auch in den letzten Monaten kamen trotz der aktuellen Kriegsdrohungen der Türkei InternationalistInnen aus verschiedenen Ländern nach Rojava. Darunter auch die feministische Delegation von »Gemeinsam Kämpfen«. Sie treffen auf dieselben mutigen und energievollen Mütter und Töchter, die zur Zeit des Efrîn-Krieges – trotz der schweren Angriffe – aus den Kantonen Cizîrê, Kobanê und Minbic (Manbidsch) mit Bussen nach Efrîn gefahren waren. Jetzt bereiten sie sich auf weitere mögliche Angriffskriege der türkischen Armee gegen ihre Kantone vor. Die Stimmung ist aktiv. Statt passiv zu warten und zu hoffen, dass es nicht passiert, sind sie in Bewegung: Als lebende Schutzschilde bewachen sie Tag und Nacht die Grenze und kritische Regionen, in denen es wiederholt Provokationen und Beschuss durch das türkische Militär gegeben hat. Sie organisieren den Schutz ihrer Dörfer und Nachbarschaften. Denn alle wissen, was es bedeutet, wenn die türkische Armee angreift: Die Bevölkerung von Rojava wird sich vor den Augen einer schweigenden Staatengemeinschaft selbst verteidigen müssen. Daran, dass sie dies auch tun werden, lassen die Frauen keinen Zweifel. So erklärten kurdische, arabische und assyrische Frauen bei einer Solidaritätsaktion für den Hungerstreik von Leyla Güven in Til Temir: »Wir haben diese Erde gemeinsam vom Islamischen Staat befreit und verteidigt. So viele Menschen sind in diesem gemeinsamen Kampf zur Verteidigung unserer Erde und unserer Freiheit gefallen. Wir werden nicht zulassen, dass unsere Städte und Dörfer jetzt durch das neue Osmanische Reich besetzt werden. Früher kannten wir einander nicht gut. Das Regime hatte Misstrauen unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen geschürt. Aber in diesem Kampf und beim Aufbau unserer Selbstverwaltungsstrukturen haben wir einander kennen und wertschätzen gelernt. Als Frauen sind wir zu einer Kraft geworden. Unsere Einheit kann niemand mehr zerstören.«

In Rojava ist der Widerstand zum Alltag geworden

Das sind kurze Einblicke, die, selbst erlebt, eine tief gehende Wirkung hinterlassen. Wenn wir von Menschen aus Europa gefragt werden, wie die Situation hier derzeit sei, merken wir immer wieder, dass sie erwarten, dass die Situation hier sehr angespannt ist. Diese Vorstellung entspricht nicht wirklich der Realität: Auch wenn sich alle auf einen möglichen Angriffskrieg der Türkei vorbereiten, so gehen der Alltag und der Aufbau des Neuen doch weiter. Denn in Rojava ist der Widerstand zum Alltag geworden, genauso wie es ein Akt des Widerstands geworden ist, den Alltag zu organisieren: Die Kinder und Jugendlichen gehen zur Schule oder Uni. Danach spielen sie in der Nachbarschaft, gehen in die Kunst- und Kulturzentren, zum Sport, in die Kommunen oder einfach zu ihren FreundInnen. Es wird gelernt, diskutiert, gearbeitet und geprobt; es wird gelebt und sich bewegt. Zugleich finden überall Kriegsvorbereitungen statt: Versammlungen, Bildung über Erste Hilfe und Selbstverteidigung, Arbeiten an den Verteidigungsstrukturen usw.

Dieser ungebrochene Wille zum Widerstand und für das Leben ist es, den alle Delegationen, die herkommen, im Kontakt mit der Bevölkerung erfahren. Weg und Ziel gehören zusammen, was bedeutet, dass die Menschen in dieser Phase noch bewusster werden, Verantwortung übernehmen und sich auf die Bedürfnisse ihrer Gesellschaft konzentrieren. Der Aufbau der Gesellschaft, der ohne Unterbrechung weitergeht, ist der Ausdruck der Tiefe und der Perspektive dieses Widerstandes.

»Die Verteidigung von Rojava ist die Verteidigung der Frauenrevolution!«

Die Türkei und die hegemonialen Großmächte versuchen immer wieder, diese Kraft zu brechen. Mit den ständigen Kriegsdrohungen und Ankündigungen von Besatzungsplänen versucht das Erdoğan-Regime, Angst und Panik zu schüren. Hierdurch wird beabsichtigt, die Menschen in die Flucht zu treiben und den Zusammenhalt der Gesellschaft zu erschüttern, den Willen und die Hoffnung zu brechen, zu isolieren und zu vereinzeln. Mit diesen Formen psychologischer Kriegsführung versuchen die Kriegstreiber, eine Existenzangst überhandnehmen zu lassen, in der jede und jeder nur noch an sich selbst denkt und versucht, das eigene Überleben zu sichern. Denn sie wissen, dass sie ihren Krieg nur gewinnen können, wenn sie die Gemeinschaft und den Zusammenhalt, die Solidarität und den Widerstandsgeist der Menschen hier brechen und besiegen können. Doch genau an diesem Punkt geht die Rechnung der Drohungen nicht auf: Die Menschen in Rojava machen weiter und auf jede neue Angriffsdrohung antworten sie mit neuen Formen des Widerstands, Kampagnen und Projekten. An allen Orten gehen die Arbeiten mit größter Intensität weiter. Bei Kongreya Star wird zu Demonstrationen und Hungerstreiks mobilisiert, an Solidaritätskampagnen wie »Women Rise Up For Afrin« gearbeitet. Die Einrichtung SARA startet neue Aufklärungskampagnen gegen sexistische Gewalt. In den Frauenzentren Mala Jin werden weiterhin Probleme in Familien oder der jeweiligen Nachbarschaft diskutiert und gelöst. Die Selbstverteidigungskräfte der Kommunen machen ihre Runden und Bildungsarbeiten in ihrem Stadtteil oder in ihren Dörfern. Alle organisieren sich, beteiligen sich an Aktionen und Demonstrationen. Hauptthemen der Diskussionen in den Familien, Kommunen und bei Versammlungen sind die Kriegsdrohungen, die Isolationsfolter gegen Abdullah Öcalan und der Hungerstreik von Leyla Güven. Es wird über verschiedene Szenarien und Gefahren diskutiert. Viele Emotionen sind dabei. Doch was bei den Diskussionen fehlt, ist das Gefühl der Hilflosigkeit. Stattdessen überwiegen Ärger und Unverständnis über die Staatengemeinschaft, die den türkischen Faschismus und seinen Besatzungskrieg so offensichtlich unterstützt, um daraus selbst einen Vorteil zu ziehen. Der Krieg ist da. Doch herrscht er nicht. Es fühlt sich nicht danach an, als ob morgen die Angriffe beginnen würden. Und das nicht, weil eine angstvolle Starre die Menschen ergriffen hätte oder die reale Kriegsdrohung ignoriert werden würde, sondern weil sich bewusst tagtäglich gegen diese Realität aktiv verteidigt wird.

Jede Drohung macht der Bevölkerung in Rojava bewusst, was sie in den vergangenen acht Jahren der Revolution erkämpft und aufgebaut haben. »Die Verteidigung von Rojava ist die Verteidigung der Frauenrevolution!« ist mehr als eine Parole. Frauen sind sich bewusst, dass sich die Kriegsdrohungen und Besatzungspläne gezielt gegen ihre Errungenschaften richten. Sie wissen, was sie verlieren können und was sich zu verteidigen lohnt: ein Leben in Würde und Selbstbestimmung.

Deshalb intensiviert Erdoğan seinen Krieg gegen die Frauenrevolution. Getreu der Leitlinie imperialistischer Aufstandsbekämpfungsstrategien heißt es: »Erschießt zuerst die Frauen« – ob in Efrîn, in Rojava oder anderen Teilen Kurdistans, im Mittleren Osten oder anderen Teilen der Welt. Wo immer sich das Patriarchat auf diesem Globus bedroht fühlt, wo immer kapitalistische Ausbeutungsinteressen durchkreuzt werden, werden die Angriffe und Feminizide brutaler. Die Mächtigen sind sich einig, dass sie diese Revolution zerschlagen wollen, deren Grundlagen Basisdemokratie, Frauenbefreiung und eine ökologisch bewusste Lebensweise sind. Die Vehemenz ihrer Angriffe zeigt, was für eine große Gefahr für sie neue Gedanken, Worte, alternative Lebensformen und Solidarität darstellen. Die Isolation gegen Abdullah Öcalan und die Abschottungsversuche gegen Rojava müssen wir auch in diesem Sinne verstehen. Es sind zwei Seiten derselben Medaille, d. h. Angriffe gegen die Fähigkeit, Träume, Liebe und Hoffnung, Perspektive und Verbundenheit zu schaffen.

Das Beispiel von Leyla Güven und allen anderen FreundInnen, die sich dem Hungerstreik mit den Zielsetzungen, die Isolation zu durchbrechen, den Faschismus zu zerschlagen und Kurdistan zu befreien, angeschlossen haben, ist deutlich und wegweisend: keine Verbitterung, sondern ein sanftes unbezwungenes Lächeln, das uns spüren lässt, dass dieser Kampf so stark ist, da er mit Liebe, dem Mut zur Hoffnung und Entschlossenheit geführt wird. Deshalb haben sich mit diesen Forderungen Menschen in vielen verschiedenen Ländern dem unbefristeten Hungerstreik von Leyla Güven angeschlossen. Weder Drohungen noch Gewalt oder Tod können die Frauen in Rojava davon abhalten, diesen Kampf für ihre Freiheit und Würde fortzusetzen und damit weltweit die Solidarität und den Freiheitskampf von Frauen zu stärken.


 Kurdistan Report 202 | März/April 2019