Frauenbefreiung, Selbstbestimmung und kommunales Leben als gelebte Alternativen gegen patriarchale Gewalt

Frauendorf Jinwar in Rojava wurde offiziell eröffnet

Nûjin, Rojava

Am 25. November 2018, dem Tag gegen Gewalt an Frauen, kamen hunderte Menschen zusammen, um den Abschluss der Bauarbeiten im Frauendorf Jinwar zu feiern. | Foto: JinwarAm 25. November 2018, dem Tag gegen Gewalt an Frauen, kamen hunderte Menschen zusammen, um den Abschluss der Bauarbeiten im Frauendorf Jinwar zu feiern. Genau zwei Jahre ist es her, dass der Bau des Dorfes zum ersten Mal an Ort und Stelle verkündet wurde. Damals hatten sich das Aufbaukomitee, viele Fraueninstitutionen, Nachbar*innen und andere Interessierte versammelt und symbolisch die ersten Bäume gepflanzt. Der 25. November wurde bewusst gewählt, denn der Bau von Jinwar ist selbst eine Antwort auf Gewalt an Frauen. Damit Frauen frei von patriarchalen Angriffen und Krieg leben können, braucht es Selbstverteidigung, aber genauso braucht es den Aufbau von Beziehungen, Orten und Strukturen, in denen Frauen sich frei begegnen und leben können. Frauenbefreiung, Selbstbestimmung und kommunales Leben als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung sind wohl die stärkste Waffe gegen patriarchale Gewalt.

Der 25. November ist ein sonniger Tag. Die Hitze und der Staub des Sommers sind verflogen, die Luft ist herbstlich frisch und klar, grünes Gras und kleine Pflänzchen sprießen aus der zuvor trockenen Erde. Eine neue Phase ist angebrochen in Jinwar. Emira, eine der ersten Frauen, die eingezogen ist, zerschneidet das Band am großen Eingangstor und heißt die Menschenmenge willkommen. »Wir öffnen diese Tür für alle Frauen und bedanken uns bei allen, die Jinwar ermöglicht haben«, erklärt sie. »Jin, Jiyan, Azadî« rufen hunderte Frauen mit leuchtenden Augen. Alle gehen zusammen zur Dorfmitte, wo die Frauen, die nun in diesem Dorf leben werden, erneut die Gäste begrüßen und sich vorstellen.

Fatma erzählt als Erste von ihrer Geschichte. Sie kommt aus Kobanê, ihr Mann ist nach der Befreiung der Stadt bei einem Anschlag durch den IS ums Leben gekommen. Nun lebt sie mit ihren sechs Töchtern hier in Jinwar. Berîtan und Medya aus Til Temir sind Schwestern. Auch ihre Eltern sind bei einem Angriff des IS ums Leben gekommen. Emira hat fünf Kinder, sie ist eine der ersten Frauen, die hier eingezogen ist, und kommt aus einem der umliegenden Dörfer. Ihr Mann ist vor einiger Zeit an einem Herzanfall gestorben. Zeynep ist aus Mexmûr hergekommen und hat ein Kind. Es gibt zwei Melkas im Dorf, eine ist Êzîdin und hat eine jugendliche Tochter, die andere kommt aus Deir ez-Zor. Bedra kommt aus Schaddadi und hat fünf Kinder. Alle acht Frauen danken den Frauen des Aufbaukomitees. Es ist ein sehr berührender Moment, in dem vielen die Tränen in die Augen steigen. Die Bewohnerinnen von Jinwar zeigen die ganze Vielfalt auf, unter ihnen sind Araberinnen, Kurdinnen und Êzîdinnen. Rûmet spricht im Namen des Aufbaukomitees. Sie erinnert daran, dass der 25. November der Tag des Widerstandes gegen Gewalt an Frauen ist. Jinwar sei ein Projekt der Philosophie von Abdullah Öcalan und mit dem Aufbau von Jinwar werde auch der Traum vieler gefallener Freundinnen Realität. Nachdem auch Evin Swed, Sprecherin von Kongreya Star, eine Rede gehalten und die Bedeutung des Frauendorfes für die Revolution der Frauen unterstrichen hat, machen sich alle auf den Weg zu einem Rundgang durch das Dorf, bei dem die Schule, die Akademie und das Gesundheitszentrum offiziell eröffnet werden.

Die Schule in Jinwar ist bereits geöffnet. Foto: Jinwar

Alle Gebäude im Dorf sind nun nutzbar. Die Kinder von Jinwar gehen bereits seit Wochen in die neu gebaute Schule. Sie besteht aus acht kleineren und größeren bunt angestrichenen Häusern in rundlichen Formen, von denen eines für den Rat der Kinder bestimmt ist. Für den Anfang kommen drei Lehrerinnen aus der nächstgelegenen Stadt, die fünf Tage die Woche Unterricht geben. Da alle Kinder die Möglichkeit haben sollen, Bildung in ihrer Muttersprache zu erhalten, findet aller Unterricht auf Kurdisch und Arabisch statt. Ältere Kinder und Jugendliche haben die Möglichkeit, in der nahegelegenen Stadt in eine weiterführende Schule zu gehen. Am Nachmittag helfen in diesen Tagen viele Mädchen und Jungen, aus wiederverwertetem Holz Regale, Betten und Tische für die Häuser zu bauen. Sie lernen die Werkzeuge zu benutzen und Möbel selbst zu bauen.

680 regale

Die Akademie mit kleiner Bücherei ist ebenso fertiggestellt. Dort kann sowohl theoretische als auch praktische Bildung Platz finden: von Diskussionen über das Leben im Dorf, Jineolojî und Frauengeschichte, über Sprachunterricht hin zu Seminaren über ökologische Landwirtschaft, Gesundheits- und Computerkursen. Lernen und sich Weiterbilden ist eine der Grundlagen von Jinwar. Jede Frau und jedes Kind kommt mit unterschiedlichen Erfahrungen, die nicht nur in der Schule oder der Akademie geteilt werden können.

Gemeinsames Leben und Arbeiten heißt auch, viel Wissen im alltäglichen Leben zu teilen. Jede kleine Situation, jede gemeinsame Arbeit, jedes Gespräch ist Bildung, wenn wir uns dessen bewusst sind.

Mit dem Beginn des Herbstes wurden die Felder und der Garten für die neue Saison vorbereitet. Weizen für Brot und Bulgur wurde gesäht, außerdem Lauchzwiebeln, Karotten, Spinat, Salat und verschiedene Kräuter für den Winter. Das Gesundheitszentrum ist ebenso vorbereitet und war im Oktober bereits für ein paar Tage geöffnet. Eine Gruppe Frauen aus der Schweiz war für einige Tage zu Besuch gekommen und hatte gynäkologische Untersuchungen für Frauen aus Jinwar und den umliegenden Dörfern angeboten. Auch der kleine Dorfladen hat geöffnet. Er wird kollektiv betrieben und alle Einnahmen fließen in die gemeinsame Ökonomie des Dorfes. In den nächsten Monaten soll noch der zentrale Platz in Jinwar verschönert werden. Wege sollen angelegt werden, Plätze zum Zusammensitzen ausgebaut werden und mehr Bäume gepflanzt und Gärten angelegt werden. Der Platz soll so gestaltet werden, wie ihn sich die Frauen und Kinder vorstellen.

Kürzlich kam auch der Dorfrat für sein monatliches Treffen in der neu fertiggestellten Akademie zusammen. Ein Thema der Versammlung waren die Vereinbarungen für das Leben in Jinwar, die zuvor schon diskutiert worden waren. Die Frauen haben über verschiedene Themen des Zusammenlebens gesprochen und Grundlagen vereinbart. Jede Frau hat außerdem Verantwortung für ein spezielles Feld der Arbeiten für den nächsten Monat übernommen – sei es, sich um die Schafe zu kümmern, den Dorfladen zu betreiben, die gemeinsame Küche zu führen, das Konzept für die Akademie auszuarbeiten, Brot zu backen oder sich um den Anbau im Garten zu kümmern.

Brot backen in Jinwar. Foto: Jinwar

Es ist eine wichtige Zeit im Dorf, in der die Organisierung des Lebens und Arbeitens neue Formen findet. Jinwar lebt auf der Grundlage der Geschichte und der Kraft, die wir als Frauen teilen. Das Dorf ist verbunden mit all den Kämpfen, die für eine freie Gesellschaft geführt wurden und geführt werden. Für ein freies Leben, für eine freie Gesellschaft, gegen patriarchale Gewalt.


 Kurdistan Report 201 | Januar/Februar 2019