Internationalistische Praxis ist eine gesellschaftliche

Verantwortung für ein widerständiges und emanzipatorisches Erbe

Sophia Angeli

Ein internationalistisches Grundverständnis bildet die Basis all unserer Kämpfe, schließlich liegt im Kern des Internationalismus selbst das Bewusstsein, dass die Unterdrückung anderer im System der kapitalistischen Moderne stets auch die eigene bedeutet. Auch wenn diese unterschiedliche Formen und Ausdrücke annimmt, ist es essentiell, die Verbindungen zu erkennen und so den Rahmen für die gemeinsamen Kämpfe für die Menschlichkeit zu setzen. Wenn wir uns die Erfahrungen bisheriger Revolutionen und Befreiungskämpfe ansehen, erkennen wir, dass der Kampf für Freiheit praktisch immer internationalistisch war.

Berlin: Demonstration 1.12.2018

Eine Praxis, internationalistisch ausgerichtet, geht dementsprechend über reine Solidaritätsarbeit hinaus, auch wenn diese natürlich einen wichtigen Pfeiler der zeitgemäßen politischen Arbeit bildet. Die umfassende Ideologie der kurdischen Freiheitsbewegung birgt viele Aspekte, die aus einer sorgfältigen Analyse des global dominierenden Systems stammen.

Die tief gehende Befassung mit diesen Inhalten, insbesondere mit den Gedanken und Schriften Abdullah Öcalans, stellt in dieser Hinsicht einen wichtigen Pfeiler internationalistischer Praxis dar. Wir müssen uns stärker damit auseinandersetzen, diskutieren, reflektieren. Dieser Prozess schließt dementsprechend auch ein, das lokale Erbe der Geschichte des Widerstandes zu beleuchten, zu verstehen und aus den Fehlern, wie auch aus den Errungenschaften, zu lernen. Wenn wir von Erbe sprechen, schließt das auch die Suche nach Spuren ein, die von einer Gesellschaftlichkeit zeugen, wie sie vielleicht einmal bestanden hatte oder in Teilen auch immer noch besteht. Gleichzeitig müssen wir Wege finden, uns auch verständlich zu machen. Das bekannte Repertoire unserer Aktionen muss kreativer werden und die Möglichkeit zur Beteiligung erhöhen. Das schließt auch ein, dass wir stärker die Auseinandersetzung mit den Menschen um uns herum suchen, denen wir abseits unserer eigenen politischen Kreise begegnen. Eine Auseinandersetzung sollte hierbei jedoch nicht nur reine Konfrontation und Propaganda bedeuten. Neugier und Wissbegier sind Teil der Suche nach Wahrheit. Stellen wir den Menschen um uns herum mehr Fragen – zum einen, um zu verstehen, um unsere Erfahrungen auszutauschen und Gemeinsamkeiten festzustellen. Zum anderen, um auch dem Gegenüber die Möglichkeit zu geben, scheinbar feststehende Anschauungen zu hinterfragen.

In den Städten und Metropolen Europas gibt es viele Anknüpfungspunkte, die sich für eine internationalistische Ausrichtung der Praxis eignen. Die Fragmentierung der Gesellschaft ist hier deutlich spürbar. Die Vereinnahmung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche durch das kapitalistische System, damit einhergehend Vereinzelung und Konkurrenz unter den Individuen führen dazu, dass zwar die Mehrheit der Bevölkerung unter den gleichen Erfahrungen leidet, diese allerdings als individuell oder vereinzelt wahrnimmt. Eine emanzipatorische Antwort darauf kann es sein, solidarische Beziehungen und Verbindungen zu knüpfen, denen es gelingt, Spaltungen zu überbrücken und Verbindungen zu schaffen. Dabei geht es um Gemeinschaftlichkeit auf Augenhöhe, also auf gegenseitigem Respekt basierend, auf dem gemeinsamen Verständnis, dass es eine Alternative zur kapitalistischen Moderne gibt. Die Frage der solidarischen Beziehungen zueinander ist per se international. Insbesondere die Kämpfe gegen Sexismus und gegen die ökologische Katastrophe, gegen zwei der Grundpfeiler der kapitalistischen Moderne, verdeutlichen dies.

Die Frage der Verbindung drängt uns die Notwendigkeit der Organisierung auf. Von der Bewegung können wir lernen, dass wir Strukturen brauchen, die auf unseren Gemeinsamkeiten aufbauen und die all jene einbinden, die prinzipiell das gleiche Ziel verfolgen. Wir brauchen Strukturen, die die Diversität all jener widerspiegelt, die sich ein anderes Leben wünschen. Wir müssen Wege finden, auch die so fragmentierte Gesellschaft in Europa zu organisieren. Dabei muss uns bewusst sein, dass Unterschiede in den verschiedenen Kontexten bestehen. Keine Methode, keine Theorie lässt sich ohne genaue Analyse der lokalen Partikularitäten geradewegs überstülpen; das wäre das Gegenteil von demokratisch. Diese Prozesse der Auseinandersetzung müssen von den Menschen vor Ort kommen und verlangen eine gemeinsame Bildung. Unsere Blicke müssen sich schärfen und sorgfältiger aufnehmen, was es auch schon bereits an Organisierung gibt, die kommunalistische, demokratische Werte vertritt. Feministische Gruppen, ökologische Bewegungen, nachbarschaftliche Vereine, migrantische Organisationen, Formen alternativen Wirtschaftens, antirassistische und antifaschistische Gruppierungen, Gewerkschaften, Kreative, Friedensinitiativen ... diese Aufzählung bleibt unvollständig, es eint jedoch der Wille zu Selbstbestimmung und Menschlichkeit. Die Mehrheit der Bevölkerung ließe sich auch in Europa in lokalen Komitees und Kommissionen der Demokratisierung vertreten. Das Verständnis muss hergestellt werden, dass unsere Bedürfnisse und Ziele dieselben, dass sie soziale und nicht vom System, insbesondere vom Staat abhängig sind. Dieser Prozess mag dauern, erfordert Geduld, Einfühlungsvermögen, aber auch Willen und Überzeugung. Unsere Hoffnung und unsere Kraft ziehen wir aus dem widerständigen und revolutionären Erbe, aus emanzipatorischen und kämpferischen Gesellschaften weltweit, aus dem Bestehen demokratischer Alternativen und dem Bewusstsein, dass ein freies Leben für alle nur mit der Überwindung des Systems möglich sein wird. Ein reiches Erbe ist das, in dessen Verantwortung wir stehen. Verbindungen aufzeigen, die hegemonialen Narrative des Staates aufbrechen und den Wegen all jener folgen, die für den Kampf um Freiheit ihr Leben ließen.

Neben dem Aufbau der Strukturen in den jeweiligen Städten und Dörfern, den gemeinsamen Bildungsprozessen bedarf es zweifelsfrei auch der nationalen und transnationalen Organisierung. Zudem müssen wir weiter und intensiver daran arbeiten, die Inhalte der kurdischen Freiheitsbewegung und die Bedeutung der Revolution in Rojava weiter zu verbreiten. Das Gesellschaftssystem dort ist eine ernsthafte Alternative und Reaktion auf den zerstörerischen Komplex aus Nationalstaat und Kapitalismus. Breiter gesellschaftlicher Druck wird nötig sein, die Revolution von allen Teilen der Welt aus zu verteidigen, dafür ist eine internationalistische Wahrnehmung der Kämpfe unerlässlich. Dementsprechend gilt es weiterhin, zum einen die internationale Beteiligung der herrschenden Mächte an den Angriffen auf alle Teile Kurdistans aufzuzeigen, zum anderen direkt den türkischen Staat anzugehen.


 Kurdistan Report 201 | Januar/Februar 2019