Die Rettung der Autonomen Region Kurdistan vor dem Kolonialismus

Die Abhängigkeit überwinden ...

Devriş Çimen, Journalist, Hewlêr

Ununterbrochen passieren täglich Hunderte LKWs die türkisch-irakische Grenze Richtung Zaxo, Duhok, Hewlêr/Erbil oder Silêmanî/Sulaimaniyya. Einige lassen auch die kurdischen Städte hinter sich und fahren bis in den Zentralirak. Die LKWs transportieren Güter über die türkische Grenze, die auf dem türkischen Markt nicht mehr verwertbar sind, deren Qualität äußerst gering ist oder deren Verfallsdatum kurz bevorsteht. Fast alle haben türkische Kennzeichen und tragen türkische Namen: Malkoçoğlu, Fatih, Türkler, Sarıboğalar, Turhan, Tunahan, Yunus Emre, Akbağ, Akan, Arıhan, Akhan, Pilot, Öz Sezer, Babur, Edinoğlu, Reyhan, Öz Konaklı, Filomlu, Sayılır, Trans Aktaş, Seray, Nuhoğlu, Misnak ...

Wer diese Straßen passiert, wird sie gesehen haben: An vielen Stellen entlang der Route, die von den türkischen LKWs in der Autonomen Region Kurdistan befahren wird, stehen riesige Werbetafeln mit der Aufschrift »Taha Group – Wir bringen die Welt in den Irak«.

Die Taha Group mit ihrem Firmensitz in Istanbul setzt sich aus Unternehmen wie der Taha Holding, Taha Tekstil, Taha Diş Giyim, Talu Tekstil, Yavuz Tekstil, Fetih Tekstil, Fatih Tekstil, Fatih Emprime und Özen Mensucat zusammen. Auf ihrer Internetseite beschreibt sie sich als Firma, die »von der Herstellung bis zur Logistik Dienstleistungen im Bereich der Textilproduktion« anbietet. Sie bringt also nicht, wie ihre Werbung vermuten lässt, die gesamte Welt, sehr wohl aber türkische Waren in den Irak und die Autonome Region Kurdistan. Es lohnt sich, die Gründe und Ergebnisse dieser Eroberung des irakischen Marktes durch Tausende türkische Firmen näher zu betrachten.

Der Beginn der Ausbeutung des Mittleren Ostens durch das Modell der Nationalstaaten

Der Beginn der Ausbeutung des Mittleren Ostens durch das Modell der NationalstaatenDie Menschen aus der Region des Mittleren Ostens leisteten im Rahmen ihrer langen Geschichte gemeinsamer kultureller Werte wichtige Beiträge zur historischen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung der Welt. Doch heute scheinen viele Menschen den Mittleren Osten, den Irak oder Kurdi-stan zu betrachten, als habe es derlei Entwicklungen nie gegeben. In diesem Zusammenhang wird es als eine Art Schicksal hingenommen, dass die Schätze der Region auf und unter der Erde heute ausgeplündert und ausgebeutet werden.

Für diese Situation haben zwei wichtige Entwicklungen gesorgt. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches wurde der Mittlere Osten durch die Schaffung zahlreicher Nationalstaaten neu geordnet. Die hegemonialen Kräfte der kapitalistischen Moderne, also die westlichen Länder, waren bestrebt, ihre eigenen Interessen und Profite in diesem Rahmen durchzusetzen. In der Region wurde den neu entstandenen Nationalstaaten die Funktion kleiner Polizei- und Militärposten zugesprochen, mit deren Hilfe die Plünderung und Ausbeutung der Region gewährleistet werden sollte. Die Regime, die innerhalb dieser künstlichen Grenzen eingerichtet wurden, zwangen nun die verschiedenen Völker, Glaubensgemeinschaften und kulturellen Gruppen zur Assimilation und Kollaboration. Die hegemonialen Kräfte der kapitalistischen Moderne nutzten die künstlichen Nationalstaaten im Mittleren Osten, um während des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer Teile-und-Herrsche-Politik die eigenen Interessen in der Region durchzusetzen.

Teilen, beherrschen, Konflikte schaffen, Ressourcen beschlagnahmen ...

Die im 20. Jahrhundert geprägte Ordnung der Region erfüllt heute nicht mehr ihre damalige Funktion. Im 21. Jahrhundert wird versucht, die vielen verschiedenen Gruppen innerhalb der Nationalstaaten in Konflikte miteinander zu verwickeln, um sie zu einem Werkzeug des Ausbeutungssystems zu machen. Dabei muss betont werden, dass die Verantwortung für das Chaos und die Zerstörung im Mittleren Osten nicht ausschließlich bei den westlichen Mächten liegt, deren Einfluss auf die derzeitigen Entwicklungen jedoch nicht unerheblich ist. Die alte Teile-und-Herrsche-Politik wird heute durch eine Politik der Vertreibung und der Abhängigkeit erweitert.

Dieses System gewann in der Vergangenheit durch die Zusammenarbeit mit despotischen Regimen in der Region Legitimität. Man setzte sich selbst eine Maske der Demokratie, Menschenrechte etc. auf, mit der man als Verteidiger und Beschützer universeller Werte die Sympathien gewann – insbesondere in Abgrenzung zur Gewalt und undemokratischen Politik der Regimes ihrer eigenen Bevölkerung gegenüber. Daraus ergab sich ein Spiel, in dem der Henker beschuldigt wurde, anstatt den Finger auf die Verursacher des Spiels, die Entscheider und die Verhänger der Todesurteile zu richten.

Die Zerschlagung des Iraks durch Krieg und Zerstörung

Werfen wir einmal einen detaillierten Blick auf die Entwicklungen im Irak, da sie unmittelbar die Situation in der Autonomen Region Kurdistan betreffen. Die USA nahmen Anfang der 1990er Jahre die irakische Besatzung Kuwaits als Vorwand, um den bis dahin Verbündeten Saddam Hussein fallen zu lassen, dem irakischen Regime den Krieg zu erklären und Zehntausende Menschen zu töten. Im Rahmen dieses Krieges wurde durch die Zerstörung des Trinkwassersystems, der Kanalisationssysteme und der Staudämme das Fundament des irakischen Staates zu einem Großteil zerstört. Zusätzlich wurden zahlreiche Sanktionen gegen den Irak verhängt. 1996 wurde die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright in einer Fernsehsendung gefragt, was sie angesichts der durch die Sanktionen gestorbenen 500.000 irakischen Kinder empfinde. Albright antwortete, die Sanktionen stellten »eine harte und folgenreiche Option« dar, würden es aber »in Anbetracht der Gesamtlage durchaus wert« sein. Eine Ministerin, die ein Massaker derart kaltblütig verteidigte, musste nie Konsequenzen für ihr Handeln fürchten. Der »Wert« dieser Maßnahmen bestand sicherlich nicht nur in der Entmachtung des Saddam-Regimes, sondern in der Plünderung der Reichtümer des Iraks.

Albright sprach damals einerseits der Weltöffentlichkeit gegenüber von der Demokratisierung des Iraks, der insbesondere von der amerikanischen Waffen- und Ölindustrie zu einer Quelle des Profits erklärt wurde. Andererseits verfolgte sie eine Außenpolitik, durch die die Plünderung und Besatzung des Iraks legitimiert werden sollte. Der weitere Verlauf ist bekannt: Unter Führung der USA nahm sich ein internationales Bündnis von Firmen und Kartellen, insbesondere Großbritannien, den Irak als Ziel, woraufhin dieser im Jahr 2003 besetzt wurde. Auch die begrenzten Freiheiten, welche die Autonome Region Kurdistan durch den Krieg gegen den Irak hinzugewann, können nicht verschleiern, dass es sich um eine Besatzung des Iraks handelte. Länder, die sich gegen diese Besatzung wandten, wurden mit einem »Schweigegeld« ruhiggestellt. An der Spitze der Empfänger eines derartigen Schweigegeldes stehen Deutschland, Frankreich, die Türkei und weitere Staaten.

Sinan Antoon: »Die USA haben vor 15 Jahren mein Land von der Landkarte gestrichen«

Am 29. März, dem Jahrestag der amerikanischen Besetzung des Iraks, erschien in der New York Times ein Artikel des irakischen Autors Sinan Antoon mit der Überschrift »Die USA haben vor 15 Jahren mein Land von der Landkarte gestrichen«. Der Artikel liest sich wie eine Art Klagelied. Antoon führt die Folgen der amerikanische Besatzung auf und spricht davon, dass die Besatzung weit schlimmer als die Zeit unter Saddam sei: »Nach 15 Jahren Besatzung weiß niemand, wie viele Iraker gestorben sind. Einige vertrauenswürdige Quellen sprechen von einer Million Toten. Lesen Sie diesen Satz gerne noch einmal. In den USA wird im Zusammenhang mit der Besatzung des Iraks von einem ›Irrtum‹ oder ›einem großen Fehler‹ gesprochen. Es war ein Verbrechen. Die Verantwortlichen sind noch immer frei. Die Befürworter und ›Experten‹, die uns dem Krieg aussetzten, setzen ihre Taten bis heute fort. Ich hätte nie geglaubt, dass es schlimmer als zu Zeiten Saddams hätte kommen können, aber genau das ist es, was die USA mit dem Krieg erreicht und den Irakern hinterlassen haben.«

Die Aufteilung des Iraks durch seine Zerschlagung

An dieser Stelle sei nur kurz erwähnt, dass Gruppen wie der Islamische Staat (IS), al-Nusra etc. ein Resultat dieser Besatzung sind. Nach der Besatzung des Iraks wurden Handel, Produktion, Industrie, Viehzucht, die Kanalisation in den Städten, Märkte und der öffentliche Raum zerstört. Das Gebiet mit seinen Menschen, das wir den Irak nennen, wurde zu einer Profitarena für die USA und zahlreiche weitere Länder. Im Irak, der von einem Rachefeldzug der Schiiten an den Sunniten geprägt war, gewann die Autonome Region Kurdistan einen offiziellen Status und wurde zu einem profitablen Gebiet inmitten der blinden Gewalt.

Das Saddam-Regime war zwar zerschlagen worden, aber Pläne für die Zeit danach gab es keine. Das nationalstaatliche Modell, das eigentlich auf globaler und regionaler Ebene ersetzt werden müsste, wurde in der Autonomen Region Kurdistan in Form einer schlechten Kopie übernommen. Im Rahmen der Politik des »Schweigegeldes«, die wir zuvor schon erwähnt haben, wurde ein System aufgebaut, in dem die beiden früher verfeindeten Parteien YNK und PDK sich die Macht teilen sollten. Als Folge dieser Entwicklungen sicherte sich der Iran in den Gebieten der YNK seinen Einfluss, während die Türkei das Gleiche in den Gebieten der PDK tat. Die Einflussbereiche waren derart offen zugänglich, dass diese beiden Regionen, die zusammen die Autonome Region Kurdistan ergaben, in eine Kolonie verwandelt wurden.

Besetzung des Geistes in der Autonomen Region Kurdistan

Seit der Zerschlagung des Saddam-Regimes sind 15 Jahre vergangen. Seither wurden Städte wie Hewlêr, Duhok oder Silêmanî mit Waren überschwemmt: vom Bausektor bis zu Elektrowaren, Textilware, Obst und Gemüse und Waren, die aufgrund ihrer schlechten Qualität eigentlich nicht vermarktbar sind. Sie stammen hauptsächlich aus der Türkei und dem Iran. Während genaue Zahlen zu den iranischen Waren fehlen, wissen wir von mindestens 1.500 türkischen Firmen, die in Südkurdistan aktiv sind. Neben der ökonomischen Dimension der Besatzung wird auch eine kulturelle Besatzungspolitik verfolgt. Auf den Sendern, die der PDK nahestehen, laufen schlecht synchronisierte Serien ohne jeglichen künstlerischen und inhaltlichen Anspruch wie »Arka Sokaklar«, »Güllerin Savaşı«, »Kurtlar Vadisi«, »Kara Gül«, »Lale Devri«, »Akasya Durağı« und viele weitere. Auf Sendern wie K24 und Rudaw werden die Reden Erdoğans live übertragen. So findet eine Art Besatzung des Geistes statt.

Neben der Abhängigkeit der PDK von der Türkei wird damit auch die Besetzung des Intellekts der Bevölkerung beabsichtigt. Sie soll in eine Situation gebracht werden, in der sie die Vorgaben Erdoğans und der Türkei schweigend hinnimmt, die in etwa so klingen: »Bleib da, wo du bist. Verdiene dein Geld, du hast ja Öl. Bleib ruhig. Ihr wollt einen unabhängigen Staat? Ihr habt eine 350 Kilometer lange Grenze mit uns! Habt ihr eure Pläne mit uns oder dem Iran besprochen?« Mit diesen Worten richtete sich Erdoğan am 28. September 2017 und damit nur drei Tage nach dem Referendum an Mesûd Barzanî. Kein Politiker wies diese Worte zurück. Doch der Faschist Erdoğan, der alle Kurdinnen und Kurden zu Feinden erklärt, ist nicht demokratischer als der Diktator Saddam Hussein es war. Auch wenn die beiden sich in ihrer Art unterscheiden mögen und auch die Zeit heute eine andere ist, bestehen keine Unterschiede in ihrem Ziel, die Kurdinnen und Kurden zu verleugnen und auszulöschen.

Kulturelle Auflösung und gesellschaftliches Chaos

Trotz ihrer zahlreichen Möglichkeiten und Ressourcen ist die Gesellschaft Südkurdistans heute aufgrund ihrer Ausbeutung und der Entkoppelung von ihrer Identität und ihrem Zusammenhalt mehr denn je sich selbst entfremdet. Noch nie waren Hoffnungslosigkeit und Vereinzelung, Amtsmissbrauch und Autokratismus, undemokratische Praktiken und die Schwäche im Bereich der Bildung und öffentlichen Dienstleistungen derart ausgeprägt wie heute. In dieser ausgesprochen fruchtbaren Region wurden die Menschen der Produktion und Lebensfreude entfremdet, sodass sie heute in Alltagssorgen ertrinken und sich Lösungen von den vor Problemen strotzenden politischen Instanzen versprechen. Die Krise wird vertieft, indem die Regierung der Ausbeutung durch den türkischen und den iranischen Staat Tür und Tor öffnet. Sie schafft es nicht, eine kommunale Wirtschaft aufzubauen, die eigenen Produktionskapazitäten zu entwickeln, die eigenen Waren auf den Markt zu bringen und zu angemessenen Preisen zu verkaufen. Diese Entwicklungen leiten somit eine Phase der kulturellen Auflösung und des gesellschaftlichen Chaos ein. Wenn die Menschen sich dieses Umstandes bewusst werden, werden sie versuchen, dies zu verhindern. Geschieht dies nicht, wird diese Entwicklung tödliche Folgen haben.

All diesen negativen Entwicklungen Einhalt zu gebieten wäre daher Ausdruck eines eigenen Willens. Der politische Widerstand gegen die Kolonialisierung ist ein zentraler Teil davon. Doch die derzeitigen regionalen und internationalen Beziehungen machen es der Regierung der Autonomen Region Kurdistan unmöglich, eine entsprechende Politik zu verfolgen. Durch die Verbindung der außenpolitischen Beziehungen mit dem innenpolitischen Chaos und der Unzufriedenheit entsteht eine Situation der Instabilität.

Die Autonome Region Kurdistan davor retten, zu einem Hinterland der Türkei zu werden

Die Autonome Region Kurdistan davor retten, zu einem Hinterland der Türkei zu werdenDie Türkei betrachtet Kurdistan als ihr eigenes Hinterland und hat die Autonome Region mittlerweile politisch, militärisch, wirtschaftlich und ökonomisch besetzt. Sie versucht durch vielfältige Angriffe auf den Teil Kurdistans, der einen offiziellen Status erhalten hat, diejenigen kurdischen politischen Kräfte in ihrer Existenz und Organisierung zu behindern, die den türkischen Interessen zuwiderhandeln. Dieser Politik den Boden zu bereiten entspricht keiner an Kurdistan interessierten Politik oder Haltung, sondern unterstützt die Ausbreitung des Chaos in der Region und insbesondere im Irak auf Kurdistan. Das Schweigen angesichts der türkischen Angriffe aus der Luft und am Boden auf Südkurdistan ist Ausdruck einer Politik der Kollaboration und der politischen Abhängigkeit. Für eine detailliertere Betrachtung der Situation ist die Erklärung der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) vom 10. April 2018 sehr aufschlussreich. Die KCK kritisiert darin die Existenz türkischer Militärstützpunkte in Südkurdistan: »In Südkurdistan befinden sich mehr als 15 türkische Militärbasen. Sie wurden nicht nur für den Kampf gegen die kurdische Freiheitsbewegung gebaut, sondern sie dienen vielmehr der Kontrolle über Südkurdistan, der Verhinderung einer kurdischen Einheit, dem Druck auf die südkurdischen Kräfte und der Entfachung innerkurdischer Konflikte. Derzeit weitet der türkische Staat seine Besatzung in Südkurdistan aus und erweitert in diesem Zuge auch seine Militärbasen.«

Einen Tag nach dem »Unabhängigkeitsreferendum« in Südkurdistan am 25. September 2017 richtete sich Erdoğan in einer abfälligen Ansprache an den damaligen Präsidenten Mesûd Barzanî: »Wenn wir jetzt unsere Sanktionen in Kraft setzen, wirst Du sowieso das Nachsehen haben. Wenn wir den Hahn zudrehen, ist Schluss. Alle Einkünfte kommen zum Erliegen. Sobald die LKWs nicht mehr in den Nordirak fahren, werden Sie dort nichts mehr zu essen und auch keine Kleidung finden. So wird Ihre Situation bald aussehen.« Die LKWs und ihre Waren aus der Türkei, die wir zu Beginn erwähnten, stellen sich also als gar nicht so unschuldig dar. Sich gegen diese Aggressionen zu stellen wird dazu führen, die Abhängigkeit zu überwinden und mit einer unabhängigen Haltung den Weg für ein freies Leben in Kurdistan zu ebnen.

Und solange die Regierung nichts unternimmt, um die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen, werden die kurdischen Obst- und Gemüsehändler auch in diesem Sommer dazu gezwungen sein, ihre frische Ware am Straßenrand zum Kauf anzubieten.


 Kurdistan Report 197 | Mai/Juni 2018