Von der spanischen Rechtsprechung mitverurteilte Angehörige

Die Kinder mit dem Rucksack

Isa Marin Arrizabalaga, April 2018

Die Kinder mit dem RucksackEin Bild, das uns wahrscheinlich die alltäglichen Bilder von all diesen Kindern auf dem Weg zur Schule, zum Sport, in die Schwimmhalle oder auf einem Ausflug in Erinnerung bringt.

Die Kinder mit dem Rucksack oder auf Baskisch »Motxiladun umeak«1 sind im Baskenland seit spätestens Anfang dieses Jahres ein Begriff. Es ist der Name eines Dokumentarfilms, der sich mit der Realität der 113 Kinder beschäftigt, die allmonatlich auf dem Weg zu den Gefängnissen sind.

113 Kinder, deren Vater oder Mutter oder auch beide Elternteile in Folge des politischen Konflikts im Baskenland in spanischen oder französischen Gefängnissen eingesperrt sind.

Der Film hatte nicht den Anspruch, alle Aspekte dieser Realität in Bild oder Wort zu fassen. Es wäre sicherlich nicht möglich gewesen, das Leben dieser Kinder darzustellen, noch schwieriger, ihre Gedanken und ihr Wissen zum Geschehen widerzuspiegeln.

Der Film zeigt aber deutlich die Realität dieser Kinder, wenn sie, um ihre Eltern sehen zu wollen, um die 700, 800, 1000 Kilometer fahren müssen (und dasselbe zurück).

Heutzutage (nach Daten von Januar 2018) sind 211 der baskischen politischen Gefangenen in Gefängnissen in einer Entfernung von 700 bis 1000 Kilometern inhaftiert, 103 Gefangene in einer Entfernung von 400 bis 690 Kilometern, bei 54 Gefangenen sind es zwischen 100 und 390 Kilometer. Eine »alte« Forderung lautet heute noch »Näherbringen der Gefangenen«, was bedeutet, sie in näher liegende Gefängnisse zu verlegen – letztlich spanischer Gesetzgebung folgend.

Diese pragmatische und minimale Forderung sollte inzwischen Jahre, nachdem der bewaffnete Konflikt beendet wurde – und jetzt am 08.04. genau ein Jahr, nachdem die bewaffnete politische Organisation ETA (Baskenland und Freiheit) im französischem Baskenland in einem symbolischen Akt ihre Bereitschaft zeigte, die Waffen abzugeben –, nur ein Punkt in einem Lösungsprogramm sein. Die Lösungsansätze bleiben aber weiterhin einseitig – und finden verstärkten Ausdruck in der Gesellschaft, die Initiativen für Wege zur Versöhnung eingeleitet hat.

Und mit dabei sind die Kinder. Kinder, die Gari, Hize, Aiur, Malen, Adur, Haizea heißen – um nur einige zu nennen –, einige, die in dem vom baskischen Fernsehen produzierten und im Januar 2018 gezeigten Dokumentarfilm zu sehen und zu hören sind. Der Rucksack aus dem Filmtitel ist dieser Gegenstand, der die Kinder auf der langen Reise begleitet. In den sie ihr Essen, Musik und Hausaufgaben aus der Schule packen, um sich während der langen Stunden der Busfahrt, im Auto oder teils auch im Flugzeug zu beschäftigen.

Der Film zeigt zu Beginn Gari, acht Jahre alt, der zurzeit mit seinen Großeltern lebt; geboren wurde er im Gefängnis, wo er drei Jahre lang blieb. Mutter und Vater sind weiterhin inhaftiert. Und wie er uns erzählt, wurden sie immer weiter weg verlegt.

Zwei andere kleine Kinder – Hize und Aiur –, die mit der Mutter leben, berichten von den Telefonaten mit dem Papa, zwei Mal die Woche, je fünf Minuten. Immer zu knapp, um gerade das zu erzählen, was heute im Leben der Kinder sehr wichtig ist. Dafür verabredet sich Hize (sieben Jahre alt) aber mit ihrem Vater, um sich gemeinsam (gleichzeitig) den Mond anzuschauen.

Amaiur – in der Pubertät – berichtet von einem Gefühl, zwei Leben zu leben. Das, was sie mit Freunden teilt, und das, was sie nur mit ihrem Vater teilt.

Haizea hat in der Schule unter dieser Trennung gelitten; andere Kinder konnten von ihren Eltern erzählen, sie aber nicht. Das war der Grund, warum eine ihrer Lehrerinnen beschloss, mit ihr ins Gefängnis zu fahren und so jeweils mit Vater und Mutter zu sprechen, von dem Kind zu berichten, eben so, wie sie es mit anderen Eltern auch macht. Seitdem kann Haizea in der Schule offener darüber reden und die Lehrerin fährt einmal im Jahr mit ihr mit.

Ein Lied der baskischen Gruppe KEN 7 mit dem Titel »Malen« hat schon vor Jahren von diesen Realitäten erzählt. Alles konzentriert auf vierzig Minuten, die diese Kinder einmal im Monat, wie im Fall von Malen seit ihrer Geburt, mit dem Vater haben. Malen ist achtzehn. Ihr Vater sitzt seit zwanzig Jahren in unterschiedlichen Gefängnissen.

Lange Fahrten, vierzig Minuten. Teils mit einem Elternteil, teils hinter dickem Glas – das dir aber nicht dein Lächeln nimmt, wie das Lied besingt –, und dann aber die gewünschte Zeit, um zusammen zu sein. Um wieder Tschüss sagen zu müssen. Durch neun Türen, um hineinzukommen, wie eines der Mädchen genau abgezählt hat.

Und im Fall von Gari, als Beispiel, nach über fünfzehn Stunden Busfahrt, und dann direkt die Fahrt zurück.

Alle Kinder beschreiben das Gefängnis als dunkel, alt, dreckig, kalt. Insbesondere, wenn der Vater all die Jahre in der Isolation sitzt, wie eine der jungen Frauen erzählt.

Die Eltern – so berichten fast alle Kinder – erzählen ihnen aber nicht, wie es drinnen in ihren »Zimmern« aussieht. Die Besuchszeit ist immer zu knapp, um über das Leben im Gefängnis zu sprechen. Die Kinder bringen ihren Eltern Stückchen ihrer Realität draußen mit, auch in Form von Zeichnungen.

Ein emotionsreicher Film von Ane Rotaetxe und Fermin Etxegoien, der in der Gesellschaft – den Zuschauerzahlen zufolge – mit Interesse aufgenommen wurde und gleichzeitig mit Vorwürfen – seitens großer Medien wie der spanischen Zeitung »El Pais« –, er sei propagandistisch und »nicht zufällig« Anfang Januar gezeigt worden, eine Woche vor der jährlichen Großdemonstration in Bilbao zur Unterstützung der Gefangenen und ihrer Angehörigen.

Angehörige, die, wie eines der Mädchen sagt, mitbestraft werden infolge der spanischen Knastpolitik. Mitbestraft durch lange Fahrten, durch das Risiko von Autounfällen (sechzehn Angehörige haben schon ihr Leben auf den Straßen gelassen, als sie ihre Liebsten besuchen wollten) und – auch zu erwähnen – durch hohe Geldausgaben.

240 sind die Eingesperrten immer noch, 239, während ich diesen Artikel beende – nach dreizehn Jahren wurde eine politische Aktivistin aus dem Gefängnis entlassen. Einige der Gefangenen sind sehr krank – und ohne Zugang zu einer gerechten und würdigen medizinischen Versorgung.

Das Jahr 2018 hat schon Trauer getragen, nach dem Tod eines jungen Gefangenen in seiner Zelle.

2018 hat der französische Staat den Willen zur Verlegung der 59 baskischen Gefangenen in die Gefängnisse im baskischen Gebiet bekundet.

Aus dem Gefangenenkollektiv EPK gab es vor vier Jahren ausdrückliche Zeichen einer kollektiven Reflexion: »... wir übernehmen die Verantwortung für die Konsequenzen unserer Taten und zeigen unseren Willen, die Verantwortung jedes und jeder Einzelnen, innerhalb eines festgelegten Rahmens mit genügend Bedingungen und Garantien, zu analysieren.«
Die Kinder aus dem Film sagen heute noch, sie werden ihre Eltern nicht alleinlassen, Monat für Monat werden sie hinfahren. Bis sie nach Hause kommen.

Fußnote:

1 - »Motxiladun umeak« (mit dt. Untertitel):
https://www.youtube.com/watch?v=EewI2CXodw4


 Kurdistan Report 197 | Mai/Juni 2018