Legenden und Geheimnisse in einem kurdischen Dorf

Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam

Buchbesprechung von Susanne Roden

Der Tag an dem ein Mann vom Berg Amar kam»Eigentlich ist seine Heimat Kurdistan, im Südosten des Landes, doch dort führt die türkische Regierung Krieg. In Form von so genannten Antiterroreinsätzen, bei denen Siedlungen vernichtet und Menschen getötet werden«, so die Einleitung zu einem TV-Filmbeitrag1, der noch bis Ende März verfügbar ist. Yavuz Ekinci lebt in Istanbul und Êlih (Batman) und pendelt zwischen beiden Standorten. Er bekommt so Abstand zu sich und dem, was er schreibt, was ihn bewegt.

Das Buch beschreibt das Leben in einem kurdischen Dorf, dessen Bewohner auf ihre Vernichtung warten. Ekinci selbst sagt von sich, dass er aus einer Gegend kommt, wo der Tod immer in den überlieferten Geschichten anwesend war. Es gab kein Leben ohne auch die ständige Anwesenheit des Todes und so schildert der Autor auch das Verhalten, die Gedanken, Ideen und Befindlichkeiten eines jeden Bewohners aus dessen persönlicher Perspektive.

Das Buch beginnt mit der Beschreibung der friedlichen Natur. In Sequenzen, die exakten Kameraeinstellungen entsprechen, wie Regieanweisungen. Alles ist miteinander verwoben, das Treiben der Schlange, die Grashalme, die Spiegelungen im Auge des fütternden Vogels, des Adlers und so weiter. Und genau damit endet auch das letzte Kapitel – der Beschreibung der Landschaft, der Natur, der letzten überlebenden halb verkohlten Tiere nach der verbrannten Erde, ähnlich einem Buschbrand in Australien; nur dass der Leser weiß: Es geschah durch Menschenhand. Jedes Dorf in der näheren Umgebung des Berges Amar war diesem Brandschatzen und Morden zum Opfer gefallen. Und so lebten die Dorfbewohner immer mit der Angst im Hinterkopf: Auch sie würden irgendwann dran sein, wenn einer kommt vom Berg Amar und ruft: »Sie kommen!«

Wie ein Märchen beginnt diese Geschichte, in poetischer Sprache beschreibt Ekinci die archaische Natur des Berges Amar, des Walnusstals. Er erzählt die Legende von Amar und Sara, ihre Liebesgeschichte und die Geheimnisse der Vergangenheit, der Zauberei und Mächte der Vorfahren des kleinen Dorfes am Berg Amar. Natürlich fragt man sich, warum ­Ekinci als Schriftsteller nicht in die Kritik gerät, denn ein Verhaftungsrisiko kann immer und sofort durch eine Kleinigkeit entstehen. Dann ist man, ehe man sich‘s versieht, für Jahre hinter Gittern. Aber wenn man die Struktur, den Aufbau der Erzählung analysiert, so stellt man fest, sie beginnt mit einer Legende, mit einem Geheimnis, das der Berg Amar in sich birgt. Etwas, das den Bewohnern in der Überlieferung immer Ehrfurcht einflößte, das ihr Schicksal lenken würde. Und so wird ein Mann vom Berg Amar erwartet, aber niemand sieht ihn deutlich, jeder sieht etwas anderes oder eben auch nur Staubwolken; dennoch erwartet jeder, dass sie kommen. Sie werden kommen, das steht fest. Und das wird das Ende bedeuten für das Leben. Aber Ekinci arbeitet mit Bildern, mit Metaphern und mit Auslassungen. Es bleibt viel Raum für Spekulation, für das Verstehen und Lesen zwischen den Zeilen.

Alle bereiten sich auf diesen Moment vor, vor dem sie ihr ganzes Leben lang Angst hatten. Jeder auf seine Weise, in seinem persönlichen Stil. Was ist einem wichtig, kann man etwas retten, wird man fliehen können, soll man den Hausrat verstecken, soll man kämpfen? Kann man das überhaupt, nur mit Sensen und ohne Waffen? Kann man sich schützen, gibt es noch etwas zu tun, erwartet man den Tod oder etwas anderes? Jeder sucht nach Antworten. Jede Person reagiert anders und hat ihre ganz persönliche Sicht auf die Dinge. Und auch in diesen Sequenzen finden Andeutungen und Bilder aus der Vergangenheit, der Legende ihren Einzug. Geschichte, die mit den Überlieferungen lebt und am Leben gehalten wird durch die Erzählungen der Vorfahren. Die tiefe Verwurzelung der Kurden mit ihrer Geschichte, mit den Ahnen, die seit so vielen Generationen mit dem Land verbunden sind.

Was dem Schriftsteller wirklich ganz wunderbar gelingt, ist die Beschreibung der einzelnen Szenen. Zunächst wird eine Begebenheit beschrieben, z. B. ein Fußballspiel von Jungen, dann das Erlebte aus der Sicht eines Jungen, später dann aus der Sicht einer anderen Person. Am Ende ist ein Erzählbild, eine poetische Betrachtung verknüpft mit einer anderen, erzählt aus der Sicht wieder einer anderen ebenfalls beteiligten oder anwesenden Person. Natürlich immer mit einem anderen Blickwinkel oder einer Bereicherung. Später dann auch in der Rückblende. Und so verdichten sich die Bilder zu jeder Person und jeder Begebenheit aus der Dorfgemeinschaft – und auch das historische Verhältnis zu dem Märchen über die Legende vom Berg Amar –, deren Ur-Ur-Ur-Ur-Ahnen wie Nachfahren im Dorf lebten. Mit den Geschichten, aber auch mit wohlgehüteten Gegenständen, von denen am Ende allerdings nur der Leser erfährt und deren Bedeutung auf ewig verloren sein wird.

Yavuz Ekinci lebt und arbeitet in Istanbul als Gymnasiallehrer in einem sogenannten benachteiligten Viertel. Er hat es sich ganz bewusst so ausgesucht. Dort leben auch sehr viele Roma, die praktisch noch schlechter gestellt sind als die Kurden, wie er selbst sagt.

Ohnehin ist er politisch sehr engagiert, wie einigen mit FAZ und Spiegel gemeinsam mit seinem Übersetzer Oliver Kontny geführten Interviews anlässlich seines Deutschlandbesuchs zur Leipziger Buchmesse 2017 zu entnehmen war.
Und so beschreibt er, wie er extra aus dem Südosten der Türkei nach Istanbul reiste, als die Gezi-Park-Proteste begannen. »Als dann im Sommer 2015 wieder die Gewalt in den kurdischen Regionen ausbrach, erlebten wir dort Dinge, die jenseits des Beschreibbaren sind. Doch wieder war es, als ginge das die übrige Türkei nichts an. Ich habe Mails geschrieben, dazu aufgerufen, dass wir etwas unternehmen. Die meisten Leute haben nicht einmal geantwortet. Da habe ich mich einsam gefühlt wie ein gesunkenes Schiffswrack.«

Auch beschreibt er, dass er einer von sieben Initiatoren war, die sich für die Freilassung von Aslı Erdoğan einsetzten. Sie hatten sich zu einer Versammlung in einem algerischen Restaurant verabredet, aber es kam niemand. Nicht einmal Murathan Mungan, der sich angekündigt hatte, was ihn persönlich sehr enttäuschte.

»Ich glaube, die Menschen müssen das Bewusstsein entwickeln, dass es darum geht, nicht auf der Seite der Machthaber zu stehen, sondern auf der Seite der Unterdrückten. Niemand sollte sich engagieren, als ginge es um einen persönlichen Gefallen.«

Yavuz Ekinci wurde 1979 in Êlih (Batman) in Nordkurdi­stan geboren. Er studierte 2001 Pädagogik an der Dicle Üniversitesi (Tigris-Universität) in Amed (Diyarbakır) und arbeitet als Lehrer. Er belegt derzeit einen Master-Studiengang in türkischer Sprache und Literatur. Er ist Herausgeber einer Publikationsreihe mit kurdischer Exilliteratur.

Ekinci erhielt für seine Veröffentlichungen zahlreiche Preise, darunter den Yunus Nadi Story Award, den Human Rights Association Story Award sowie den Yaşar Nabi Nayır Noteworthy Story Award.

Bibliographie
Es gibt bisher Romane und Kurzgeschichtensammlungen.
Meyaser´in Uçuşu, 2004 (Ü: Meyasers Flug, 2004).
Sırtımdaki Ölüler, 2007.
Bana İsmail Deyin, Doğan Kitap Istanbul, 2008.
Tene Yazılan Ayetler, Doğan Kitap Istanbul, 2010 (Ü: Verse auf der Haut, 2010); der erste Roman.
Cennetin Kayıp Toprakları, Doğan Kitap Istanbul, 2012.
Rüyası Bölünenle, Doğan Kitap Istanbul, 2014.
Günün Birinde, Doğan Kitap Istanbul, 2016 (Ü: An einem dieser Tage, 2016).
Amar ve Sara, erste Auflage, Dogan Kitap 2016.
Zur Leipziger Buchmesse 2017 wurde das Buch ins Deutsche übersetzt.

Fußnote:
1 Das Erste: Yavuz Ekinci und der Krieg gegen die Kurden (Video verfügbar bis 27.03.2018), http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/yavuz-ekinci-102.html


 Kurdistan Report 196 | März/April 2018