Die Wahlen in Nordsyrien, die Befreiung Raqqas und die Offensive auf Deir ez-Zor

Eine fundierte Lösung ist nur unter Einbeziehung der wirklich Beteiligten möglich

Nûreddîn Sofî – Mitglied des PKK-Zentralkomitees

Während auf der einen Seite der Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) in Nordsyrien anhält, organisieren die Völker auf der anderen Seite mit dem System der Demokratischen Föderation Nordsyrien entsprechend der Perspektive der demokratischen Nation ein gemeinsames und freies Leben. Es wird ein demokratisches System aufgebaut, das auf Kommunen und Räten basiert. Zuletzt wurden in Nordsyrien und Rojava sehr wichtige demokratische Wahlen abgehalten. All dies kann zuallererst als Erfolg der Mühen des Vorsitzenden Öcalan, der Opferbereitschaft der Gefallenen von Rojava und der großen Arbeit der Gesellschaft gewertet werden. Denn im Aufbau der moralisch-politischen Gesellschaft sind die Kommunen der wichtigste und strategische Schritt sowie die grundlegende Zelle der demokratischen und freien Gesellschaft. Es ist die wertvollste Aufgabe eines Revolutionärs, das kommunale Leben in einem Dorf oder Stadtteil zu organisieren. Der Vorsitzende Öcalan erklärte, dass seine erste Tätigkeit nach dem Gefängnis der Aufbau einer Kommune sein würde.

Wahlen in NordsyrienDie Wahlen in Nordsyrien und Rojava wurden in einer disziplinierten, stabilen und sicheren Atmosphäre verwirklicht. Der Erfolg in der Organisation und die Partizipation der Gesellschaft übertrafen die Erwartungen. Das hat eine große Bedeutung, in einer Zeit, in der die militärischen Auseinandersetzungen auf ihrem Höhepunkt sind, eine solche Aktivität erfolgreich zu realisieren.

Wie oben erklärt ist der Aufbau der Kommunen im offiziellen Rahmen geschehen. Doch die wichtige Aktivität und Funktionalisierung sind die neun Dimensionen der demokratischen Nation. Auch wenn das offizielle Prozedere wichtig ist, die Funktion und Aktivierung sind das Grundlegende. Seit fast sechs Jahren dauern diese Arbeiten zum Aufbau von Kommunen an. Ein bestimmtes Niveau ist erreicht worden, aber das reicht noch nicht aus. Denn das kommunale Leben ist eine kulturelle Angelegenheit, eine Art zu leben. Wir können nicht davon sprechen, dass ein solches Leben zu hundert Prozent verwirklicht wurde. Die Aufbauarbeiten in den neun Dimensionen – von den Kooperativen, der Gerechtigkeit und dem Frieden über die Frau, die Ökologie bis zu kulturellen Veranstaltungen – werden weiter andauern.

Das Entscheidende ist der Organisierungsgrad der Gesellschaft

Mit dem Sieg über den IS in Raqqa durch die Demokratischen Kräfte Syriens (arab.: QSD) gestaltet sich die politische Landschaft in der Region neu. Status-quo-Kräfte wie die Türkei und der Iran werden alles Mögliche versuchen, um ein politisches Gleichgewicht zugunsten der Gesellschaften zu verhindern. Die politische Lage in Südkurdistan und die Operationen in Kerkûk und Şengal (Sindschar) geben in diesem Kontext wichtige Hinweise. Diese Staaten, die selbst im kollaborierenden Südkurdistan interveniert haben, werden selbstverständlich auch alles tun, um einen möglichen Status in Rojava und Nordsyrien zu verhindern. Die regionalen Status-quo-Staaten werden wie die internationalen Kräfte zuallererst ihre eigenen politischen Interessen verfolgen. Aus diesem Grund wird es wichtig sein, sich auf die eigene Kraft zu stützen, um die militärischen Erfolge der QSD mit einer politischen Identität zu repräsentieren und dafür die Gleichgewichte genau zu verfolgen. Das Wichtigste und Dringendste ist es, in den befreiten Gebieten eine starke Selbstverteidigungskraft und eine organisierte Gesellschaft, gestützt auf moralisch-politische Prinzipien, aufzubauen. Denn letztendlich ist der Organisierungsgrad der Gesellschaft entscheidend. Seit zwanzig Jahren wurde in Südkurdistan entlang der Konjunktur der politischen Balancen ein Status entwickelt. Da Barzanî und die Patriotische Union Kurdistans (YNK) sich nicht auf die eigene Kraft stützen und von außen abhängig sind, konnten sie in Kerkûk nicht eine Stunde Widerstand leisten. Dasselbe auch in Şengal und Mexmûr. Das heißt, politisches Gleichgewicht und Bündnisse sind notwendig und einflussreich. Doch das eigentlich Entscheidende sind die organisierte Gesellschaft, das Volk und die Stärke der Selbstverteidigung.

Dass der IS heute in Syrien und Rojava besiegt oder marginalisiert wurde, bedeutet nicht, dass die Gefahr gebannt ist. Deshalb brauchen die QSD eine noch stärkere und diszipliniertere Selbstverteidigungskraft. Auf der anderen Seite ist es die Garantie der Demokratischen Föderation Nordsyrien und Rojavas, die Beziehungen und die Geschwisterlichkeit der Völker zu stärken und die Gesellschaften mit dem demokratischen und freiheitlichen Paradigma auszubilden, um die demokratische Gesellschaft zu schaffen. Doch es ist offensichtlich, dass Syrien nicht wie früher verwaltet werden oder auf alte Art und Weise an Stabilität gewinnen kann.

Die einzig realistische Lösung sind die demokratische Autonomie und eine regionale Föderation. Ein System, in dem sich alle Volksgruppen frei ausdrücken können und zusammen unter gleichen Bedingungen ein demokratisches Leben organisieren. Eine Lösung, die dem nicht entspricht, wird zu jahrzehntelangen ethnischen Konflikten und Auseinandersetzungen führen. Nur mit einer solchen Lösung können weitere Tragödien verhindert werden. Die vergangenen sechs Jahre wurden allseits aufmerksam verfolgt. In einer Zeit zahlreicher besiegter und sich auflösender Kräfte sind der Zustand der QSD und ihre unglaubliche Praxis ein großer Erfolg, der allen den Lösungsweg aufzeigt. Während alle anderen Orte buchstäblich zur Hölle wurden, sind Rojava und die von den QSD befreiten Gebiete Stätten der Stabilität und des Lebens geworden. Während Armeen verloren haben, sind die QSD mit ihren Errungenschaften zu Vorreitern der syrischen Völker und eines demokratischen Syrien geworden.

Die andauernde Offensive »Gewittersturm Cizîrês« im Osten Syriens, dem Gebiet Deir ez-Zor, ist mindestens genauso wichtig wie die Befreiung Raqqas. Die QSD und die internationalen Verbündeten haben der Bedeutung dieser Offensive nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt und sie aus diesem Grund verspätet gestartet. Es war ein gravierender Nachteil, den Schwerpunkt nur auf Raqqa zu legen und Deir ez-Zor als zweitrangig anzusehen. Denn gegen eine solche faschistisch-terroristische Organisation muss die Operation umfassend sein. Es ist schwer, den IS an einem Ort einzukreisen und so zu bezwingen. Es ist erfolgversprechender, ihn mit einem umfassenden Plan überall gleichzeitig anzugreifen. Doch das Geschehene ist geschehen und die Regimekräfte haben mit den Einheiten des Iran und Russlands mit unerwarteter Schnelligkeit Deir ez-Zor erreicht. Der IS leistete dort keinen Widerstand, es besteht die Möglichkeit einer geheimen Vereinbarung. Denn hätte er so wie in Raqqa gekämpft, wären die Regimekräfte monatelang nicht nach Deir ez-Zor gekommen. Es hat wohl ein entsprechendes Abkommen gegeben, damit die QSD das Gebiet nicht vollständig einnehmen.

Nun ist es wichtig, dass die QSD die Gebiete östlich und nördlich des Firat (Euphrat) befreien. Sonst wird der Iran, so wie sich der türkische Staat in Cerablus (Dscharabulus) und Idlib festgesetzt hat, den Süden Syriens und die Region um den Euphrat unter Kontrolle haben. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist die türkisch-iranische Annäherung im Kontext des Vormarschs der Kurden und der QSD zu sehen. Es wurde sich wohl auf einen dreckigen Plan verständigt. Der türkische Staat besetzte Idlib und Cerablus und der Iran und Syrien haben keinen Laut von sich gegeben. Dieselbe Haltung lässt sich auch beim Regime im Zusammenhang mit dem iranischen Einfluss feststellen.

Die Expansionspolitik des Iran und die neoosmanische Politik Erdoğans haben Syrien dazu gezwungen, an seiner Status-quo-Politik festzuhalten. Alle drei haben sich gegen die Völker, vor allem die Kurden, zusammengefunden. Der Nordwesten Syriens ist dem türkischen Staat überlassen worden, der Süden und die Gegend um den Euphrat dem Iran. Das wurde alles auf den Astana-Treffen geplant. Die internationalen Kräfte haben diese Gegebenheiten anscheinend für eine Weile akzeptiert. Denn wenn die Türkei und der Iran in Syrien nicht beteiligt werden, dann intervenieren sie dort mit Unterstützung von Terrororganisationen wie dem IS. Doch die gegenwärtige Situation entspricht nach internationalem Recht einer offenen Besatzung. Das gilt für die Türkei und den Iran; diese Art von Politik ist keine lösungsorientierte, sondern eine problemverschärfende Politik. Denn diese Kräfte sind sowieso die Ursache für die Probleme. Ihre Politik führt die Region in die Instabilität und zu ethnischen und konfessionellen Konflikten.

Bekanntlich haben sich die USA nicht an den Treffen in Astana beteiligt. Auch wenn es keine öffentliche Äußerung dazu gab, sind sie nicht erfreut über die dortigen Entscheidungen. Sie werden ihre Haltung wohl mit ihrer Unterstützung der QSD ausdrücken, denn wenn sie es nicht tun, haben sie sonst niemand in Syrien, auf die sie sich stützen könnten. Zwischen den USA und Russland herrscht eine Dialektik der Widersprüche und Beziehungen. Sie versuchen, nicht direkt aufeinanderzutreffen. Doch beide Seiten trachten in der Praxis danach, ihre eigenen Pläne umzusetzen. Sie kommunizieren durch praktische Initiativen und wollen über Details in Kenntnis gesetzt werden. Der Kampf gegen den IS hat die Widersprüche noch deutlicher hervortreten lassen. Neue politische Balancen werden hergestellt und jeder Protagonist wird sich entsprechend positionieren. Doch unser Grundprinzip ist es, sich auf die eigene Kraft zu stützen. So wie bei unseren bisherigen Errungenschaften auch ist es fortan grundlegend, in den sich neu bildenden Gleichgewichten auf die eigene Kraft gestützt Position zu beziehen und den Freiheitskampf unserer Völker zu entwickeln.

Es gibt keine Lösung, solange am Verhandlungstisch nicht der Wille der Völker repräsentiert ist

Ein anderer wichtiger Bereich des Kampfes ist die Diplomatie. Mit der Befreiung entwickeln sich im diplomatischen und politischen Bereich neue Gleichgewichte und Initiativen. Nur an einem Verhandlungstisch mit regional vertretenen Kräften kann eine Lösung erwachsen. In diesem Sinne ist die Repräsentation von Kräften mit gesellschaftlicher Basis und Lösungswillen maßgeblich. Da die Treffen in Genf und Astana diese Tatsache bislang nicht beachtet haben und anstatt wirklicher Vertreter aus der Region mehr kollaborierende Kräfte berücksichtigt wurden, ist ihnen keine Lösung erwachsen. Solange darauf beharrt wird, die wirklichen Ansprechpartner für eine Lösung zu ignorieren, gibt es keine Erfolgsaussichten für die Treffen.

Wenn eine Lösung gewollt ist, muss der Rat des Demokratischen Syriens (MSD) miteinbezogen werden. Die Anerkennung des MSD ist unumgänglich, sowohl aufgrund der Wirkung der mit ihm verbundenen militärischen Potenz, also der QSD, als auch ihrer Repräsentationsfunktion als organisierte, demokratische politische Kraft eines bedeutenden Teils der Völker Syriens. Die Existenz des IS wurde bei den Treffen von Genf und Astana immer als Hauptgrund für eine ausbleibende Lösung angeführt. Wenn dem so war, ist er auf syrischem Boden nun bezwungen bzw. marginalisiert. Von nun an werden Verhandlungen mit den wirklichen Ansprechpartnern große Beiträge zu einer Lösung leisten.

Natürlich wird es Kreise geben, die das verhindern wollen. Insbesondere die aktuelle Politik des türkischen Staates und seine versuchte Sabotage aller Friedensbemühungen in Syrien können keinen Frieden gewährleisten. Deshalb muss jeder an einem Frieden Interessierte eine klare Haltung gegen diese Politik der Türkei zeigen.

Ein bedeutendes Zentrum für Syrien ist zudem Aleppo, die zweitgrößte Stadt Syriens und die Hauptstadt Nordsyriens mit seiner historischen und strategischen Position wie auch seiner zentralen wirtschaftlichen Rolle und seiner lebendigen reichen Kultur. Es wäre nicht falsch zu behaupten, dass der letzte Krieg in Aleppo den Ausgang des Krieges in Syrien bestimmen wird. Die Türkei spielte eine entscheidende Rolle bei der Tragödie und den Konflikten in Aleppo. Sie hat es zu einem Zentrum des Krieges gemacht und die Banden, die sie unterstützte, für ihre eigenen Interessen verkauft. Es gab einen solchen dreckigen Handel nur, damit die Kurden keinen Status erlangen und sich kein Korridor zwischen Efrîn und Kobanê bildet. Vier Jahre lang war Aleppo in der Hand verschiedener oppositioneller Gruppen, es gab zahlreiche Gefechte und die Gruppen wurden durch den Handel des türkischen Staates vernichtet. Ohne diesen Beitrag der Türkei hätte Assad nicht innerhalb weniger Tage die Stadt einnehmen können.

In diesem Sinne liegt die Lösung des Problems in Aleppo nicht in Istanbul. Sie liegt in Aleppo und bei den hier lebenden Gesellschaften. Es gibt hier eine seit langem bestehende kurdische Realität. Aleppo hat das Potential zu einem Beispielmodell für die demokratische Nation, in der sich alle ethnischen und religiösen Gruppen frei ausdrücken und geschwisterlich zusammenleben können.
Das neue demokratische Syrien könnte aus vier, fünf föderalen Regionen bestehen. Das Wichtigste wird sein, dabei die sich nahestehenden gesellschaftlichen Besonderheiten und kulturellen Gegebenheiten der Regionen zu berücksichtigen. Eine der Regionen kann mit seiner originellen und reichen Struktur Aleppo sein. Es könnte mit seinen Besonderheiten sogar ein kleines Modell für ein demokratisches Syrien und die Geschwisterlichkeit der Völker werden.


 Kurdistan Report 195 | Januar/Februar 2018