Eine feministische Kampagne stellt sich vor: Gemeinsam kämpfen! Für Selbstbestimmung und demokratische Autonomie!

Feministische Organisierung auf allen Ebenen

Ute Hoffmann

Wenn wir die derzeitige Lage in Deutschland und Europa analysieren, stellen wir fest, dass sich patriarchale Verhältnisse verschärfen. Der Aufstieg rechter Parteien, wie Victor Orbáns Partei Fidesz in Ungarn, der PiS in Polen, des Front National in Frankreich oder der AfD in Deutschland, ist dabei Ausdruck eines Systems, das uns durch Ideologien wie Kapitalismus, Rassismus und Sexismus voneinander zu trennen versucht, so dass jede*r zum/zur Einzelkämpfer*in wird und individuell versuchen muss, in diesem System zu bestehen. Der vereinzelte Kampf ums Bestehen führt dazu, dass die Mächtigeren alles tun, um ihre Position zu stabilisieren, und diejenigen unterdrücken, die in der Hierarchie weiter unten stehen. Um einen Abstieg zu vermeiden, wird nach unten getreten. Diejenigen, die in diesem System bereits benachteiligt sind, bekommen dies am stärksten zu spüren. Das patriarchale System hat in seiner 5000-jährigen Geschichte Frauen* unterdrückt, ausgebeutet und sie somit weit nach unten gedrückt. Menschen, die nicht der Geschlechternorm entsprechen – zum Beispiel Trans- und Interpersonen – sind dabei in besonderer Weise verschärfter Unterdrückung ausgesetzt. Die kapitalistische Moderne lügt uns vor, dass wir ein Stadium gesellschaftlicher Entwicklung erreicht haben, in dem Geschlechterunterdrückung nicht mehr existiert bzw. nur in Ländern des globalen Südens vorkommt. Uns wird vermittelt, dass weibliche Führungskräfte zeigen, dass Frauen* nicht mehr unterdrückt oder dass Transpersonen in Parlamenten ein Beweis dafür seien, dass sie längst gesellschaftlich akzeptiert werden. Wir wissen, dass dies nicht stimmt. In Europa erlebt jede dritte Frau* körperliche oder sexualisierte Gewalt und auch in der BRD gibt es Morde an (Trans-)Frauen*, eben weil sie Frauen* sind. Feminizide und patriarchale Unterdrückung sind das Produkt einer Geschichte von Konkurrenz, Machtgier und Ausbeutung, die – wenn wir dem nichts entgegensetzen – weiter fortgesetzt wird. Angesichts der Tausende Jahre dauernden Unterdrückung könnten wir in eine Depression verfallen und resignieren. Doch in einer Zeit, in der überall konservative, rassistische und sexistische Kräfte auf dem Vormarsch sind, gibt es Lichtblicke am Horizont, die diesem grausamen System organisiert entgegenstehen und eine Alternative aufbauen, die uns Hoffnung gibt.

Aktionstag gegen Gewalt an Frauen am 25. November

Warum wir uns als europäische Feminist*innen auf die kurdische Frauenbewegung beziehen

Seit 2012 wird in Rojava ein System der demokratischen Autonomie aufgebaut, das auf den Werten von Geschlechterbefreiung, Basisdemokratie und Ökologie beruht. Im Zentrum der Gesellschaft steht die kommunale Basisorganisierung, mit der sich die multiethnische Gesellschaft selbst verwaltet. Von Anfang an gestaltete die kurdische Frauenbewegung die Revolution in Rojava aktiv mit und baute ein System von Frauenräten, -kommunen, -akademien, -kooperativen und Selbstverteidigungskräften auf. Der maßgeblich von Frauen entwickelte Gesellschaftsvertrag und das Ko-Sprecher*innen-System, das in allen Gremien eine Frau und einen Mann als Vorsitzende festschreibt, garantiert die politische Mitgestaltung von Frauen. Die autonome Organisierung auf allen gesellschaftlichen Ebenen ermöglicht es ihnen, selbstbestimmt und jenseits von patriarchalen Vorgaben gestaltende Kraft zu sein. Zurzeit errichtet die Frauenbewegung in Rojava das ökologische Frauendorf »Jinwar«. Dort werden ausschließlich Frauen mit ihren Kindern in eigenen Schulen, Gesundheitshäusern usw. ihr Leben selbst gestalten. Das Frauendorf stellt dabei nicht nur eine Notwendigkeit dar, einen Raum frei von patriarchaler Gewalt zu finden, sondern ist vielmehr ein Ort, an dem Frauen lernen, dass sie entgegen dem langjährigen Versuch, sie zu entmündigen, selbst ihr Leben kommunal organisieren können. Als europäische Feminist*innen sind wir beeindruckt von der Kraft der Frauenbewegung und glauben, dass eine Zusammenarbeit und ein Voneinanderlernen eine Perspektive bieten können, mit der wir feministische Kämpfe in der BRD ausweiten können. Dabei glauben wir, dass vor allem die folgenden drei Punkte wegweisend für feministische Kämpfe in Europa und in der BRD sein können:

1. Die kurdische Frauenbewegung hat eine tiefgehende Patriarchatsanalyse aufgestellt, die nicht nur eine Sexismuskritk formuliert, sondern jegliche gesellschaftliche Zustände als mit dem Patriarchat zusammenhängend versteht. Es wurde eine Theorie entwickelt, auf deren Grundlage die realen gesellschaftlichen Bedingungen verstanden und verändert werden können. Aufbauend auf den Analysen von Abdullah Öcalan wird das Patriarchat als erste Form der Unterdrückung verstanden, aus der andere Unterdrückungsverhältnisse, wie zum Beispiel Rassismus und Kapitalismus, hervorgegangen sind. Diese Analyse legt die Grundsteine dafür, dass zur Erreichung einer befreiten Gesellschaft Geschlechterbefreiung eine Notwendigkeit darstellt. In der Tradition der europäischen Linken galt der Widerspruch zwischen Kapital und Lohnarbeit in weiten Teilen als Ursprung aller Unterdrückung, weswegen der Hauptfokus auf dessen Beseitigung lag. Geschlechterbefreiung wurde somit zum Teilbereichskampf erklärt und immer wieder auf die Seite bzw. auf die Zeit »nach der Revolution« verschoben. Die kurdische Frauenbewegung rückt die Geschlechterfrage in den Fokus. Auch wir sind davon überzeugt, dass dieser Fokus bereichernd für emanzipatorische Politik in der BRD ist, und wollen sie in unserer Praxis umsetzen. Wir glauben, dass mit dieser Analyse auch unsere Gesellschaft besser verstanden und verändert werden kann.

2. Durch den Aufbau des demokratischen Konföderalismus wurde eine Gesellschaftsform geschaffen, die Frauen* eine politische Mitgestaltung garantiert – ideologisch, aber auch ganz praktisch zielt der demokratische Konföderalismus auf Frauen*befreiung ab. Frauen* wurden über Jahrtausende systematisch aus politischen Entscheidungen ferngehalten und Selbstbestimmung wurde ihnen verwehrt. Durch die autonome Organisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen schaffen sie einen Raum, in dem sie ihren Willen selbst bilden und ausdrücken können, was ihnen ein tatsächliches, selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Sehen wir uns die BRD an, sehen wir, dass Frauen* in vielen Führungspositionen vertreten sind. Auch das Amt der Regierungschef*in ist durch eine Frau besetzt. Also warum dem demokratischen Konföderalismus für uns Feminist*innen in Europa eine solche Bedeutung geben? Das grundlegende Verständnis, das ihm zu Grunde liegt, ist eine radikaldemokratische Organisierung der Gesellschaft, verbunden mit einer Ethik, die ein gleichberechtigtes, gemeinsames Leben verschiedener Menschen ermöglicht. Das wichtigste Organ ist die Basis, die Kommune. Dort wird durch kollektives Entscheiden über die eigenen Lebensumstände ein kommunales Leben aufgebaut, das gegen die Vereinzelung und Isolierung des kapitalistischen Patriarchats steht. Es geht also nicht darum, lediglich politische Positionen durch Frauen* zu besetzen (die BRD ist vermutlich ein gutes Beispiel, dass dies nicht zur gesellschaftlichen Befreiung beiträgt), sondern setzt der patriarchalen Mentalität von Konkurrenz, Hierarchie und Unterdrückung konkret etwas entgegen.

Als Feminist*innen ist der demokratische Konföderalismus für uns ein Lichtblick, da durch die tatsächliche Praxis gezeigt wird, dass ein Leben jenseits von Staat, Macht und Patriarchat möglich ist. Wir glauben, dass wir eine konkrete Utopie brauchen, um unseren Kämpfen eine Perspektive zu geben. Durch den universalen Charakter und die Anwendbarkeit auf pluralistische Gesellschaften glauben wir, dass er auch für Europa eine Perspektive darstellen kann – auch wenn die Bedingungen hier andere als in Rojava sind.

3. Mit der Jineolojî entwickelte die kurdische Frauenbewegung ein weiteres Werkzeug, das wir auf die Verhältnisse in der BRD anwenden wollen. Jineolojî (kurdisch für Wissenschaft der Frau) versteht sich als eine neue Form der Wissenschaft, die alle Bereiche des Lebens aus einer feministischen Perspektive beleuchtet und dadurch Alternativen schaffen will. Dem liegt die Analyse zu Grunde, dass alle bisherigen Bereiche der Wissenschaft einer patriarchalen Logik unterliegen. Egal ob Medizin, Philosophie oder Geschichtsschreibung – durch den Versuch, Frauen* aus diesen Bereichen fernzuhalten, sind auch die Ergebnisse dieser Wissenschaften männlich geprägt. Jineolojî versucht alle Bereiche neu zu untersuchen. Außerdem bricht sie mit der Praxis von Wissenschaft als Herrschaftsmittel, das einigen wenigen hilft, sich von der Gesellschaft abzusondern und besserzustellen. Wissen ist für alle Menschen da und die Aufgabe von Wissenschaft ist es, die Probleme der Gesellschaft zu lösen. Wir müssen der Gesellschaft das Wissen, das sie für die Befreiung braucht, zurückgeben. Ein wichtiger Punkt in der Jineolojî ist, dass Theorie nur dann sinnvoll ist, wenn sie mit einer Praxis verbunden ist bzw. aus ihr entsteht. Deshalb sucht die Jineolojî auch nach anderen Formen von Wissen. Sie versucht das Wissen zu dekolonialisieren und übt dabei scharfe Kritik an einem positivistischen, eurozentristischen Verständnis von Wissen, das alles »Andere« objektiviert und beherrscht.

Dies sehen wir als konkrete Alternative zu den oft überakademisierten Theorien innerhalb der deutschen Linken, die keine Anbindung an die gesellschaftliche Basis haben. Auch wir als Frauen*, Lesben, Trans*- und Interpersonen in der BRD sind unserer eigenen Geschichte beraubt – viel feministisches Wissen ist verloren gegangen. Das erneute Erforschen und Aufbereiten der Geschichte kann uns Handlungsanleitungen für unsere Praxis geben und unsichtbare Geschichte wieder sichtbar machen. Wir wollen autonom und selbstbewusst neue Perspektiven für all die Bereiche unserer Gesellschaft – Politik, Gesundheit, Ökologie, Ökonomie, Bildung, Demografie, Ethik und Ästhetik – aus einer feministischen Perspektive entwickeln und sehen Jineolojî als Methode dafür an, dies zu tun.

feministische kampagne - gemeinsam kämpfen!Gemeinsam kämpfen!

Um die Analysen der kurdischen Frauenbewegung mit den Kämpfen hier vor Ort zu verbinden, haben wir die Kampagne »Gemeinsam kämpfen! Für Selbstbestimmung und demokratische Autonomie!« ins Leben gerufen. Die Kampagne hat das Ziel, Rojava als Frauenrevolution bekannter zu machen und damit eine konkrete Alternative zum kapitalistischen Patriarchat aufzuzeigen. Wir wollen feministische bzw Frauen*solidarität aufbauen und zeigen, dass die Kämpfe, die in Rojava geführt werden, große weltweite Bedeutung haben. Außerdem wollen wir den Aufbau des Frauendorfes Jinwar konkret unterstützen, indem wir finanzielle Mittel bereitstellen. Zweitens wollen wir mit der Kampagne feministische Kämpfe in Europa und der BRD neu diskutieren. Wir bewerten es als positiv, dass Feminismus seit einigen Jahren wieder an Bedeutung gewonnen hat und sich viele neue Bündnisse, Organisationen und Gruppen gebildet haben. Gleichzeitig sehen wir eine Tendenz zu einem liberalen Feminismus, der das System nicht grundlegend in Frage stellt, sondern lediglich reformistische Ansätze verfolgt. Wir glauben, dass ein tatsächlich freies Leben nur dann möglich ist, wenn wir die bestehenden Verhältnisse grundlegend ändern. Deswegen wollen wir im Feminismus eine revolutionäre Kraft sehen und betrachten es als unerlässlich, uns dafür zu organisieren. Feminismus bleibt meist in kleinen Räumen isoliert und ist kaum gesellschaftlich wirksam. Wir denken jedoch, dass wir als Frauen*, Trans*- und Interpersonen, die vom System der Trennung, Zerteilung und Spaltung betroffen sind, diese Verbindungen wieder stärken und neu aufbauen können. Feminismus darf sich weder auf das Private noch auf den ihm zugestandenen Bereich beschränken, in dem lediglich mehr individuelle Rechte innerhalb eines insgesamt patriarchalen Systems erkämpft werden können. Feminismus muss sich in alle Lebensbereiche einmischen, Herrschaftsmomente analysieren und gemeinsam für eine freie Gesellschaft kämpfen.

Im Rahmen der Kampagne wollen wir deswegen gemeinsam mit euch überlegen, wie wir Feminismus revolutionär verstehen können, warum der demokratische Konföderalismus auch für hier denkbar ist und wie wir die Ideologie der kurdischen Frauenbewegung auf hier anwenden können. Dazu werden bundesweit Veranstaltungen, Aktionen und Seminare stattfinden. Lasst uns gemeinsam nach Alternativen suchen und dabei voneinander lernen und füreinander da sein. In den folgenden Wochen und Monaten möchten wir mit euch gemeinsam diskutieren, uns bilden, auf die Straße gehen, lachen und kämpfen – wir freuen uns auf euch!

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Wenn ihr die Kampagne unterzeichnen, unterstützen oder selber Veranstaltungen, Aktionen etc. machen wollt, meldet euch gerne bei uns:
E-mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
Blog: http://gemeinsamkaempfen.blogsport.eu/
Twitter: @femKampagne, oder nutzt den Hashtag #gemeinsamkaempfen

Für Spenden an Jinwar:
Kurdistan Hilfe
Stichwort: WJAR-Jinwar
IBAN: DE40 2005 0550 1049 2227 04
BIC: HASPDEHHXXX


Wir schreiben das Wort Frauen mit einem *, um darauf hinzuweisen, dass wir den Frauen*begriff weiter fassen und darunter alle verstehen, die sich als Frauen* definieren, und nicht nur die, die biologisch als Frauen definiert werden.
Wenn wir über die kurdische Frauenbewegung und die Frauen in Kurdistan ­schreiben, nehmen wir deren Selbstbezeichnung und schreiben an dieser Stelle deswegen Frauen ohne das Sternchen.


 Kurdistan Report 195 | Januar/Februar 2018