Am 25. September fand die Abstimmung über Unabhängigkeit Südkurdistans statt

Nach dem Referendum: Und jetzt?

Meral Çiçek, Silêmanî, Yeni Özgür Politika, 11. Oktober 2017

Es sind nun zwei Wochen seit dem Unabhängigkeitsreferendum in Südkurdistan vergangen. Seitdem ist innerhalb kürzester Zeit so viel geschehen, dass man das Gefühl bekommt, das Referendum habe vor langer Zeit stattgefunden. Doch entgegen den vielen Ereignissen und Entwicklungen, wie der Schließung der Flughäfen von Hewlêr/Erbil und Silêmanî/Sulaimaniyya, den Interventionsversuchen der Türkei in die Region Barzan, der Zustimmung des irakischen Parlaments zur Verlegung des Militärs nach Kerkûk, den Drohungen und Beleidigungen Erdoğans, der Ablehnung des Referendums – weil angeblich nicht rechtens – durch die USA und zuletzt dem Tod von Celal Talabanî, ist die politische Elite in Südkurdistan ziemlich schweigsam. Und auch die sich nähernde Krise hat noch wenig Ausdruck auf den Straßen gefunden. Das alltägliche Leben dauert so an, als ob es das Referendum nie gegeben hätte. Doch wir befinden uns im Herz des Mittleren Ostens und im Süden Kurdistans. Man darf sich von diesem Bild nicht täuschen lassen, denn jederzeit kann alles passieren.

Die Ausdehnung der Besatzungspolitik

Die politische Stimmung ist zurzeit geprägt von Unklarheiten. Es ist nicht leicht vorauszusehen, was passieren wird. Denn das Referendum vom 25. September hat nicht nur die problematische Beziehung mit der irakischen Zentralregierung befeuert, sondern auch ein antikurdisches Zusammenkommen zwischen Ankara, Bagdad und Teheran mit sich gebracht. Diese antikurdische Annäherung hat bislang begrenzte klare Auswirkungen, kann aber von heute auf morgen eine ganz andere Gestalt annehmen. Dies kann nur durch eine Politik der nationalen Einheit verhindert werden, die den Wirkungsraum der äußeren Kräfte, vor allem der »benachbarten« Staaten, begrenzt.

Das antikurdische Bündnis der kolonialistischen Staaten ins Leere laufen zu lassen ist nur möglich, indem man die kurdische Einheit entwickelt. Das muss die vorrangige Lehre, die man aus den Entwicklungen nach dem Referendum ziehen muss, sein. Sonst wird nicht einmal möglich sein, die gegenwärtigen Errungenschaften der Kurden zu schützen – geschweige denn auszubauen. Die Worte von Erdoğan nach seiner Rückkehr aus dem Iran bezüglich der angeblichen Besatzung Kerkûks durch die Kurden sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen: »Die Zentralregierung wird die notwendigen Schritte gegen Kerkûk tätigen. Unsere Gespräche mit dem Irak und dem Iran dauern an. Die Schritte, die notwendig sind, werden umgesetzt werden – ob für Kerkûk oder Mûsil.«

Der türkische Staat versucht also nicht nur das Referendum aufzuheben, sondern hat auch das Bestreben, seinen Vorherrschaftsanspruch auf Südkurdistan auszusprechen und damit seine kolonialistische Besatzungspolitik in Richtung Süden auszudehnen. Kann man dies nur als rhetorische oder taktische Annäherung verstehen?Karte von Südkurdistan am 31.10.2017

Werden die Wahlen im November abgesagt?

Kommen wir zu den Geschehnissen in Südkurdistan nach dem Referendum. Als das Datum des Referendums am 7. Juni verkündet wurde, erklärte der Vorsitzende der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), Mesûd Barzanî, dass die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 6. November stattfinden würden. Später hat Barzanî am 19. Juli die Hohe Wahlkommission aufgefordert, dass der Wahltermin auf den 1. November festgelegt wird. Die Kommission verkündete daraufhin, dass die Kandidaten spätestens bis zum 3. Oktober ihre Anträge einreichen müssten und die Wahlphase am 15. Oktober beginnen werde.

Am letzten Tag der Aufstellung der Kandidaten – am 3. Oktober – hat das Mitglied des Exekutivrats der Gorran-Bewegung Muhammad Tawfiq Rahim seine Präsidentschaftskandidatur bekannt gegeben. Doch die Hohe Wahlkommission hat mit Lichtgeschwindigkeit die Kandidatur des Gorran-Vorsitzenden mit der Begründung der verspäteten Antragstellung abgelehnt.

Dies ist ein interessanter Punkt, denn bislang hat niemand sonst eine Kandidatur zur Präsidentschaft beantragt. Also weder die PDK noch die Patriotische Union Kurdistans YNK haben innerhalb der rechtlichen Frist einen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt. Wenn innerhalb des festgelegten Zeitraums keine Anträge eingereicht werden, wird die Präsidentschaftswahl abgesagt.

Wird also die für den 1. November vorgesehene Wahl – unter dem Tisch beschlossen – abgesagt? Diese Frage kommt immer stärker auf. So antwortete der Ministerpräsident der Autonomen Region Kurdistan Nêçîrvan Barzanî auf die Frage, ob die Wahl womöglich verschoben werde: »Derzeit gibt es keine Vereinbarung der politischen Parteien zu dieser Thematik. Wir warten noch auf einige Sitzungen, weshalb die Entscheidung dazu später getroffen wird.« Am Tag davor erklärte der Sprecher der Hohen Wahlkommission, dass die Wahlen entgegen dem Referendum nur in den offiziellen vier Regionen Südkurdistans (Hewlêr, Silêmanî, Duhok und Helebce) abgehalten und in den strittigen Regionen (Kerkûk, Mûsil, Şengal und Xaneqîn) keine Wahlurnen aufgestellt wurden. Der Sprecher betonte, dass die Kommission nicht über die Befähigung verfüge, die Wahlen zu verschieben, und nur die politischen Parteien die Parlamentswahlen verschieben könnten. Am Tag davor erklärte das Mitglied des YNK-Politbüros Saadî Pîrê auf einer Pressekonferenz, dass keine Partei zu den Wahlen bereit sei und man als YNK eine Verschiebung fordere, jedoch die PDK dagegen sei. Ist dies eine einheitliche Meinung der YNK oder die eines Flügels? So wird seit einer gewissen Zeit behauptet, dass sich hinter verschlossenen Türen Teile der PDK und YNK auf eine Verschiebung der Wahlen und eine Verlängerung des gegenwärtigen Parlaments um zwei Jahre geeinigt hätten. [Laut Wahlkommission vom 18.10. sind Parlaments- und Präsidentenwahl jetzt definitiv verschoben.]

Die Initiative von Hero Ibrahim Ahmed

Der erste und einzige Schritt nach dem Referendum ist die Umbenennung des Hohen Referendumsrats Kurdistans in die »Politische Leitung Kurdistan/Irak«. Diese Leitung wurde nach einer Sitzung unter Vorsitz Barzanîs am 1. Oktober ausgerufen. Während nach Ende der Sitzung eine Erklärung mit sieben Punkten veröffentlicht wurde, gab es keinerlei Informationen über die Funktion und Aufgabe der Politischen Leitung Kurdistan/Irak.

Die Gorran-Bewegung und die Islamische Bewegung in Kurdistan, die zuvor auch die Teilnahme am Hohen Referendumsrat ablehnten, lehnen auch dieses Gebilde ab. Die heftigste Reaktion kam jedoch von Hero Ibrahim Ahmed. Die Ehefrau des verstorbenen Celal Talabanî verglich in einer schriftlichen Erklärung die gegründete politische Leitung mit dem Revolutionären Kommandorat Iraks und, dass sie keinen Platz darin einnehme werde. Dies ist kein einfacher Vergleich, denn der Revolutionäre Kommandorat Iraks übernahm nach dem Militärputsch 1968 de facto die Macht über das Land. Bis ins Jahr 2003 existierte der Revolutionäre Kommandorat als überparlamentarischer Entscheidungsträger weiter. Deshalb hat Hero Ibrahim Ahmed mit ihrem Vergleich in gewissem Sinne die Politische Leitung Kurdistan/Irak als illegitim deklariert.

Und wirklich ist die einzige Legitimationsquelle der politischen Leitung der De-Facto-Präsident Südkurdistans und PDK-Vorsitzende Mesûd Barzanî, dessen Amtszeit seit zwei Jahren abgelaufen ist. Als der Hohe Referendumsrat aufgebaut wurde, haben viele Kreise, vor allem Gorran und die Islamische Bewegung den Rat abgelehnt, da er nicht aus demokratisch gewählten Personen bestehe und damit keine Legitimität besitze. Für die Politische Leitung Kurdistan/Irak, die aus dem Referendumsrat hervorgegangen ist, ist die Situation noch schlimmer, da während der Ratsbildung das regionale Kurdistanparlament immer noch geschlossen war, aber im letzten Monat zum Teil zusammenkam und den Referendumsentscheid bestätigte.

Damit einhergehend wurde die Aufgabe des Referendumsrats im Kontext des Referendums bestimmt, mit der irakischen Zentralregierung zu verhandeln und diplomatische Gespräche zu führen.

Was wird nun die Politische Leitung Kurdistan/Irak tun? Im Namen taucht nichts von Referendum und Verhandlungen auf, stattdessen ist die Rede von einer »politischen Leitung«. Eine politische Leitung wovon? Wird geplant, dass sie den Platz der offiziellen politischen Leitung übernimmt?

Hero Ibrahim Ahmed bezeichnete die »politische Leitung«, die nicht aus Gewählten besteht, nicht vom Parlament abgesegnet wurde, keinen gesetzlichen Rahmen hat und dessen Entstehungsprozess unklar ist, als »großen Fehler«. Mit ihrer schriftlichen Erklärung zum Referendum ist sie eine politische Person geworden: »Während alle großen Kräfte von uns die Verschiebung [des Referendums] forderten, zahlt unser Volk nun die Zeche für unsere Starrköpfigkeit.«

Sanktionen

Die Konsequenzen, die das Referendum für die Bevölkerung nach sich ziehen wird, sind noch nicht auf bemerkbarem Niveau. Die erste Sanktion war die Schließung des Luftraums über Südkurdistan für internationale Flüge. Doch die Flüge über Bagdad sind möglich. Im Grunde sind diejenigen ohne irakische Staatsbürgerschaft von dieser Entscheidung am stärksten betroffen, denn die von der südkurdischen Verwaltung ausgestellten Aufenthaltserlaubnisse sind außerhalb Südkurdistans nicht gültig. Obwohl das irakische Innenministerium erklärt hat, dass Nicht-Iraker, die über eine Aufenthaltserlaubnis für die Region Kurdistan, jedoch über kein gültiges Visum für den Irak verfügen, problemlos über Bagdad ausreisen könnten, wird eine Strafgebühr von über 400 US-Dollar erhoben.

Als zweite Sanktion kam die Schließung der Grenzübergänge von Seiten der Türkei und des Iran auf die Tagesordnung. Doch am Grenzübergang Habur zur Türkei gab es keine Veränderungen, und auch der Iran schloss nur kurzzeitig seine Tore. Vielleicht wäre die an der Grenze zu Ostkurdistan lebende südkurdische Bevölkerung sogar mit einer Schließung der Grenze für wirtschaftliche Übergänge einverstanden gewesen. Besonders in den Gebieten Pêncewîn und Hewraman sehen sich Bauern aufgrund der Wirtschaftspolitik der südkurdischen Regierung, die dem Neoliberalismus dient, mit großen Schwierigkeiten konfrontiert. Helebce ist für seine Granatäpfel, Pêncewîn für seine Wassermelonen bekannt. In dieser Region, die für die Landwirtschaft in Südkurdistan vielleicht die produktivste Fläche ist, ist die Erntezeit noch nicht beendet. Doch die Bauern können einen Großteil ihrer Produkte nicht verkaufen, denn mit den aus dem Iran importierten Landwirtschaftsgütern können sie nicht konkurrieren. Beispielsweise erzählte ein Bauer, den wir in den vergangenen Tagen besuchten, dass er dieses Jahr 100.000 Dollar in Tomaten, Auberginen, Pfeffer und Wassermelonen investiert, aber der Verkauf bislang nur 80.000 eingebracht habe und er in diesem Jahr Verluste erleiden werde. Der Grund ist, dass im Vergleich zu 500 Dinar pro Kilo verkauften Tomaten Südkurdistans, die aus dem Iran importierten nur 150 Dinar kosten. Die heimlichen Produzenten, die Schwierigkeiten haben, einen Markt zu finden, sind die größten Opfer der Politik der südkurdischen Regierung, die der türkischen und iranischen Wirtschaft Vorrang einräumt. So sind die Regionen, in denen am intensivsten Landwirtschaft betrieben wird, die mit der geringsten Beteiligung am Referendum.

Das Schweigen der PDK

Die dritte Maßnahme der Türkei, des Iran und Irak nach dem Referendum waren die militärischen Manöver an den jeweiligen Grenzen. Während die türkische und die irakische Armee an der Grenze zwischen Norden und Süden ein gemeinsames Manöver durchführten, hat die iranische Armee ihre Panzer an die Grenze zu Ostkurdistan verlagert. Doch trotz der bedrohlichen Erklärungen und militärischen Verlagerungen dieser drei Staaten wurde über das Risiko einer militärischen Intervention nicht viel gesprochen. Dabei waren die versuchte Intervention der türkischen Armee in die Region Barzan, welche durch HPG-Guerillas mit Verlusten verhindert wurde, und die Bombardierung von Akrê sehr konkrete Situationen. Die Vertreter der PDK und die Medien müssen sich ohnedem hinterfragen, warum sie die Erklärungen der USA, des Iran und Irak nach dem Referendum beantworteten, aber auf die schweren Anschuldigungen, Drohungen und Angriffe der türkischen Staatsvertreter nicht reagierten. Warum ist sie so schweigsam geblieben? PDK-nahe Medien versuchen entweder die schweren Beleidigungen und Drohungen aus der Türkei schönzureden oder sie als taktischen Vorstoß darzustellen.

Nach Talabanî

In dieser unklaren Situation hat der YNK-Gründer Celal Talabanî sein Leben verloren. Die von internationalen Persönlichkeiten zu seinem Gedenken formulierten Worte machen fast alle auf eine grundlegende Besonderheit von Talabanî aufmerksam: auf seine Weisheit. Vielleicht bedarf Südkurdistan zurzeit am meisten dessen: einer weisen Politik gemäß der demokratischen nationalen Einheit. Einer Politik, die für kurzfristige und engstirnige Interessen keine unabhängige Politik für große und langfristige Errungenschaften opfert.

Südkurdistan braucht wirklich so schnell wie möglich eine gewisse Art von Unabhängigkeit: eine unabhängige Politik, eine unabhängige Wirtschaft und eine unabhängige Verteidigung. Dafür ist die nationale Einheit eine Grundbedingung. Nur wenn die einzelnen Teile und Kräfte im Rahmen ihres gemeinsamen nationalen Nenners zusammen agieren, können sie sich von der Abhängigkeit der regionalen und globalen Kräfte befreien. Und das ist eine weitere Realität, die uns das Referendum vor Augen geführt hat: die dialektische Beziehung zwischen wahrer Unabhängigkeit und nationaler demokratischer Einheit.

Nach dem Tod von Celal Talabanî wurde erklärt, dass seine Leiche zuerst nach Bagdad und von dort nach Silêmanî gebracht werde. Denn als er 2012 eine Gehirnblutung erlitt, war er irakischer Staatspräsident. Folglich erwartete man in Bagdad eine offizielle staatliche Beerdigung. Doch innerhalb der YNK kam es zu Gegenstimmen und seine Leiche wurde am Freitag direkt nach Silêmanî gebracht und nach einer Gedenkzeremonie am Flughafen und dem Gebet am Mizgefta Gewre in Debaşan beerdigt. Es wurde ein Thema der Diskussion, dass die offizielle Beerdigung nicht in Bagdad stattfand und am Sarg neben der Flagge der Region Kurdistan nicht die irakische Flagge ihren Platz fand. Es gibt Kreise, die die Entscheidung der YNK kritisieren, da Talabanî nicht nur ein kurdischer Repräsentant war, sondern gleichzeitig auch den Posten des irakischen Staatspräsidenten innehatte. Doch wie richtig wäre es gewesen, direkt nach dem Referendum und den Drohungen und Sanktionen des irakischen Staates zum Trotz – sowohl aus politischer als auch prinzipientreuer Sicht – eine offizielle Zeremonie in Bagdad durchzuführen? Wäre es ein möglicher Ausweg zur Überwindung der Krise mit dem Irak gewesen? Ich denke, eher nicht.

Die Vier-Punkte-Vereinbarung

Doch der Tod von Talabanî hat dazu geführt, dass Mesûd Barzanî sich mit den Assistenten des irakischen Präsidenten Iyad Allawi und Usama Al-Nudschaifi traf. Allawi und Al-Nudschaifi, die den irakischen Staatspräsidenten Fuad Masum bei der Beerdigungszeremonie für Talabanî begleiteteten, sind am Samstag in Silêmanî mit Mesûd Barzanî zusammengekommen. Nach dem Treffen wurde erklärt, dass es eine Vier-Punkte-Vereinbarung gebe: die Notwendigkeit von Dialog und Gesprächen, die Aufhebung von Sanktionen gegen Südkurdistan, der Beginn von Sitzungen in kürzester Zeit und der Aufbau eines Mechanismus, um die Gespräche ins Laufen zu bringen.

Doch es gibt offene Fragen. Erstens: Wie stark ist der politische Einfluss von Allawi und Al-Nudschaifi? Können wir beide als Vertreter der irakischen Regierung sehen, wo doch auf der Zeremonie der irakische Innenminister und der Parlamentsvorsitzende bereitstanden? Und es lohnt sich zu erinnern, dass Iyad Allawi zwei Wochen vor dem Referendum nach Hewlêr kam und bei seinem Treffen mit Barzanî folgenden Vorschlag für den Abbruch des Referendums vorlegte: Beginn einer konstruktiven Übergangsphase, um bezüglich der problematischen Regionen einen verantwortungsvollen nationalen Dialog zu führen. Nach dem Referendum hingegen forderte er das Einfrieren des Referendumsergebnisses von Barzanî.

Wird Barzanî das Referendum an den Nagel hängen?

Mesûd Barzanî hat sofort nach dem Referendum eine schriftliche Antwort an Allawi geschickt. Einige arabische Quellen haben getitelt, dass Barzanî bereit wäre, für zwei Jahre die Unabhängigkeit einzufrieren, um in einem »konstruktiven nationalen Dialog« das Referendum nach zwei Jahren umzusetzen. Al-Nudschaifi erklärte dem Sender Al Arabiya, dass Mesûd Barzanî im Gegenzug zu der Aufhebung der Sanktionen bereit wäre, das Referendum an den Nagel zu hängen. Der Erklärung des Beraters von Barzanî zufolge soll der PDK-Vorsitzende und De-Facto-Präsident von Südkurdistan bei seinem Treffen am Sonntag mit dem irakischen Parlamentsvorsitzenden Salim Al-Dschaburi in Hewlêr gesagt haben, dass niemand ein Einfrieren des Referendumsergebnisses zu erwarten habe. Doch gegenteilige Erklärungen zum Thema sind hervorstechend.

Wenn man sich diesen Punkt vor Augen führt, dann stellt sich die Frage: Wenn es wirklich eine Vereinbarung zu den vier genannten Punkten gab, was ist dann die Gegenleistung? In den Erklärungen wird gesagt, dass der Dialog mit Bagdad ohne Vorbedingung geführt werde, doch aufgrund der vom irakischen Staat in den letzen zwei Wochen dargelegten Haltung lässt sich dies ohne Bedingungen oder Zugeständnisse nicht denken. Was hat zudem Al-Dschaburi zum Treffen mit Barzanî in Hewlêr veranlasst, wo der doch am Freitag direkt nach der Beerdigungszeremonie für Talabanî nach Bagdad zurückgekehrt ist? In den Nachrichten wurde erklärt, dass beide sich auf einen »Dialog mit offener Tagesordnung« geeinigt haben sollen. Doch muss nach dem Referendum die Tagesordnung des Dialogs mit Bagdad nicht klar und deutlich sein?

Das ist eigentlich das größte Problem. Wenn das natürlichste und legitimste Recht der Unabhängigkeit in solch einer Phase zum Thema eines Referendums gemacht wurde, dann müssen eine gut vorbereitete Roadmap und ein strategischer Plan erstellt worden sein. Doch das Schweigen und die Untätigkeit in den letzten zwei Wochen bestätigen eine Vielzahl von Zweifeln, die vor dem Referendum präsent waren.

Der gegenwärtige Status quo im Mittleren Osten wurde auf Basis der Verleugnung der Kurden und Kurdistans geschaffen. Die kurdische Gesellschaft hat hundert Jahre lang unter großen Opfern für ein freies Leben gegen Ausbeutung, Besatzung, Verleugnung und Genozid Widerstand geleistet. Immer noch muss es in vier Teilen diesen Widerstand führen. Trotz eines autonomen Status in Südkurdistan kann nicht von vollständiger Freiheit gesprochen werden. Um solch eine Freiheit zu gewährleisten, braucht es einen Prozess, in dem die ganze kurdische Nation und alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte mit eingeschlossen werden und eine gemeinsam Strategie verfolgt wird. Das muss die eigentliche Quelle von Kraft sein.

Die Autonomie in der Zange

Oben haben wir geschrieben, dass die Sanktionen des Irak, Iran und der Türkei sich noch nicht im alltäglichen Leben bemerkbar gemacht haben. Doch am 9. Oktober wurde erklärt, dass eine Reihe neuer Sanktionen von Bagdad beschlossen worden seien. Der Erklärung des Büros des irakischen Staatspräsidenten nach sind neue Sanktionen auf dem Weg, um die föderale Autorität über die problematischen Regionen zu restaurieren. In der Erklärung wurde zudem wieder die Schließung der Grenzübergänge zum Iran und der Türkei für alle wirtschaftlichen Transfers gefordert. Gegen Staatsbeamte, die am Referendumstag ihre Stimme abgaben, wurden Verfahren eingeleitet und der irakische Staat wird die Kontrolle über die Telekommunikation nach Bagdad verlagern. Von der größten Telekommunikationsfirma in Südkurdistan Korek Telecom (Eigentum des Neffen Mesûd Barzanîs, Sirwan Barzanî) kam die Erklärung, dass sie sich sowieso den Direktiven Bagdads entsprechend verhalten würden und deshalb der Entscheidung zur »föderalen Kontrolle« keine Bedeutung beimessen könnten. Doch es ist eine Realität, dass Bagdad eine lange Zeit zu den Schulden von Korek geschwiegen hat und nun die Chance nutzt, seine Gläubigerposition auszunutzen. Korek Telecom ist nun mit der Gefahr konfrontiert die Lizenz zu verlieren, wenn bis zum 13. Oktober nicht 375 Millionen Dollar Schulden beglichen werden.

Und dies hätte große Auswirkungen auf das alltägliche Leben. Die Bindung der Telekommunikation, der Grenzübergänge, des Handels und insbesondere des Ölhandels an Bagdad würde de facto bedeuten, dass Südkurdistan in die Zange genommen und isoliert wird. Wie kann dies nun verhindert werden? Wie kann ein Ausweg gefunden werden? Was für eine Strategie wird man verfolgen? Wir erleben eine Phase voller Unklarheit.

Der Vorstoß von Gorran

Wir werden nochmals Zeuge dessen, wie schnell sich der Mittlere Osten verändern kann. Nach der Ankündigung des Referendums waren viele bis zum letzten Tag nicht sicher, ob am 25. September die Wahlurnen aufgebaut werden oder eben nicht. Während am Anfang eine ernsthafte oppositionelle und kritische Annäherung gegenüber dem Referendum vorhanden war, wurde mit jedem weiteren Tag in Richtung Referendum die Volksabstimmung aufgrund von feindlichen Positionen der regionalen Staaten und der politischen Gleichgewichte mehr und mehr eine nationale statt eine politische Sache. Menschen, die das Referendum nicht befürworteten, aber mit einem Nein dieselbe Position wie die kolonialistischen Besatzerstaaten eingenommen hätten, haben keine Stimme abgegeben. Gorran hat bis zur letzten Stunde gewartet und dann mit einer Erklärung die eigenen Unterstützer zum Wählen aufgerufen.

Nach dem Tod ihres Vorsitzenden Newşîrwan Mistefa wurde erwartet, dass Gorran Schwierigkeiten haben werde seine Kräfte zu sammeln. Doch in den Erklärungen vor und nach dem Referendum ist zu erkennen, dass sie bestrebt sind, erneut ihre Oppositionsrolle zu spielen. Damit einhergehend wird Gorran in letzter Zeit von internationalen Kräften als Gesprächspartner herangezogen und schreitet damit auf diplomatischer Ebene voran.

Ein neuer Verteilungskrieg in Kurdistan

In Hinsicht auf die politischen Gleichgewichte in Südkurdistan ist die Frage nun Folgende: Wird die PDK der Sieger oder Verlierer des Referendums sein? Und wird die YNK, die mit internen Problemen kämpft, nach dem Tod von Talabanî eine Einheit bleiben? Dies vorherzusehen ist schwer, aber in Gedenken an Talabanî ist nur dies möglich.

Doch letztendlich kann langfristig gesehen die nationale Frage, wie die politische, wirtschaftliche, sicherheitspolitische und gesellschaftliche Frage, nur im Rahmen nationaler Einheit und der demokratischen Nation gelöst werden. Es ist hierbei nicht entscheidend, ob der Status Föderalismus oder Konföderalismus heißt. Weder gespalten noch in Abhängigkeit kann Freiheit erlangt werden. Hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, als Kurdistan auf vier Nationalstaaten aufgeteilt wurde, wird in unserem Land ein neuer Verteilungskrieg geführt. Dieser Krieg, der die Neustrukturierung des Mittleren Ostens zum Ziel hat, birgt für uns große Chancen, aber auch große Risiken. Wir können Lehren aus dem letzten Jahrhundert ziehen und mit einer Politik der demokratischen nationalen Einheit große Errungenschaften erzielen. Andernsfalls werden hundertjährige Chancen verloren gehen. Deshalb durchleben wir als Gesellschaft eine historische Phase. Mit diesem Bewusstsein zu agieren, ist unverzichtbar.