Demokratisierung des Mittleren Ostens und Etablierung der radikalen und sozialistischen Demokratie

Die Schlüsselfunktion der kurdischen Frage

Ramo Menda, Redaktion Radio Azadi

Der Mittlere Osten mit seinen heutigen politischen Ordnungen, Staaten und Problemen ist maßgeblich ein Produkt westlich-imperialer Verteilungskämpfe und Gestaltung. Die heutigen zentralistischen Nationalstaaten sind ein Ergebnis dessen. Im Zuge und mit den Geschehnissen der letzten 100 Jahre, insbesondere seit dem Zerfall der Vielvölkerreiche und dem Ende des Ersten Weltkriegs, ist die bis heute ungelöste kurdische Frage zusammen mit anderen Problemen der Region entstanden. Die kurdische Frage umfasst die vier wichtigen mittelöstlichen Staaten: Iran, Türkei, Syrien und Irak. Eines der ältesten und das zahlenmäßig wohl drittgrößte Volk des Mittleren Ostens, die Kurden, ist seitdem in diesen Staaten als eine Minderheit ohne Rechte und Anerkennung fremdbestimmt worden. Seit länger als 100 Jahren umfasst die kurdische Frage also sowohl Unterdrückung und Ausbeutung als auch Aufstände und Konflikte in Kurdistan. Hier möchte ich nicht die Ursachen und Folgen thematisieren, sondern die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die kurdische Frage bzw. der Kampf der Kurden um ihre Selbstbestimmung die Funktion eines Schlüsselelements für die demokratische Neugestaltung und Stabilisierung der Region angenommen hat. Die verschiedenen kurdischen Akteure haben bei ihrem Befreiungskampf zwei wesentliche Stränge der Lösung der Kurdenfrage entwickelt, wobei beide die Selbstbestimmung der Kurdinnen und Kurden anstreben.

Es stellt sich die Frage, welcher Strang bzw. welches Modell neben bzw. mittels der Lösung der Kurdenfrage auch die Demokratisierung und Stabilisierung der gesamten Region und einen nachhaltigen Ausweg aus der globalen Krise des Politischen mit sich bringen kann. Die globale politische Krise lässt sich am Folgenden festmachen: Die Verwaltung und Selbstbestimmung der Völker und Gesellschaften ist seit dem mehr als 350 Jahre alten Westfälischen System grundsätzlich an Staatlichkeit gekoppelt/übertragen worden. Es ist sowohl eine Krise der repräsentativen Demokratie als staatliches Konstrukt als auch des internationalen Rechts. Der Ausweg aus der weltweiten Krise (von Kurdistan bis Katalonien) ist nur durch eine Vertiefung der Demokratie und die Übertragung des Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungsrechtes von den zentralistischen Staaten an die Menschen – Individuen und Kollektive – zu erreichen. Dies impliziert die Lossagung vom vertikalen System und die Etablierung einer horizontalen Ordnung. In den westlichen Gesellschaften wird sich die Erneuerung aufgrund der innersystemischen Sachzwänge und der verfestigten Struktur schwer realisieren lassen, wohingegen der Mittlere Osten um Kurdistan sich in einer Phase der Umwälzung und im Prozess einer Neugestaltung befindet. Es ist für revolutionäre, emanzipatorische, demokratische und linke Menschen und Gruppen eine Aufgabe, sich der Chancen und Gefahren der Gegenwart bewusst zu werden, die dortigen Geschehnisse im Fokus zu haben und die radikaldemokratischen revolutionieren Kräfte zu unterstützen.

Das radikaldemokratische und das nationalstaatliche Lösungsmodell

Wie gleich das Ziel der Selbstbestimmung der oben erwähnten beiden Stränge auch scheinen mag, unterschiedlicher und gegensätzlicher könnten die jeweiligen Modelle ihrer Realisierung nicht sein. Ich unterscheide hier zwischen dem (national)staatlichen und dem (radikal)demokratischen Lösungsstrang. Während die Kurden in der Türkei oder in Syrien eine radikaldemokratische Selbstverwaltung der kurdischen Gebiete in den jeweiligen Staaten, in denen sie neben anderen gleichberechtigt und selbstbestimmt ihren Platz haben, anstreben, haben die nordirakischen Kurden die Etablierung eines kurdischen Nationalstaates mit einer repräsentativen Demokratie zum Ziel. Wo die einen kurdischen Akteure den Nationalstaat zu überwinden versuchen und an seine Stelle die dezentrale und horizontale Politik und basisdemokratische Selbstverwaltung konföderaler Regionen setzen wollen, strebt der andere Lösungsstrang einen zentralistischen Nationalstaat an, in dem die Verwaltung und Souveränität der Gesellschaft an die Staatsorgane übergehen. Der eine Lösungsweg orientiert sich am Alten und Bisherigen, der andere Lösungsweg ist zwar eine uralte Sehnsucht der Menschen nach Freiheit, aber historisch und lebenswirklich gesehen etwas Neues. Der eine Weg ist explizit pluralistisch, der andere Weg klassisch unitär. Der radikaldemokratische Strang überwindet das an Nationalismus und Nationalstaatlichkeit gebundene Selbstbestimmungskonzept, wohingegen der andere Strang die Selbstbestimmung mit Nationalismus und Nationalstaatlichkeit definiert. Während die kurdische Bewegung um die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Abdullah Öcalan in Nordsyrien ein konföderales und kommunales Rätesystem ohne Hierarchien und Ungleichheit (!) zu etablieren versucht, betrachtet die PDK (Demokratische Partei Kurdistan) um die Person des Stammesführers Mesûd Barzanî das Recht und die Möglichkeit der Kurden der Selbstbestimmung mit einem Nationalstaat verbunden. Zumal die internationale Gemeinschaft und Ordnung das Recht der Völker auf Selbstbestimmung an Staatlichkeit gekoppelt haben.

Bedenkt man die mosaikartige politische, kulturelle, ethnische und konfessionelle Verfasstheit des Mittleren Ostens zusammen mit den mit dem Nationalstaatskonzept entstandenen und bis heute anhaltenden Problemen, dann erscheint der radikaldemokratische Strang nicht nur als der revolutionärere Weg, sondern im Hinblick auf die Probleme und Lösungsmöglichkeiten auch als der realistischere Pfad.

Ganz aktuell: Während der nationalstaatliche Strang am 16. Oktober 2017 als Reaktion auf das Unabhängigkeitsreferendum vom 25. September von der irakischen Zentralregierung – gelenkt und gestützt vom Iran und unterstützt und begrüßt von westlichen Staaten – angegriffen wurde und seine Erfolgschancen auf ein Minimum reduziert wurden, befreiten die (Radikal)Demokratischen Kräfte Syriens QSD (engl. SDF – Syrian Democratic Forces), ein heterogenes militärisches Ensemble, dessen Teil auch die kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) sind, am 17. Oktober die sogenannte Hauptstadt des IS, Raqqa.Kräfte der YPJ nach der Befreiung Raqqas

Die Rolle der Türkei, des Irans und anderer Staatsmächte

Doch sowohl das nationalstaatliche als auch das radikaldemokratische Modell der Kurden werden vom Iran und der Türkei und anderen regionalen und internationalen Staaten abgelehnt und bekämpft. Neben der Selbstverwaltung Rojavas in Nordsyrien stößt auch das Unabhängigkeitsreferendum der Kurden im Nordirak bzw. in Südkurdistan auf Ablehnung und bringt die historischen Rivalen – den schiitischen Iran und die sunnitische Türkei – zusammen. Die Ausdehnung des sektiererischen iranischen Machtraums und die neoosmanischen Ambitionen der Türkei verschärfen und vertiefen die Konflikte und Unterdrückung. Beide Staaten, aber auch Saudi-Arabien oder andere Golfstaaten, haben den politischen Islam als Ideologie des Überbaus. Dies impliziert einen globalen faschistoiden Geltungsanspruch und wird langfristig für noch größere Probleme sorgen.

Die Lösung der kurdischen Frage wird die politische Ordnung nicht nur Syriens und des Iraks grundlegend verändern, sondern auch den Iran und die Türkei mit in diesen Prozess des Umbruchs und der Neugestaltung einbeziehen. Insofern gilt es mittelfristig beide Lösungswege der Kurden, insbesondere den der radikaldemokratischen Kurden, zu unterstützen, wenngleich sich langfristig einer durchsetzen oder ein innerkurdischer Kompromiss zwischen den beiden Strängen herausstellen wird.

An dieser Stelle ist es sinnvoll anzumerken, dass es weder der Türkei noch dem Iran um die PKK geht, sondern um die Unterdrückung, Beherrschung und Ausbeutung des geostrategisch wichtigen und an natürlichen Ressourcen reichen Kurdistans. Die entschiedene Haltung gegen die Selbstbestimmtheit der Kurden resultiert hieraus. Und weil die PKK dagegen Widerstand leistet, unternehmen die Türkei und der Iran alles, um diesen Kampf zu unterdrücken. Ein Sieg über die PKK bedeutet für sie einen Sieg über den Freiheits- und Demokratiewillen der mittelöstlichen Gesellschaften und die Fortführung ihres rassistischen Kolonialismus über Kurdistan. Damit zusammenhängend verhindern das Verbot und die Kriminalisierung der theoretisch und praktisch durchaus revolutionären und emanzipatorischen PKK und der kurdischen Bewegung seitens der westlichen Staaten, insbesondere der BRD, die Lösung der kurdischen Frage und die Etablierung der Demokratie und des Frieden im Mittleren Osten. Doch auch gegen das Unabhängigkeitsreferendum der irakischen Kurden haben die BRD und der Westen Stellung bezogen und den kriegerischen Vorstoß der irakischen Zentralregierung in Kerkûk öffentlich begrüßt.

Internationalistische und revolutionäre Perspektive und Aufgabe

Die politische Ausprägung der derzeit vielschichtigen Krise der Welt ist die Krise der repräsentativen Demokratie. In der französischen, russischen oder amerikanischen Revolution gingen hunderttausende Menschen auf die Straße, und zwar gegen ausbeuterische und despotische Monarchen, Könige und Zaren. Die treibende Kraft für die Umbrüche war der Wunsch der Menschen nach Demokratie, welche mit dem Slogan »Herrschaft aller Menschen über alle Menschen« ausgedrückt wurde. Diese revolutionären Prozesse mündeten in der repräsentativen Demokratie; die wahrliche, radikale Demokratie von unten nach oben blieb dabei auf halber Strecke stecken. Obwohl Könige, Monarchien und Feudalismen überwunden werden konnten, blieb das Wesen des »Königtums« im Mantel der Nationalstaaten und der repräsentativen Demokratie bestehen. Gegenwärtig folgt der politische Souverän aufgrund struktureller Bedingungen des Kapitalismus eher den Interessen von Eliten und Unternehmen als denen der Menschen und der Gesellschaft. In Zeiten von Globalisierungsprozessen und des entfesselten Kapitalismus bergen solche Verhältnisse große Gefahren in sich. Aufgrund der kapitalistischen Verwertungslogik und seines expansiven Charakters sind anhaltende Kriege und Ungleichheiten, Unterdrückung, Ausbeutung sowie die Verhinderung basisdemokratischer Verhältnisse zentrale Charaktermerkmale der gegenwärtigen Ordnung und Staatspolitik. Die repräsentative Demokratie ist auch deshalb in der Krise, weil mit demokratischen und legalen Mitteln Despoten, Oligarchen und Sexisten wie Erdoğan, Putin oder Donald Trump an die Macht gewählt werden, deren gefährliche Politik in der globalisierten Welt in das Leben und die Zukunft des gesamten Planeten einwirkt.

Das basisdemokratische, feministische und ökologisch ausgerichtete Gesellschaftsprojekt in Nordsyrien, Rojava, der eine kurdische Strang, bringt die Chance mit sich, eine echte und/oder sozialistische Demokratie in Syrien mit Blick auf den gesamten Mittleren Osten zu verankern. Sein ökologisch, kooperativ und am Gemeinwohl orientiertes Wirtschaftsmodell hat das Potential den Kapitalismus zu überwinden. Ferner impliziert es auch die Möglichkeit, langfristig die politische Krise durch eine tiefere und breitere Demokratisierung, durch die Selbstermächtigung, Selbstverwaltung und Selbstbestimmung der Gesellschaften zu realisieren. Die treibende Kraft und das Schlüsselelement dabei ist der Wille der Kurden zur Selbstbestimmung. Insofern gilt es sowohl gegenwärtig als auch mit Blick auf die nächsten Jahre, beide kurdische Bestrebungen danach zu unterstützen. Die Unterstützung für dieses Modell, wie aktuell zu sehen, wird nicht von staatlichen Akteuren und Entitäten kommen, sondern ist die Aufgabe der deutschen und internationalen Linken.

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