Die Auswirkungen des Einflusses der kapitalistischen Moderne

Counter-Strike in Hileli

Roza, Internationalistin in Rojava

Hileli liegt am Rande der syrisch-türkischen Grenzstadt Qamişlo (Al-Qamischli). Vor dem Anwachsen der Stadt war es ein Dorf am Stadtrand, das immer weiter in die Stadt integriert wurde. Es finden sich jedoch nach wie vor viele der dörflichen, kommunalen Gesellschaftsstrukturen im alltäglichen Leben der Menschen. Hileli ist einer jener Stadtteile Qamişlos, der bereits vor dem Beginn der Revolution in Syrien stark mit der kurdischen Bewegung und deren Organisationen verbunden war. Viele der dort lebenden Familien haben ihre Kinder als KämpferInnen gegen Daesch (Islamischer Staat, IS) und das syrische Regime verloren. Zahlreiche Jugendliche haben sich den militärischen Strukturen zur Verteidigung der Gesellschaft angeschlossen. Trotz der starken Politisierung der Jugend und der gut verankerten kommunalen Strukturen lassen sich auch hier die Auswirkungen der kapitalistischen Moderne wiederfinden, von denen die Jugend weltweit betroffen ist.

Wie im Rest Syriens gibt es auch hier eine Fluchtbewegung. Zahlreiche junge Menschen verlassen Rojava, sie wollen nach Europa. Neben der schwierigen Situation, hervorgerufen durch den militärischen und ökonomischen Krieg gegen das demokratische Projekt Rojava, ist es ein verzerrtes Bild von Europa, das die Jugend motiviert, ihr Land auf der Suche nach einem neuen Leben zu verlassen. Über soziale Medien und prowestliche Fernsehsender wie Rudaw-TV wird ihnen Europa, insbesondere Deutschland, als Ort des Wohlstands, des Erfolgs und der »Freiheit« präsentiert.

Gleichzeitig stellen die PropagandistInnen der kapitalistischen Moderne das Leben in Rojava als rückständig, minderwertig und langweilig dar. Sie wecken in den Jugendlichen den Wunsch nach Abwechslung, Unterhaltung und Konsum. Und so ist aus fast jeder Familie in Hileli jemand in Europa oder der Türkei, auf der Suche nach »Freiheit« und »Sicherheit«, die ihnen von den kapitalistischen Staaten versprochen werden. Damit verlernt die Jugend, auf ihre eigene Kraft und die Kraft der Gesellschaft zu vertrauen und selbst Lösungen für die gesellschaftlichen Probleme zu finden. Vielmehr soll sie sich in die Abhängigkeit des staatlichen Systems begeben und ihre sozialen, demokratischen Strukturen hinter sich lassen.

Auf der anderen Seite gibt es immer mehr Menschen, die bereuen, ihr Leben in Rojava verlassen zu haben, weil sie gesehen haben, dass die vermeintliche Freiheit in Europa eine individualistische ist. Und weil sie erkannt haben, mit welcher Abhängigkeit von den kapitalistischen Staaten sie einhergeht.

Mit dem Versprechen, die Welt sehen zu können, spricht die kapitalistische Moderne gerade die Jugendlichen an, die voller Energie stecken, die Welt kennenzulernen und zu verstehen. Dieses Versprechen ist aber mit der Gefahr verbunden, in das kapitalistische System individueller Ausbeutung, Abhängigkeit und Identitätslosigkeit integriert zu werden. So wird verhindert, dass die Jugend ein Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Vorreiterrolle bei Aufbau und Verteidigung der neuen Gesellschaft in Rojava entwickelt.

Ähnlich wie in Europa wird auch hier die Jugend mit einem konsumorientierten und sexistischen Schönheitsideal konfrontiert. Mit dem Wunsch, den Moden und Trends zu entsprechen, wird sie von der gesellschaftlichen Kultur Rojavas und ihrer kulturellen Identität entfernt und individualisiert. Die westliche Mode, mit ihrem Fokus auf das Äußere, wird ihnen als modern und »entwickelt« vorgegaukelt.

Eines der Mittel, mit deren Hilfe sich die Einflussnahme der kapitalistischen Moderne auf die Jugend durchsetzt, sind die weit verbreiteten Computerspiele. Allein in Hileli gibt es vier sogenannte »Counter«, in denen Jugendliche nach der Schule bis spät in die Nacht Counter-Strike spielen. So beschäftigen sie sich weniger mit der Realität, in der sie leben, und werden passiv. Ihre soziale Identität definiert sich über das Spielen, und die Counter werden zu den Stätten ihrer sozialen Beziehungen.

Ähnlich wie in Europa wird auch hier die Jugend mit einem konsumorientierten und sexistischen Schönheitsideal konfrontiert. Mit dem Wunsch, den Moden und Trends zu entsprechen, wird sie von der gesellschaftlichen Kultur Rojavas und ihrer kulturellen Identität entfernt und individualisiert. Die westliche Mode, mit ihrem Fokus auf das Äußere, wird ihnen als modern und »entwickelt« vorgegaukelt. Das der Jugend innewohnende Streben, neue Wege zu gehen, sich von jenen der Vorgängergeneration zu lösen, wird durch das System in die Bahnen einer »Jugendkultur« der Technologie, von Handys und Computern gelenkt, die die Gefahr birgt, die sozialen Kontakte beliebig und flüchtig zu machen.

Und die kapitalistische Mentalität, immer im Trend liegen zu wollen, alles kaufen zu können und alles neu haben zu wollen, trennt die Jugend vom gesellschaftlichen Wissen, der Wertschätzung und der Bedeutung, das zum Leben Notwendige selbst herstellen zu können. So sind viele Jugendliche beeinflusst, verlieren das Bewusstsein über ein kollektives, kommunales und ökologisches Leben und streben nach der Möglichkeit des Konsums und der Moderne. Gerade in Städten ist der Einfluss der Medien, des Konsums und der Anonymität stark, die die gesellschaftlichen Strukturen untergraben. So ist es eine große Herausforderung für die Jugend, eine eigene jugendliche, revolutionäre Kultur zu entwickeln, die sich von der vorigen Generation abgrenzt.

Die Loslösung von den familiären Strukturen, die nicht selten geprägt sind durch patriarchale Züge, ist für die Jugend ein wichtiger Prozess. Und so suchen viele Jugendliche jene Orte auf, an denen sie sich jenseits der als beengend begriffenen Strukturen der Familie treffen können. In den letzten Jahren der Revolution in Rojava wurden daher etliche Jugendzentren aufgebaut, die den Raum für die Entwicklung einer revolutionären Kultur und eines neuen Zusammenlebens bieten. Doch zeigt sich auch an diesen Orten der Einfluss der kapitalistischen Moderne. Und so besteht die Gefahr, dass sich die Jugendlichen in den Zentren mit kapitalistischen und sexistischen Fernsehserien und Internetspielen beschäftigen und der Umgang untereinander u. a. von egoistischen, respektlosen Verhaltensweisen bestimmt wird.

Viele der Jugendlichen aus Hileli arbeiten in den gesellschaftlichen Strukturen, sei es als LehrerInnen oder im Bereich der Sicherheit. Oft geschieht dies aber ohne das explizite Bewusstsein ihrer kollektiven Bedeutung und Verantwortung, sich mit dem Bestehenden niemals zufriedenzugeben und die gesellschaftliche Organisierung weiterzubringen. Und es zeigt sich eine große Passivität, an den Strukturen der Selbstverwaltung sowie an Wahlen der Kommunen oder den Volksversammlungen zu partizipieren. Das sind die Auswirkungen eines fehlenden Bewusstseins, die Partizipation an diesen Strukturen nicht auf ein Lohnarbeitsverhältnis zu begrenzen, sondern alle Bereiche des Lebens in einem System der Selbstverwaltung zu organisieren, sei es die Versorgung mit Brot oder das System der Müllentsorgung.

Der Krieg, wie er in Syrien geführt wird, ist ein Ausdruck der Krise der kapitalistischen Moderne. Er hat eine starke Auswirkung auf die Jugend in Rojava. Sie ist nicht nur physischer Art, sondern betrifft auch die Mentalität und die Psyche. Gerade die Grausamkeit, mit der Daesch diesen Krieg führt, hat ohne ein starkes ideologisches Bewusstsein einen großen destruktiven Einfluss auf die Jugend. Nach traumatisierenden Erfahrungen suchen dann einige Jugendliche Zerstreuung und Verdrängung im Alkohol, auch wenn dieser in der Gesellschaft traditionell und ebenso von der politischen Bewegung nicht akzeptiert wird. So werden Jugendliche von der Realität, in der sie leben und die sie erfahren haben, getrennt und gleichzeitig vom Alkohol abhängig gemacht.

Neben den militärischen Angriffen Daeschs, des syrischen Regimes und der faschistischen Türkei sind es die Attacken der kapitalistischen Mentalität auf die Jugend, die das Ziel haben, die Revolution zu schwächen. Und da deutlich geworden ist, dass die Revolution militärisch nicht mehr aufzuhalten ist, werden diese subtilen Angriffe weiter zunehmen. Sie bestehen insbesondere darin, in den Jugendlichen den Wunsch nach einem kapitalistischen und staatlichen Lebensstil zu stärken, basierend auf Konsum, Individualismus und der Entwicklung von gesellschaftlichen Hierarchien.

Umso wichtiger ist die Arbeit der RevolutionärInnen in Rojava. Der Jugend werden Bildungsmöglichkeiten eröffnet, und die Entwicklung einer revolutionären Jugendkultur und -identität wird gestärkt. Diese Arbeit erfordert die tägliche Auseinandersetzung mit den Jugendlichen in der Schule, in den Familien, in den Countern und in den Jugendzentren. Sie erfordert die tägliche Diskussion über die Wünsche und Ziele der Jugendlichen und deren Organisierung in den bestehenden revolutionären Strukturen. Dies ist der Kampf der RevolutionärInnen, der in jedem Moment gegen die kapitalistische Moderne und ihre Mentalität sowie für den Aufbau der demokratischen Moderne geführt wird.