Dengbêjî als Informationsträger der Geschichte

Die Bewahrung des kollektiven Gedächtnisses

S. R. Jalali

»Geschichtsschreibung« im klassischen Sinne beruht auf mündlich überlieferten Traditionen, speziell mündlich überlieferter Geschichte, die lange Zeit ignoriert wurde und heute immer noch ignoriert wird. »Anerkannte« Geschichtsschreibung basiert hauptsächlich auf archäologischen Funden, Dokumenten und lehnt mündlich überlieferte Geschichte seit langem ab. Denn für diese Überlieferungen gibt es keine »sicheren« Beweise, da sie teilweise nicht durch physische Nachweise gestützt werden, sondern sich nur auf menschliche Überlieferung verlassen wird.

Wie wir wissen, basiert mündlich überlieferte Geschichte hauptsächlich auf den Schilderungen von Augen- und Ohrenzeugen. Sie ist auch als »Geschichte des Alltags« bekannt, weil diese Art als Geschichtsschreibung über Könige, populäre Personen, Siege oder andere bekannte Themen der politischen Geschichte nicht interessant ist. Das alltägliche Leben, gewöhnliche und außergewöhnliche Ereignisse, Lebensgeschichten und lokale Ereignisse können Themen der mündlich überlieferten Geschichte sein.

Mündlich überlieferte Geschichte wurde in akademischen Kreisen lange Zeit angezweifelt. Obwohl ihre systematische Erforschung in den USA bereits in den 1930er Jahren begann und in Europa in den 1960ern, wurde sie in der akademischen Welt nicht anerkannt. In der Türkei begann die systematische Forschung erst in den 90er Jahren und nur wenige Universitäten haben sich auf diesem Gebiet spezialisiert.

Auch wenn mündlich überlieferte Geschichte weit von der akademischen Welt entfernt ist, war sie sehr verbreitet. Gerade an Orten, an denen Kultur mehr auf mündlicher Überlieferung basiert als auf schriftlich Fixiertem. An dieser Stelle sollten wir festhalten, dass beides – entgegen allgemeiner Ansicht – gleich wichtig ist. Klassische Historiker argumentieren noch immer mit der Bedeutung schriftlichen Materials. Andererseits werden neue Forschungsbereiche zum Thema mündlich überlieferte Geschichte entwickelt.Dengbêj-Sängerinnen auf der Hamburger Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern III« | Foto: Babak Bataghva

Im Falle von Gemeinschaften der Kurdisch-Kurmancî, besonders vor den 1980er Jahren, sprechen wir von einer in sich geschlossenen Kultur mit vielen verschiedenen Varianten. Abgesehen von der Behauptung, Kurmancî sei, anders als andere Dialekte, ein nicht schriftlicher Dialekt der kurdischen Sprache, hängt die Mündlichkeit dieses Dialekts auch mit der hohen Analphabetenrate bei den in der Türkei lebenden kurdischen Kurmancî-Angehörigen zusammen.

Der Hauptgrund für seine mündliche Verwendung verbirgt sich jedoch immer noch im Kontext des Kurmancî-Dialekts und in der Kultur der Kurmancî-Gemeinschaften. Wenn wir also über Dengbêjîs und Kilams sprechen, sollten wir uns außer auf die Rolle der Mündlichkeit auch auf den Inhalt dieser auf tatsächlichen Ereignissen beruhenden Erzählungen konzentrieren. So können wir die über Dengbêjîs vermittelten Ereignisse, die Rolle der Dengbêjîs und ihre Wirkung auf das Publikum verstehen, erfassen und nachvollziehen.

Dengbêjîs und Kilams sind vorwiegend Erzählungen, auch wenn sie in musikalischer Form präsentiert werden. Man kann sagen, dass Kilams – im Vergleich zu anderen kulturellen Praktiken wie Strans und Cîroks (Lieder und Geschichten), die eher von Emotionen und der imaginären Welt inspiriert werden – fast vollständig auf Realität basieren. Natürlich sind darin Übertreibungen enthalten, wie in nahezu allen traditionellen Erzählungen – beispielsweise sind die Frauen schön, die Männer mutig und die Pferde schnell etc. –, sie überschreiten dabei aber nie die Grenzen der Realität. Das Pferd eines Helden zum Beispiel, das immer sehr schnell war, aber nie fliegen konnte, oder der mutige Held, der nie allein eine Armee von Tausenden besiegen konnte. Um es kurz zu machen, Übertreibungen in Kilams werden nur dazu genutzt, die Erzählungen auszuschmücken, und nicht, um die Realität zu verzerren.

Der Erzähler/die Erzählerin (Dengbêj) bezieht sich in die Geschichte mit ein, hat deshalb keine objektive Sicht auf die erzählten Ereignisse, berichtet beispielsweise von einer Konfliktsituation aus einer bestimmten Perspektive; der Zuhörer versteht also, auf welcher Seite der Autor steht, obwohl dieser seinen Standpunkt nicht klar benennt. Es ist jedoch kein Hindernis für den Autor, auch den Mut und die Schönheiten der anderen Seite zu sehen. Manchmal erleben wir eine Situation sogar genauso wie diejenige, in der Homer in der Ilias den Kampf aus der Sicht der Achäer-Armee beschreibt, obwohl er eigentlich auf Hektors Seite steht.

Dabei handelt es sich natürlich nicht um eine feste Regel. Es gibt auch auf Bestellung vorgetragene Kilams, die den lokalen Ağa (Großgrundbesitzer) thematisieren und loben. Die Zahl bestellter Kilams hat aber stark abgenommen und sie sind nicht so berühmt wie die anderen Kilams, weil das kollektive Gedächtnis sie weitestgehend ausschließt. In ihnen wird manchmal dem lokalen Ağa zuliebe die Realität verändert, damit sie ihm gefallen, als Gegenleistung gibt es Geschenke vom Ağa. Es gibt sogar Legenden, dass Kilams genutzt wurden, um Familienstreit zu schlichten.

Diese Art der Kilams macht jedoch nur einen kleinen Teil der Gesamtheit der Werke aus. Generell verstehen sich die Dengbêjîs als Übermittler vergangener Ereignisse, die dabei auf ihre eigenen Meinungen und Gefühle Bezug nehmen, um die Erzählung interessanter zu gestalten. Dieses Ausschmücken der Ereignisse ist unvermeidlich, damit das Publikum den teilweise stundenlangen Erzählungen folgen kann; diese muss der Autor lebhaft gestalten und über einen einfachen Bericht der Ereignisse hinausgehen.

Schriftlich festgehaltene Geschichtsschreibung ist in der kurdischen Kultur nicht weit verbreitet. Die Aufgabe der Überlieferung übernahmen die Dengbêjîs mit Hilfe der Kilams. Auch wenn es ihnen hauptsächlich darum geht, erlebte Ereignisse in andere Regionen zu tragen, sind sie sich dennoch auch darüber im Klaren, dass die überlieferten Geschichten auch für nachfolgende Generationen von Bedeutung sein könnten.

Die Charaktere, die in Dengbêjîs bzw. Kilams vorkommen, haben wirklich gelebt; Kilams beziehen keine imaginären Helden mit ein. So sind Dengbêjîs ein Mittel zur mündlichen Weitergabe von Geschichte. Das kann durch das Forschen nach den in den Erzählungen thematisierten Menschen und Ereignissen bewiesen werden. Und wir können damit fortfahren, das zu verdeutlichen.

Kilams wie »Kilama Ferzende Begê« und »Kilama Seyîtxan« und andere Dengbêjîs sind Geschichten, die aus dem wahren Leben gegriffen sind, die sich verbreitet haben, deren Inhalt sich aber im Hinblick auf Themen, Charaktere, Orte und Chronologie nie geändert hat. Wegen der mündlichen Weitergabe bringt jeder Erzähler automatisch seine Perspektive mit ein. Allgemein kann gesagt werden, dass diese Erzählungen aktuelle Geschehnisse kontinuierlich an andere Generationen weitervermitteln.

Daher wäre es nicht falsch, Dengbêjîs als einen Weg zu bezeichnen, in der kurdischen Kurmancî-Kultur Geschichte zu überliefern. Einige Charaktere und Ereignisse, die in Dengbêjîs beschrieben werden, können schriftlich belegt werden.

Ferzende Begê war der Sohn von Silêmanê Ehmed vom Hesenan-Stamm in Mûş-Melezgird (Muş-Malazgirt). Er schloss sich den Şêx-Seîd-(Sheikh-Said-)Aufständen von 1925 an und ging nach ihrer Niederlage in den Iran. Nach Beginn des Agirî-(Ağrı-)Widerstands überquerte er die Grenze erneut und schloss sich dieser Bewegung an. Nach der Niederlage dieses Aufstands kehrte er in den Iran zurück. Dort wurde er bei einer Auseinandersetzung mit iranischen Soldaten verletzt und gefangen genommen. Er wurde ins Qajar-Gefängnis gebracht, 1936 oder 1937 wurde er dort getötet oder starb.

Dem Bericht Abidin Özmens, des ersten Generalinspektors der türkischen Republik, zufolge waren »viele Menschen wie Hesenali Ferzende, Hesanali Ado, Yado, Alican, Seyithan, Gevali Adil, Izzet, Musa, Simko, Cebranli Halit, Hasenanli Halit, Bitlisli Mazlup Ziya, Ihsan Nuri Hoca, ob tot oder lebendig, Helden für die Bevölkerung«.

Ein anderes Beispiel ist Seyîtxan, der in der Geschichte »Kilama Mala Seyîtxan« vorkommt. Sein vollständiger Name war Seyîtxanê Ûsivê Seydo. Er war in der Bevölkerung auch als Seyîtxanê Kerr (der taube Seyîtxan) bekannt, denn er hörte so schlecht. Er gehörte zum Seyîdan-Zweig des Hesenan-Stammes. Er beteiligte sich an den Şêx-Seîd-Aufständen und ging nach ihrer Niederlage mit einer Gruppe von Freunden – unter ihnen auch sein Bruder Teyfîq – nach Syrien. Mit ihnen schloss er sich dem Agirî-Widerstand an. Nach dem Scheitern dieser Aufstände lebte er eine Zeit lang in den Bergen und beteiligte sich an Auseinandersetzungen mit den Regierungskräften. Bei einem solchen Gefecht in der Region Keyirê Samiyê wurde er 1932 getötet, als er die Grenze nach Syrien zu überqueren versuchte.

Ferzende und Seyîtxan, die beide in mehreren Kilams vorkommen, sind sehr bekannt, auch dafür, wie und wo sie gelebt haben. In der neueren Geschichte wurde auch nach schriftlichen Unterlagen über sie geforscht, aber der wesentliche Ursprung für das Wissen der Bevölkerung über sie sind die Dengbêjîs. Jedes Kilam hat einen Platz im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft, als historische Quelle. Die Geschichten existieren bis heute, da sie trotz Verfolgung und Assimilation immer weitergegeben wurden. In dieser Gesellschaft, in der die Analphabetenrate sehr hoch ist, wird Geschichte also mit Hilfe der Dengbêjîs und Kilams von Region zu Region und von Generation zu Generation weitergegeben, ohne irgendwo schriftlich festgehalten zu werden.

Wichtig dabei ist, dass man von Ausnahmen abgesehen sagen kann, dass es sich bei den in Kilams vorkommenden Charakteren um Menschen handelt, die wirklich gelebt haben, die geschilderten Ereignisse haben wirklich stattgefunden. Was der Dengbêj tut, ist lediglich das Ausschmücken der realen Personen und Ereignisse. Dies ist eng mit der Rolle eines Dengbêjs verbunden, da er sich als mehr als nur ein klassischer Dichter oder Künstler versteht, nämlich als ein Historiker.

Kurz gesagt, Dengbêjîs können durchaus als ein Weg zur Weitergabe von Geschichte in Kurmanci-kurdischen Gebieten gewertet werden. Als Teil des kollektiven Gedächtnisses kurdischer Menschen haben Dengbêjîs mit Hilfe der Kilams vergangene Geschehnisse in andere Regionen befördert und an nachfolgende Generationen weitergegeben. In diesem Sinne können Dengbêjîs mit anderen oralen Werkzeugen verglichen werden, die eine Brücke schlagen zwischen Vergangenheit und Gegenwart.