Die Berichterstattung der »jungen Welt« zum Syrien-Krieg und seinen Hintergründen

Washingtons Bodentruppen

Robert Jarowoy, August 2017

Demokratische Kräfte Syriens in RaqqaAls jemand, der den kurdischen Befreiungskampf seit 1984 sehr genau beobachtet und stets aktiv zu unterstützen versucht hat, habe ich mich über die Berichterstattung in der »jungen Welt« zu diesem Thema sehr gefreut. Nick Brauns und andere haben nach Reisen in die kurdischen Gebiete in der Türkei, in Syrien (Rojava) und Irak (die Kurdische Autonomieregion/Barzanî) sehr fundierte Berichte und Einschätzungen geliefert.

Was aber die freie Journalistin Karin Leukefeld abwechselnd aus Syrien und der BRD als Syrien-Expertin – ebenfalls in der »jungen Welt« und auf Vortragsreisen – verbreitete, hat mich derart erzürnt, dass es mich bewogen hat, diesen Artikel zu schreiben.

Die meisten ihrer Artikel habe ich nicht gesammelt, weswegen ich hier keine Zitaten-Zusammenstellung erbringe, sondern versuche, ihre in meinen Augen gegen den kurdischen Befreiungskampf gerichtete Strategie zu analysieren.

1: Sie bezeichnet die Volks- und Frauenbefreiungseinheiten YPG/YPJ als Washingtons Bodentruppen. Jede/r weiß, dass Kobanê mit ein paar leichten Waffen ohne die Luft-Unterstützung und auch Waffenlieferungen durch die USA gegen den Islamischen Staat (IS) nicht hätte gehalten werden können. Das ganze Projekt Rojava als ein in unserer Zeit wohl einmaliges basisdemokratisches/rätekommunistisches Modell wäre mit all seinen Menschen von den IS-Banden vergewaltigt und massakriert worden. Außer den USA hat niemand irgendeine Art von Unterstützung angeboten, geschweige denn erbracht. Dass die Türkei den IS, vor allem aber den Al-Kaida-Ableger Al-Nusra-Front aktiv unterstützt hat, ist auch bekannt. Ein kemalistisch-sozialdemokratischer CHP-Abgeordneter wurde wegen seiner diesbezüglichen Enthüllungen in der Cumhüriyet nicht etwa wegen Verleumdung der Türkei, sondern wegen Geheimnisverrats im Rahmen einer eintägigen Gerichtsverhandlung vor einem Monat zu 22 Jahren Haft verurteilt und im Gerichtssaal festgenommen.

Was also hätten die YPG machen sollen? Vor dem IS und seinen Verbündeten Al-Nusra und Türkei kapitulieren und um die Anwendung der Genfer Konvention im Kriegsvölkerrecht bitten? Bei den sich auf die Scharia berufenden Mörderbanden oder dem türkischen Staat, der parallel zu den Ereignissen in Kobanê/Rojava die Angriffe auf die kurdischen Städte Cizîr (Cizre), Nisêbîn (Nusaybin) oder die Innenstadt Sûr von Amed (Diyarbakır) vorbereitete? Oder gar auf die mit der Türkei aufs engste verflochtene Autonomieregierung in Nord-Irak unter Barzanî vertrauen, deren Peşmerga-Truppen die eigene Bevölkerung vor allem die ÊzidInnen in Şengal schutzlos den heranrückenden Banden des IS auslieferte und gleichzeitig die Grenze nach Syrien/Rojava schlossen?

Die Russen waren nicht in Sicht, die EU schwieg, Iran war damit beschäftigt, kurdische FreiheitskämpferInnen in seinen Foltergefängnissen hinrichten zu lassen.

In dieser Situation traten die US-AmerikanerInnen auf den Plan. Natürlich nicht, weil sie ein einzigartiges basisdemokratisch-rätekommunistisches Projekt unterstützen wollten, sondern weil sie das Bündnis Russland/Assad/Iran verhindern wollten, das Bündnis IS/Türkei/Saudi-Arabien/Katar (trotz aller momentan bestehenden Probleme innerhalb dieses Bündnisses) ihnen aber auch unheimlich wurde. Da ihre Versuche, mit der Freien Syrischen Armee (FSA) eine in ihrem Sinne operierende Kraft aufzubauen, waren kläglich gescheitert. Die einen waren nur am Geld interessiert und völlig korrupt, die anderen kollaborierten mit der Al-Nusra-Front oder dem IS, und die verbliebenen wirklich demokratisch orientierten Kräfte haben sich im Rahmen der FSA den YPG angeschlossen. Als die AmerikanerInnen das realisierten, haben sie sich entschlossen, die YPG/FSA zu unterstützen, um Raqqa befreien zu lassen, bevor dies der syrischen Armee mit russischer Luftunterstützung gelingen würde.

2: Sie sieht das Assad-Regime als legitim an. Das Assad-Regime als Teil der panarabischen Baath-Bewegung in den 1950er und 1960er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat unter Führung des Vaters des heute in Damaskus herrschenden Assad-Sprosses 1962 die Pässe Hunderttausender KurdInnen eingezogen und sie zu staatenlosen AusländerInnen erklärt. Als in den 1980er Jahren Saddam Hussein mit Giftgas (Halabdscha-Massaker) gegen die aufständischen KurdInnen mit ihren Peşmerga-Einheiten unter Führung Barzanîs vorging, wurde er von der Luftwaffe Assads brüderlich unterstützt, gleichwohl die Assad-Dynastie (Hafiz und jetzt Baschar) wegen ihres alawitisch-schiitischen Hintergrundes eigentlich stets Iran näher stand als dem insbesondere unter Saddam Hussein sunnitisch bestimmten Irak. Aber zwischen Panarabismus auf der Grundlage der Baath-Partei, aus der auch Saddam Hussein kam, und schiitischer Brüderschaft mit Iran wechselte die Waffenbrüderschaft mitunter auf der Basis, dass man sich in diesem Punkt auch mit der damals noch kemalistisch-laizistischen Türkei einig war, die nach Selbstbestimmung drängenden KurdInnen auf keinen Fall zum Zuge kommen zu lassen, zumal diese zunehmend demokratische und Frauenrechte, aber auch Rechte für andere ethnische und religiöse Minderheiten einforderten. So für die assyrischen ChristInnen, die AramäerInnen, die ArmenierInnen, TscherkessInnen und die ÊzîdInnen. Dass dies nun auch noch unter Führung der kommunistisch orientierten PKK auf der theoretisch-organisatorischen Grundlage ihres Vordenkers und Vorsitzenden Abdullah Öcalan erfolgte, schweißte die Allianz der imperialistisch geführten reaktionären Regime zusammen, wobei das Assad-Regime völkerrechtlich genauso wenig legitim ist wie irgendein anderes Regime im Mittleren Osten. Und dazu gehören auch Israel und die Türkei mit ihrer Nichtanerkennung und Unterdrückung der Selbstbestimmungsrechte der PalästinenserInnen bzw. KurdInnen. Legitim ist in der Region in meinen Augen allein die demokratische Selbstverwaltung des Rojava-Projektes.

3. Sie behauptet, dass es neben der Partei der Demokratischen Einheit PYD diverse andere relevante kurdische Parteien in Rojava gebe. Seit den 1980er Jahren gab es immer wieder Versuche, irgendwelche in Europa alimentierten Exil-Organisationen als »Alternative« zu den real existierenden Massenorganisationen wie der Demokratischen Partei der Völker HDP in der Türkei oder PYD in Rojava aufzubauen. Das ist alles kläglich gescheitert, weil weder in der Türkei noch in Syrien irgendjemand davon weiß oder ein Interesse daran hat, was diese in Konferenzen in Berlin, London oder anderswo an Erklärungen verbreiten, während die Menschen in ihrer Heimat um ihr Überleben kämpfen, sterben, überleben und nebenbei noch ein gesellschaftlich einmaliges Modell eines gerechten, friedlichen und nicht von der kapitalistischen Warenwirtschaft bestimmten Lebens in der konkreten Realisierung umzusetzen versuchen. Erfolgreich war der Versuch der Installierung eines korrupten, von den imperialistischen Führungsmächten abhängigen Systems lediglich in Nord-Irak in der kurdischen Autonomiezone, die sich jetzt mittels eines Referendums auch formal von Irak loslösen möchte. Hier hat die vom Barzanî-Stamm dominierte Region aufgrund ihrer Ölvorkommen unter Ausnutzung des an seinen inneren Widersprüchen zwischen SunnitInnen, SchiitInnen und KurdInnen auseinandergefallenen Irak mit Unterstützung der Türkei und vor allem Deutschlands ein völlig skurriles System errichtet, das ich selber erlebt habe. Bestimmend sind türkische Baufirmen, deutsche Hightech-Firmen wie Siemens und Bosch sowie Toyota. Die vor 20 Jahren gegen Saddam Hussein kämpfenden Peşmerga-Einheiten sitzen als gut bezahlte Rentner in den Teehäusern, spielen Tavli (Backgammon) und sind, als der IS vorrückte, sofort abgehauen. Die PKK haben sie vor vielen Jahren versucht, aus den Kandil-Bergen zu vertreiben, was ihnen nicht gelang. Seitdem hat die PKK im Kandil ihr Hauptquartier und hat zur Verteidigung der ÊzîdInnen einige ihrer Guerilla-Einheiten nach Şengal entsandt und den Überlebens-Korridor nach Rojava freigekämpft.

4. Sie schreibt am 7.8.17, »Iran und Türkei bemühen sich um Deeskalation im Bürgerkrieg«. Dass die Türkei und Iran an einer Deeskalation der Situation interessiert seien, ist eine völlig verrückte Sichtweise. Beide Staaten wollen – genau wie das Assad-Regime – ihre Herrschaftsansprüche durchsetzen und haben bestimmt kein Interesse an einer Lösung des Konfliktes, wie ihn die PKK oder die PYD in ihrem konföderalistischen basisdemokratischen Gesellschaftsentwurf nicht nur vorstellen, sondern sogar unter Kriegsbedingungen praktizieren.

Resümee: Strategie und Taktik sind zwei unterschiedliche Dinge. Man kann strategisch für den Kommunismus – also eine gerechte Welt – eintreten und taktisch auf dem Weg dorthin Bündnisse eingehen, von denen man weiß, dass sie in der Zielsetzung nicht dem entsprechen, was man eigentlich will. Dass man aber ohne diese Bündnisse keine Chance hat, das zu erreichen, was man anstrebt. Mao Tse tung hat das die Ausnutzung der Nebenwidersprüche zur Lösung des Hauptwiderspruchs genannt, nämlich die Überwindung der von den Imperialisten und ihren Vasallen bestimmten Herrschaft über die ausgebeuteten, unterdrückten und vergewaltigten Ethnien, Lohnabhängigen, Geschlechter und Religionsgemeinschaften – also uns allen.