Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Kurdistan Report 192 | Juli/August 2017angesichts der sich überschlagenden Ereignisse und des sich fast stündlich ändernden Kräftegleichgewichts im Mittleren Osten hat die Redewendung, »den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen«, vor allem dieser Tage für Menschen, die sich mit den Entwicklungen in Kurdistan auseinandersetzen, besondere Gültigkeit. Allein die jüngsten Versuche des türkischen Militärs, in die Meder-Verteidigungsgebiete vorzustoßen, der Abschuss eines syrischen Flugzeugs durch das US-Militär nahe Raqqa, die Panik Erdoğans im Zuge der Katar-Krise oder die erneute Thematisierung eines Unabhängigkeitsreferendums in Südkurdistan sind Beleg dafür ... Das Chaos im Mittleren Osten birgt die Gefahr, sich mit Einzelheiten aufzuhalten und das Ganze aus dem Blick zu verlieren. Drei Beispiele veranschaulichen die Grundwidersprüche und Interessengegensätze in Kurdistan, aber auch global, besonders.

Vor circa drei Monaten kamen in Hamburg über 1000 Menschen aus verschiedenen Ländern und Zusammenhängen bei der Konferenz »Die kapitalistische Moderne herausfordern III: Die demokratische Moderne entfalten – Widerstand, Rebellion, Aufbau des Neuen« zusammen und diskutierten trotz behaupteter Alternativlosigkeit den Aufbau einer freien und gleichberechtigen Gesellschaft jenseits kapitalistischer Ausbeutung und Nationalstaaten. Zentraler Bezugspunkt und reale Alternative war dabei die Revolution in Nordsyrien, die auch die verschiedensten Menschen in Europa zusammenbrachte und praktisch beweist, wozu eine organisierte Gesellschaft in der Lage ist. Immer wieder wurde dargelegt, dass das revolutionäre Projekt in Rojava täglich Angriffen – ob physisch oder ideologisch – ausgesetzt ist und Solidarität vor allem bedeutet, entsprechende solidarische Bewegungen aufzubauen.Rückseite - Kurdistan Report 192 | Juli/August 2017

Die deutsche Bundesregierung hat ihre Einstellung zu den Errungenschaften in Rojava am 17. Juni in Berlin demonstriert. Polizisten griffen brutal eine Demonstration der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) mit dem Motto »Solidarität mit Rojava und Şengal – Gegen die Kriminalisierung der PYD, YPG und YPJ« an. Zuvor hatte der deutsche Außenminister gedroht, der PKK in Deutschland keinen Spielraum zu lassen und ihre Geldströme trockenzulegen. Die Kräfte im Mittleren Osten, die für Demokratie, Ökologie und Frauenbefreiung einstehen, werden hier mit denselben Argumenten wie in der Türkei kriminalisiert und offensiv bekämpft.

Wenige Monate nach der o. g. Konferenz kommt in derselben Stadt nun die Gegenseite zusammen, um zu beraten, wie sie die Welt anhand ihrer antidemokratischen, unökologischen, frauen-, menschenfeindlichen Parameter noch mehr ausbeuten, aufteilen und beherrschen können. Die G20 der »Götter ohne Masken und nackten Könige«, wie der Denker des demokratischen Konföderalismus Öcalan die Herrschenden in der Ära des Kapitalismus beschreibt, werden dabei von einem breiten Gegenbündnis empfangen.

Im Kern der ganzen Auseinandersetzungen und Konflikte in Kurdistan und global steht ein Kampf zweier Gesellschaftssysteme. Wollen wir auf der richtigen Seite Stellung beziehen, müssen wir die »demokratische Moderne entfalten« – hier, in Kurdistan und überall.

Eure Redaktion