Über die Beziehungen zwischen Türkei und Europäischer Union

In der politischen Sackgasse

Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.

Civaka AzadDie Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union als höchstem sowie umfangreichstem Einheitsprojekt souveräner Staaten haben eine lange Historie. Die Wurzeln können auf die seit Mitte des 19. Jahrhunderts zwecks »Westorientierung« aufgebauten Beziehungen des Osmanischen Reiches mit den damaligen zentralen europäischen Staaten, England, Frankreich und Preußen (Deutschland), zurückgeführt werden. So hatte auch die auf dem Erbe des Osmanischen Reiches gegründete Republik das »Erreichen des westlichen Zivilisationsstandards« zum wichtigsten Element ihres offiziellen Diskurses deklariert. Mit dem Eintritt in den Europarat 1949 und in die NATO 1952 unternahm sie die ersten wichtigen Schritte im Hinblick auf die Partizipation im »Westblock«. Doch der relevanteste Schritt bei der Anbindung an den Westen ist die Phase der Annäherung an die Europäische Union. Die mit dem Ankara-Abkommen von 1963 eingeleitete Phase macht seit über fünfzig Jahren einen wesentlichen Aspekt der Außenpolitik der Türkei aus. So wie die Europäische Union über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl zunächst zur Europäischen Währungsgemeinschaft und anschließend zu einer staatenübergreifenden Organisationsstruktur mit gemeinsamer Währung und aufgehobenen Grenzen geworden ist, so haben auch ihre Beziehungen zur Türkei verschiedene Stadien durchlaufen. Als kritische Momente darin können der offizielle Aufnahmeantrag 1987, die Aufnahme in die Zollunion 1996 als konkreter Schritt einer Zusammenkunft und der Beschluss zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen im Jahre 2004 benannt werden. Die letzten zwölf Jahre verhandelt die Türkei als Beitrittskandidatin mit der Europäischen Union. Die seit 2005 geführten Beitrittsverhandlungen haben keinen wesentlichen Fortschritt gezeigt und sind de facto eingefroren. So hatte das Europaparlament mit großer Mehrheit am 24. November 2016 ein Einfrieren der Beitrittsverhandlungen gefordert. Die parlamentarische Versammlung des Europarates beschloss im April 2017, die Türkei wieder unter volle Beobachtung zu stellen. Dies ist ein weiteres Beispiel für den Stand der Beziehungen zum Westen.

Trotz aller Schwankungen in den Beziehungen der Türkei, im Besonderen mit der Europäischen Union, im Allgemeinen mit dem Westen, muss man akzeptieren, dass sie sich in einer Hinsicht stabil verhält: Verhandlungen basierend auf ihrer geopolitischen Lage; zeitweise macht eine Politik der Erpressung sogar den grundlegenden Aspekt dieser Beziehungen aus. Diese Verhandlungspolitik, die vom Argument »führender Militärstützpunkt des Westens gegen die ehemalige Sowjetunion« bis hin zur »Vertretung des moderaten Islam« reicht, ist mit den Kriegen und Auseinandersetzungen in der arabischen Welt – dabei insbesondere in Syrien – weitgehend entlarvt worden. Es scheint nicht möglich, dass die Türkei, die entsprechend ihrer antikurdischen Haltung mit den souveränen Staaten in der Region zusammenarbeitet, die Beziehungen zum Westen und zu internationalen Kräften zum jetzigen Zeitpunkt in gewohnter Weise fortsetzen kann.

Wenn wir den Hintergrund betrachten, sehen wir, dass die seit 2005 herrschende, scheinbar positive Stimmung in den Beziehungen mit der EU mit der zunehmenden Repressionspolitik der AKP ab 2009 abgekühlt und seit 2013 zunehmend umgeschlagen ist. In dieser Phase hatte die Türkei versucht, sich den im Zuge des »arabischen Frühlings« mit einem Regimewechsel konfrontierten Staaten als Modell zu präsentieren und so der internationalen Staatengemeinschaft und dem Westen gegenüber eine neue Verhandlungsposition zu gewinnen. Mit dem Machtverlust der von ihr unterstützten Muslimbruderschaft nach 2013 in Ägypten und der Erfolglosigkeit gegenüber dem Assad-Regime in Syrien zeigten sich die Grenzen ihrer Motivation eines Vorbildmodells. Doch anstatt den Fehler zu korrigieren, hat die AKP-Regierung eine Politik eingeleitet, die noch folgenreichere Resultate nach sich zieht. Die sich daran anschließende Unterstützung der AKP für islamistisch-dschihadistische Gruppen in Syrien sowie die dschihadistischen Angriffe in Europa sind zu einem zentralen Aspekt der stetig zunehmenden Probleme geworden. Die einzige »Erfolgs«-Geschichte, die die AKP-Regierung, somit die Türkei, nach 2013 international präsentieren konnte, war die »Lösungsphase«, die man im Hinblick auf die kurdische Frage zu entwickeln versuchte. Doch auch sie wurde im Zuge der Wahlen 2015 aufgrund einer direkten Intervention R. Tayyip Erdoğans zunächst ad acta gelegt und mit den Kriegspraktiken gänzlich aufgegeben. Heute zeigt sich noch deutlicher, dass die Politik der Türkei in den vergangenen zwei Jahren von Krieg geprägt ist, der sich im Inland in Form massiver Zerstörung kurdischer Lebenswelten und in Syrien als aktive Unterstützung islamistisch-dschihadistischer Gruppen gegen die kurdischen Errungenschaften darstellt. Parallel wurde schrittweise ein auf Repression basierendes diktatorisches Ein-Mann-Regime Erdoğans etabliert.

Der Bericht der Vereinten Nationen vom März 2017 über »die Menschenrechtslage im Südosten der Türkei von Juni 2015 bis Dezember 2016« sowie der Beschluss der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, die Türkei wieder unter Beobachtung zu stellen, bestätigen diese Situation. In dem vom Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UNHCHR) verfassten Bericht heißt es, dass die Türkei mit ihrer politischen Praxis »den internationalen Verpflichtungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte« nicht nachkomme. Laut Parlamentarischer Versammlung des Europarates sind ernsthafte Rückschritte in der Arbeitsweise demokratischer Institutionen zu verzeichnen. Ihr Beschluss, einen Staat, dessen Beobachtung zuvor beendet worden war, wieder unter volle Observation zu stellen, ist der erste seiner Art.

Mit dem massiven Flüchtlingsstrom über die Türkei nach Europa sollte Ende 2015 ein neuer Moment in den stagnierenden Beziehungen zur EU geschaffen werden. Da die Drohungen der Verantwortungsträger in der Türkei, allen voran Erdoğans, »die Grenzen zu öffnen und die Flüchtlinge aus Syrien massenhaft Richtung Europa zu kanalisieren«, nicht nur als solche verblieben, sondern praktiziert wurden, wurde im März 2016 der Flüchtlingspakt mit der Europäischen Union unterzeichnet. Das Abkommen, das den Stopp der Flüchtlingsbewegung durch die Türkei erwirken sollte und im Gegenzug finanzielle Hilfen und Visafreiheit für die Staatsbürger der Türkei versprach, ist das letzte und offensichtlichste Beispiel für die sich auf Verhandlung bzw. Erpressung stützende Außenpolitik des türkischen Staates. Allerdings konnten in der Frage der vereinbarten Visafreiheit keine Fortschritte verzeichnet werden, da die Türkei den Forderungen der EU nicht nachkam, die Antiterrorgesetze zu entschärfen. Der nach dem Putschversuch vom Juli 2016 verhängte Ausnahmezustand und die im Zuge dessen praktizierte antidemokratische und repressive Politik sowie die Schritte hin zur Etablierung eines Ein-Mann-Regimes von Erdoğan haben für die nächste Zukunft die Möglichkeiten positiver Entwicklungen zwischen der Türkei und der EU begrenzt. Die wiederholten Erklärungen Erdoğans, die Todesstrafe wieder einzuführen, der Ausnahmezustand und korrelierende Praktiken, die ernsthafte Kritik sämtlicher europäischen Institutionen, allen voran der Venedig-Kommission, und das fragwürdige Referendum vom April offenbaren einen Tiefpunkt in den Beziehungen zwischen der Türkei und der EU.

An diesem Punkt hat die Europäische Union erstmals offiziell die Möglichkeit einer Alternative zur Vollmitgliedschaft zur Sprache gebracht. Johannes Hahn, EU-Kommissar für Erweiterungsverhandlungen, forderte in einer Erklärung nach dem Referendum die Mitgliedsstaaten auf, die Beziehungen zur Türkei zu überdenken, die Maßnahmen zur Etablierung des Präsidialsystems nach dem Referendum würden die EU beunruhigen. Er teile die Sorge des Europarates und wertete das Ergebnis des Referendums als »gefährlichen Rückschritt«. Die Kommission werde nach einem entsprechenden Auftrag durch die Mitgliedsstaaten agieren. Es könne dann eine Phase der Neustrukturierung der Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara beginnen. Hahn: »Die aktuelle Situation kann nicht fortgeführt werden.« Es müsse über eine neue Struktur gesprochen werden, welche die Spannungen zwischen beiden Seiten reduziere und die Zusammenarbeit wachsen lasse.

Hier tritt die Aktualisierung des zwischen der Türkei und der EU geschlossenen Vertrages zur Zollunion von 1995 in den Vordergrund. Ende 2016 hat die Europäische Kommission den Europarat um einen entsprechenden Auftrag ersucht. Im Beschluss des Europaparlaments vom November 2016, in dem die Aussetzung der Verhandlungen mit der Türkei gefordert wurde, wird zudem im Falle einer Wiedereinführung der Todesstrafe von einem Abbruch der Verhandlungen gesprochen. Hinsichtlich der für die Türkei wichtigen Aktualisierung der Zollunion wird betont, dass deren Aussetzung ernsthafte wirtschaftliche Folgen für sie haben werde. Auch der Außenpolitische Ausschuss des Europaparlaments forderte im Januar 2016 in seinem Statement die Kommission auf, politische Kriterien für Menschen- und Grundrechte in die aktualisierte Fassung des Zollunionsvertrages einzubringen. Da dessen aktualisierte Version dem Europaparlament zur Abstimmung vorgelegt wird, kann davon ausgegangen werden, dass sie an Menschenrechts- und Demokratiekriterien gebunden sein wird. Die Aktualisierung der Zollunion nach bewährtem Schema scheint daher schwierig. Lediglich eine umfassende Überarbeitung kann auf die Tagesordnung. Die Erklärung des Erweiterungskommissars Hahn – so wird es auch von der internationalen Presse interpretiert – bringt den »Willen Brüssels zum Ausdruck, erstmals den Beitrittsprozess zu beenden und eine Neuauflage der Zollunion« zu vereinbaren. Erdoğan und die AKP-Regierung sind dazu auch bereit. Das bedeutet die Aufgabe der seit mehr als einem halben Jahrhundert praktizierten Politik.

Auch wenn die offizielle und offene Aussprache Zeit in Anspruch nehmen wird, zeigt der aktuelle Stand in den Beziehungen mit der Europäischen Union, dass ein solcher Verlauf unumgänglich ist. Möglicherweise spielen die EU-Staaten im Hinblick auf eine endgültige Entscheidung aufgrund der innenpolitischen Agenda – z. B. der Wahlen in Deutschland – auf Zeit. Es kann jedoch sein, dass sie sich wie im Fall des Flüchtlingsabkommens der Verhandlungs- und Erpressungspolitik fügen. So behauptete Erdoğan nach dem NATO-Gipfel im Mai 2017 in Brüssel, sich mit der Europäischen Union auf einen einjährigen Zeitplan geeinigt zu haben. EU-Quellen haben das nicht bestätigt. Es besteht jedoch die Möglichkeit einer gegenseitigen Deeskalationsphase. Auch hierbei wird der Rahmen der Erwartungen an die Türkei von dem Beschluss des Europaparlaments im Dezember 2016 und dem Bericht der Parlamentarischen Versammlung des Europarats von April 2017 determiniert.

Vor allem Bericht und Beschluss der Parlamentarischen Versammlung des Europarats formulieren klare Forderungen. Hierzu zählen in erster Linie die Aufhebung des Ausnahmezustands sowie die Freilassung der inhaftierten Abgeordneten und Journalisten. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats fordert zudem, die ernsthaften Bedenken im Hinblick auf Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auszuräumen. Mit ihrem Beschluss unterstreicht sie die Notwendigkeit, sich an faire Verfahren zu halten, umgehende Vorkehrungen für die Garantie von Meinungs- und Pressefreiheit zu treffen und Änderungsvorschläge der Venedig-Kommission für Verfassungsänderungen umzusetzen.

Die Einschränkung der Türkei gegenüber Institutionen wie dem Europaparlament und der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, die in den Beziehungen zu Europa wegweisend ist, hat sich auch partiell auf die Beziehungen mit der NATO als langjähriger Vertrauenspartnerin projiziert. Die Verweigerung der Besuche deutscher Parlamentsabgeordneter auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik hat die Spannungen zwischen der Türkei und Deutschland auf NATO-Ebene transferiert. Westliche Medien berichteten, dass Deutschland mit Unterstützung einiger europäischer Staaten, u.a. Frankreichs, die Ausrichtung des NATO-Gipfels 2018 in der Türkei verhindert habe. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Beziehungen zu westlichen Institutionen, allen voran der Europäischen Union und der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, einen Tiefpunkt erreicht haben. Auch die Chancen, die militärische Position in den internationalen Beziehungen als Verhandlungstrumpf zu nutzen, sind geringer denn je.

Doch an diesem Punkt darf nicht vergessen werden, dass die aktuelle Regierung der Türkei, die schrittweise ihr diktatorisches System etabliert, zahlreiche Risiken in Kauf nehmen wird, um wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Die jüngsten Luftangriffe auf Rojava und Şengal (Sindschar) demonstrieren, dass die Erdoğan-AKP-Regierung auch einen Krieg gegen die kurdischen Errungenschaften in Syrien ins Auge fasst. Diese Regierung ist in zahlreichen Bereichen, von der Wirtschaft bis hin zu internationalen Beziehungen, eingeengt und ringt um Legitimation. Auf diese Weise erhofft sie sich Mitspracherecht in Syrien und damit neue Verhandlungschancen. Das stellt nicht nur für die Türkei und die Region, sondern auch für Europa eine ernsthafte Bedrohung dar. Das Chaos, in dem die Türkei steckt – so hat es sich mit der Fluchtwelle gezeigt –, projiziert sich unmittelbar auf Europa. Das kann nur durch eine stabile, auf Demokratie und Menschenrechten basierende Politik Europas gegenüber der Türkei abgewendet werden. Erster Schritt hierbei ist es, sich den demokratischen und friedlichen Kräften in der Türkei und der Region, allen voran den Kurden, zuzuwenden und auch die Türkei dazu zu animieren. Eine erneute Öffnung für eine Politik des Kalküls und der Erpressung wird, wie sowohl die Flucht- als auch die sich von Syrien nach Europa ausgeweitete dschihadistische Terrorwelle gezeigt hat, nicht zielführend sein. Es gilt zu erinnern, dass die Europäische Union – gegründet, damit sich die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs nicht wiederholen – es sich nicht leisten kann, den gleichen Fehler ein zweites Mal zu begehen.