Selbstorganiserung in der Demokratischen Föderation Nordsyrien

Es wurde ein Faden der Frauensolidarität und der Hoffnung gesponnen ...

Andrea Benario

In den Begegnungen mit Menschen, mit der Geschichte und der Natur in den Gebieten der Demokratischen Föderation Nordsyrien treffen immer wieder tiefe Widersprüche aufeinander: Tod und Leben, Dürre und Fruchtbarkeit, Leid und Freude, Zerstörung und Neuaufbau, Grausamkeit und Schönheit, Unterdrückung und Widerstand, Ängste und Hoffnungen ...

Diese Widersprüche, aber auch das Neue, das aus den Spuren verschiedener geschichtlicher Epochen und gegensätzlichen Erfahrungen entsteht, sind überall deutlich zu spüren. Anfangs schien es nicht so leicht, Akzeptanz für das Konzept der Demokratischen Nation zu finden, das nicht auf einem Nationalstaat, sondern auf einem gemeinsamen Verständnis der Selbstverwaltung auf der Grundlage von Frauenbefreiung und kultureller Vielfalt beruht. Jedoch war die »Demokratische Nation« eine Realität, die in den Gesellschaften Rojavas über Jahrtausende hinweg gelebt wurde, auch wenn sie nicht so benannt wurde. Trotz chauvinistisch-arabischer Staatsideologie, Verbot der kurdischen Sprache und Kultur in staatlichen Einrichtungen einschließlich Schulen, Krankenhäusern und Gerichten sowie Diskriminierung in der Öffentlichkeit, am Arbeitsplatz und im Alltag war und ist das kommunale Leben an vielen Orten Rojavas/Nordsyriens durch gegenseitigen Respekt und enge gemeinschaftliche Beziehungen unter den verschiedenen Nationalitäten und Glaubensgemeinschaften geprägt. Beispielsweise war und ist in der Region Hesekê Heirat zwischen KurdInnen und AraberInnen nichts Außergewöhnliches. In vielen Dörfern, in denen kurdische und arabische Familien gemeinsam leben, können beide Communities sowohl Arabisch als auch Kurdisch und benutzen beide Sprachen im Alltag. Obwohl arabische Dörfer erst im Zuge der Politik des »arabischen Gürtels« im Kanton Cizîrê angesiedelt wurden, wurden die umgesiedelten, größtenteils armen, Familien arabischer Stämme von der kurdischen Bevölkerung zumeist als Nachbarn aufgenommen und unterstützt. Auch wenn sich viele Menschen dessen nicht mehr bewusst sind, so hat auch Minbic eine lange historische Tradition, in der die Grundlagen einer frauenzentrierten Kultur und der Demokratischen Nation vorhanden sind.

»Die Gesellschaft von Minbic war immer schon durch Stammeswesen und Intellektualität geprägt. Beides gehört hier zusammen, existiert gemeinsam, aber auch parallel zueinander. Die Liebe zum Wissen und zum Lesen ist eine weitverbreitete Kultur in der Stadt. Doch das Neue ist jetzt, dass Frauen zum ersten Mal hinausgehen, zusammenkommen und einander kennenlernen. Das erzeugt eine neue Energie«, meint Ruken, eine kurdische Frau, die mit der Befreiung von Minbic am 12. August 2016 in ihre Heimatstadt zurückkehrte. An diesem Tag war letztendlich auch das Stadtzentrum durch die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) von der über zwei Jahre dauernden IS-Schreckensherrschaft befreit worden.

Der Name der Stadt Minbic, die bis heute von grünen Baumplantagen gesäumt ist, geht auf ihre aramäische Bezeichnung »Manbug« (Quelle) zurück. An dieser Quelle befand sich der zentrale Tempel der Göttin Atagartis. Sie wurde als Göttin der Fruchtbarkeit, der Erde und des Wassers verehrt und durch Granatapfel und Fische symbolisiert. Seit dem frühen Altertum war Minbic ein Zentrum des Göttinnenkultes und des Handels, weshalb der makedonische Feldherr Seleukos die Stadt in »Hierapolis« (Heilige Stadt) umbenannte. Der Tempel wurde 53 v. Chr. von römischen Besatzern geplündert. Im 3. Jahrhundert war die Stadt eine der größten Städte Syriens und Hauptstadt der Provinz Kommagene. Im Mittelalter wurde Minbic zum Schauplatz von Kriegen und wechselnden Besatzern: Von den christlichen Byzantinern über das islamisch arabische Kalifat der Abbasiden und türkische Seldschuken bis hin zur Eroberung durch den mongolischen Herrscher Hülegü wurde Minbic mehrfach zerstört. Nach dem Russisch-Osmanischen Krieg siedelten die osmanischen Machthaber in der Region Minbic tscherkessische Flüchtlinge an, denen sie 1879 die Neugründung der Stadt übertrugen. Hiermit beabsichtigten sie, aufständische Beduinenstämme in der Region zu kontrollieren. Seit der Gründung des Staates Syrien nach dem 1. Weltkrieg bis zum Beginn der Aufstände 2011 lebten in Minbic AraberInnen, TscherkessInnen, KurdInnen, TurkmenInnen, Suryoye und ArmenierInnen. Danach flohen im Zuge des Krieges zuerst die christlichen, dann auch kurdische und turkmenische Familien und schließlich auch ein Teil der arabischen Bevölkerung aus der Stadt.Minbic: Frauen von der Asayîş fahren Patroulle

Minbic ist ein Spiegel der Geschichte und Kultur Mesopotamiens. Über die Epochen hinweg hat hier eine Vielzahl von Völkern und Glaubensgruppen von Ackerbau, Viehzucht und Handel gelebt. Es gab Zeiten des gemeinsamen Widerstands gegen Unterdrückung und Besatzung, Eroberungsfeldzüge und Kreuzzüge, aber auch von Verrat und Interessenkonflikten.

Trotz wechselnder Machthaber und Regime hat die Bevölkerung von Minbic viele ihrer Traditionen und das kommunale Zusammenleben bewahrt. Der Alltag unter dem Baath-Regime war weniger durch die Gesetze des zentralistisch organisierten Staatsapparats bestimmt als durch die Regeln und Gebräuche der über 60 arabischen Stämme in der Region. Hierzu gehörten Strukturen der Solidarität und Fürsorge im Alltag genauso wie feudale Stammesstrukturen. Die arabische Stammesstruktur weist sowohl eine Kultur des Widerstandes auf wie auch der Kollaboration. Die großen patriarchal organisierten Stämme neigten eher dazu mit dem Staat oder den jeweiligen Machthabern zu kollaborieren. Demgegenüber tragen kleine Stämme eher kommunale Züge und stellen eine Art »Familienorganisation« dar. Diese zwei Charaktere spiegeln sich auch in der Position wider, die Frauen in den jeweiligen Stämmen haben.

a große Stämme ihre Macht und ihr Ansehen durch die Anzahl der ihr angehörigen Familien und Mitglieder konsolidieren, ist hier der Einfluss der Harem-Dynastie-Kultur weitaus stärker. Während Männer ihre Macht durch polygame Ehen und möglichst viele männliche Erbfolger demonstrieren wollen, werden Frauen ab der Pubertät vielen Restriktionen unterworfen. Sie werden entmündigt, in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und häufig von der Bildung ausgeschlossen. Als Eigentum und »Ehre« des Vaters werden sie dem Ehemann übergeben. Als Eigentum und »Ehre« des Ehemanns ist ihre Aufgabe fortan allein, dem Mann zu dienen, zu gehorchen, Nachwuchs zu gebären und aufzuziehen. Jedoch ist auch der aufständige, nach Freiheit und Selbstbestimmung strebende Charakter der Stammeskultur in der Persönlichkeit und in den Ansichten vieler Frauen deutlich wahrnehmbar.

»Nachdem die schwarze Wolke vertrieben wurde, erblicken wir nun neu das Sonnenlicht. Und wir sehen, wie sehr wir auch zuvor gefangen waren, bevor das Unwetter über uns hereinbrach ... Nach all dem, was wir erlebt haben, können wir kein Unrecht mehr akzeptieren. Bildung ist für uns wichtiger als alles andere.«

Mit diesen Worten beschreibt eine junge Frau aus Minbic ihre Gefühle nach der Befreiung von der Schreckensherrschaft des IS. Die Bevölkerung von Minbic lebte innerhalb der letzten sieben Jahre unter fünf verschiedenen Systemen. Jedes der vier vorangegangenen Regime – angefangen von der Herrschaft der Baath-Partei über die Freie Syrische Armee (FSA) und Al-Nusra bis hin zu Daesch/IS – drückte Frauen andere Normen auf, zwängte sie in andere Kleider. Al-Nusra führte die verpflichteten Frauen dazu, den Tschador zu tragen. Später zwang Daesch Frauen und Mädchen dazu, Burka und Handschuhe zu tragen. Verheiratete Frauen mussten die braune, unverheiratete Frauen und Mädchen hingegen die schwarze Burka tragen. Verstöße wurden hart bestraft und konnten sogar den Tod bedeuten. Der Kleiderkodex war zum Symbol des Unrechtsregimes und der Fremdbestimmung geworden. Deshalb feierten Frauen in vielen Dörfern und im Stadtzentrum von Minbic den Tag der Befreiung in bunten Kleidern mit dem öffentlichen Verbrennen der Burka.

Kleider machten Frauen – Frauen machen Kleider ...

Heute haben sich Frauen im System der Demokratischen Autonomie die Möglichkeit erkämpft, sich ihre eigenen Kleider zu schneidern. Doch können sie die Schnittmuster schon selbst entwerfen und die Farbe der Stoffe frei wählen? Die unterschiedlichen Kleidungsstile im Straßenbild von Minbic sind auffällig: Die Mehrheit der Frauen trägt bunte Kleider und Kopftücher. Andere tragen Hosen oder Uniformen des »Rates der inneren Sicherheit«. Aber es gibt auch Frauen, die weiterhin in schwarzen Hidschab gehüllt sind und Handschuhe tragen. Eine Mitarbeiterin von Mala Jinê, dem ersten Frauenzentrum von Minbic, meint, dass Frauen mit ihrer Kleidung demonstrierten würden, ob sie für die »Demokraten« seien oder dagegen.

In den Diskussionen und Gesprächen mit Frauen in Minbic spüre ich bei vielen ganz deutlich den Wunsch, sich selbst auszudrücken, eigene Gedanken zu entwickeln und in die Praxis umzusetzen. Bei anderen stellt sich mir die Frage, ob sie nicht versuchen, neue, fertige Schnittmuster zu übernehmen und sich in das neue System einzupassen? Aber die Bewegungsfreiheit, die z. B. eine Asayîş-Uniform bietet, bietet zugleich die Chance, das Leben und die Gesellschaft – und damit auch sich selbst – aus verschiedenen Blickwinkeln kennenzulernen und zu erforschen und Verantwortung für sich selbst und die Gesellschaft zu übernehmen. Mich beeindrucken der Mut, die Stärke, Neugier und Zuversicht, die viele Frauen ausstrahlen.
Suheyla, eine junge arabische Frau aus dem Dorf Heye Serîr (deutsch: »Kleine Schlange«) bei Minbic berichtet: »In unserem Dorf gab es einen Jugendlichen. Er war der einzige Sohn seiner Familie. Eines Tages, als Daesch die Männer in der Moschee versammelt hatte, stand er auf und sagte: ›Ich verstehe das nicht. Ihr redet von Gott, aber ihr foltert und tötet uns. Meint ihr, dass Gott das akzeptiert?‹ Daraufhin verhaftete Daesch den Jungen und seinen Vater. Dem Jungen wurde der Kopf abgeschlagen und sein Leichnam wurde drei Tage lang über dem Dorfplatz aufgehängt. Dieses Ereignis hat mich so wütend und traurig gemacht, dass ich nicht mehr wusste, was ich machen sollte. So lief ich nur mit einem roten Kleid bekleidet raus auf die Straße. Dort nahm mich eine Daesch-Patrouille gefangen. Sie schleppten mich zu meinem Onkel, der Moscheevorsteher war. Sie sagten zu ihm: ›Entweder du bestrafst sie oder wir nehmen sie mit.‹ Um mich vor Schlimmerem zu bewahren, versprach mein Onkel, mich mit einem Eisenstab zu schlagen, bis der Stab zerbrechen würde. So brachte er mich hier ins Wohnzimmer und schlug mich vor den Augen der versammelten Familie mit einem Eisenstab. Er schlug so lange auf mich ein, bis ihm die Kraft ausging. Aber weder Eisenstab noch ich zerbrach ... Da ich nach diesem Vorfall die Burka nicht mehr tragen wollte, habe ich bis zum Tag der Befreiung das Haus nicht mehr verlassen. Als die QSD in unser Dorf kamen, ging ich zum ersten Mal wieder auf die Straße. Diesmal in einem gelben Kleid.«

Heute sitzt Suheyla in demselben Wohnzimmer, in dem ihr Onkel sie geprügelt hatte, lachend in ihrem roten Kleid vor uns. Sie ist zur Kovorsitzenden des Dorfrates von Heye Serîr gewählt worden, in dem 300 Familien leben. Suheyla lebt gemeinsam mit ihrer Mutter, einigen ihrer Schwestern und Tanten in einer Art natürlichen Frauenkommune. Der Vater war vor einigen Jahren an einer Krankheit gestorben. Die Ehemänner der verheirateten Tanten und Schwestern arbeiten seit über fünf Jahren in Libyen oder in den Golfstaaten und schicken nur ab und zu etwas Geld. Ansonsten organisieren die Frauen gemeinsam ihren Alltag, die Arbeiten im Haus und in der Landwirtschaft. Suheyla selbst ist Anfang 20 und unverheiratet, was hier etwas sehr Außergewöhnliches ist. Normalerweise werden junge Frauen den Stammesgebräuchen entsprechend im Alter zwischen 12 und 15 Jahren verheiratet. Diese Praxis war in der Region Minbic nicht nur unter den arabischen, sondern auch unter den kurdischen und turkmenischen Stämmen üblich.

Berivan, eine kurdische Frau, die bei der Asayîşa Jin arbeitet, erzählt: »Bevor Daesch kam, war die Situation von kurdischen, arabischen, turkmenischen, tscherkessischen Frauen in der Region Minbic sehr ähnlich. Die Situation von Frauen in den Dörfern, wo der Druck durch patriarchale, feudale und religiöse Traditionen sehr groß war, hat sich vor und während der Daesch-Diktatur kaum voneinander unterschieden. In der Stadt hingegen waren Frauen früher freier. Sie konnten bis zum Gymnasium zur Schule gehen und hatten mehr Bewegungsfreiheit.«

Eine Tante von Suheyla war die erste Frau im Dorf, die ihre Töchter nach dem Gymnasium zum Studieren in die Großstädte Haleb und Latakya schickte. Deshalb wurde sie zunächst von der Nachbarschaft kritisch beäugt. Später folgten jedoch auch andere Familien ihrem Beispiel und ließen ihre Töchter in der Stadt studieren. Auch Suheylas Schwester Wetfa ist unverheiratet. Sie arbeitet heute als Mitglied im Legislativen Rat der Demokratischen Verwaltung von Minbic.

Doch wie ist es gelungen, innerhalb von wenigen Monaten ein Bildungssystem, eine funktionierende Verwaltungs-, Wirtschafts- und Sicherheitsstruktur zu schaffen, an der alle ethnischen Gruppen und die Frauen von Minbic beteiligt sind, die zuvor aus dem öffentlichen Leben weitgehend ausgeschlossen waren?

Selcan, eine kurdische Frau aus Minbic, die an den Aufbauarbeiten des Zivilen Rates von Minbic von Anfang an beteiligt war, erklärt dazu: »Zur Befreiung von Minbic wurden drei Offensiven parallel angegangen: 1. die militärische Befreiung und Verteidigung, 2. der Aufbau von zivilen Selbstverwaltungsstrukturen, d. h. der schrittweise Aufbau von Kommunen und Volksräten in den befreiten Dörfern, die durch die QSD befreit wurden, und 3. die Beteiligung von Frauen am Aufbau und der Verteidigung.

Anfangs war die Bevölkerung an einigen Orten noch eingeschüchtert, denn der IS hatte verbreitet, dass wir »gottlos« seien und sie alle töten würden. Als die Bevölkerung jedoch sah, dass wir mit Respekt auf sie zugingen und sie in allen Anliegen unterstützten, waren die Menschen offen und zur Beteiligung am Aufbau der Selbstverwaltungsstrukturen bereit. Viele Menschen hörten zum ersten Mal von den Projekten Abdullah Öcalans und waren von seinen Gedanken begeistert. Der Ansatz der Demokratischen Nation ist ein Konzept, das der Realität des Mittleren Ostens entspricht.

Zunächst lehnten die Männer die Beteiligung von Frauen an Versammlungen und das System des Kovorsitzes in ihren Kommunen ab. Als VertreterInnen des Zivilrats erklärten wir jedoch, dass wir Räte und Kommunen ohne Frauenbeteiligung und Kovorsitz nicht anerkennen würden. In vielen Einzelgesprächen leisteten wir Überzeugungsarbeit, die Erfolg zeigte. Frauen fassten mehr und mehr Mut. Männer zeigten zunehmende Akzeptanz und Respekt gegenüber dem Engagement von Frauen. Hierfür war insbesondere der Einsatz von Frauen in den kämpfenden Einheiten der Frauenverteidigungseinheiten YPJ und QSD ausschlaggebend. Männer hinterfragten, dass diese jungen Frauen mutig gegen den IS kämpfen und die Mörderbanden vertreiben, während sie selbst davongelaufen waren. Zunächst argumentierten sie: ›Aber die kurdischen Frauen sind anders als unsere Frauen ...‹ Dieses Argument ließen wir nicht gelten, denn kurdische Frauen haben sich vor 30 Jahren in einer sehr ähnlichen Ausgangslage befunden.

Wir versuchten, die Traditionen und Stammesstrukturen der verschiedenen Ethnien und Gesellschaften kennenzulernen, uns einander respektvoll und sensibel anzunähern. Das war ausschlaggebend für den Erfolg des Neuaufbauprozesses: Die freiheitlichen Prinzipien des Modells der Demokratischen Autonomie und der Demokratischen Nation müssen erklärt, vermittelt und in den Kontext der jeweiligen Kultur und ihrer Werte gesetzt werden. Denn wir wollen kein neues ›Regime‹ von oben oder angelehnt an militärische Macht durchsetzen. Es geht uns darum, einen schrittweisen progressiven Veränderungsprozess in der Gesellschaft zu stimulieren. Wir wollen, dass sich die Frauen und die Gesellschaft von Minbic selbst ihre Gesetze und Regeln geben. Deshalb wurden nun neben dem Zivilen Rat auch ein Legislativer Rat sowie ein Frauenrat aufgebaut.«

Die ersten Schritte zum Aufbau autonomer Frauenstrukturen

Am 25. November 2016, d. h. nur dreieinhalb Monate nach der Befreiung, wurde das erste Frauenzentrum Mala Jinê in Minbic eröffnet. Zuerst gab es Skepsis in der Bevölkerung, dann jedoch einen Ansturm. »Bereits im ersten Monat kamen so viele Frauen, dass die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen von morgens bis abends arbeiten mussten«, berichtet Nadja, eine der Gründerinnen von Mala Jinê. Viele über Jahrzehnte hinweg andauernden Familienprobleme konnten die Mitarbeiterinnen von Mala Jinê innerhalb kurzer Zeit lösen. Dadurch bekamen sie immer mehr Anerkennung und Respekt. Sie werden nun als eine Instanz wahrgenommen, die gerechte Entscheidungen fällt. Heute kommen auch Männer zu Mala Jinê, um bei Familienproblemen nach Rat zu fragen. Bislang hat Mala Jinê 610 Anfragen und Fälle bearbeitet, wovon 285 an die Gerichtsinstanzen weitergeleitet wurden, da sie schwere Rechtsverstöße beinhalteten. Die Frauengesetze, die in den Kantonen Rojavas gelten, werden derzeit als Richtlinie genommen, wurden jedoch nicht offiziell eingeführt, da einige Punkte – wie beispielsweise das Verbot polygamer Ehen – bislang umstritten sind. Mala Jinê und der Frauenrat wollen zunächst verstärkte Bildungs- und Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung durchführen und dann gemeinsam mit den Frauen aus den Kommunen von Minbic einen Gesetzesentwurf erarbeiten. Laut der Meinung einer jungen Mitarbeiterin von Mala Jinê muss als Erstes die Heirat im Kindesalter verboten werden. Jedes Mädchen sollte wissen, dass es zu Mala Jinê gehen und Unterstützung bekommen kann, wenn ihre Rechte missachtet werden.

Ein Großteil der Anfragen, mit denen sich Mala Jinê beschäftigt, sind Scheidungsfälle aus der arabischen und der kurdischen Community. Ein Teil davon sind langjährige Probleme, die weder durch die unzulängliche Rechtsprechung des Baath-Regimes noch mittels Stammestraditionen gelöst werden konnten. Das frauenverachtende Unrechtsregime des IS hingegen erzeugte weitere Probleme. Nun haben Frauen zum ersten Mal die Möglichkeit, selbst einen Scheidungsantrag zu stellen und das Sorgerecht für ihre Kinder zu behalten. Ein weiterer Grund für das große Aufkommen an Scheidungsfällen ist das frühe Heiratsalter. Des Weiteren haben alleinstehende Frauen in den vielen gesellschaftlichen Einrichtungen der Demokratischen Autonomie nun zum ersten Mal die Möglichkeit, einen Arbeitsplatz und damit ein Einkommen zu bekommen. Bislang arbeiteten Frauen hauptsächlich als Lehrerinnen oder in der Landwirtschaft. Viele Frauen, die nun in der Verwaltung, im Verkehr, im Bereich der Inneren Sicherheit oder den Verteidigungskräften von Minbic arbeiten, mussten sich zunächst gegen ihre Familien durchsetzen. Doch nun sind immer mehr Frauen im öffentlichen Leben, in allen Bereichen sichtbar geworden und auch in den Familien findet ein Umdenken statt. Jedoch fehlen in Minbic immer noch ausreichende Arbeitsmöglichkeiten mit Lohnerwerb für Frauen. Denn durch den Krieg und die IS-Herrschaft ist ein Großteil der Bevölkerung verarmt. Deshalb sind Bildung, Berufsbildung und Kooperativen für Frauen dringend notwendig. In diesem Rahmen plant der neugegründete Frauenrat von Minbic nun den Aufbau einer Schneiderei-Kooperative, Frisörinnen-Kurse sowie die Eröffnung eines Kindergartens.

Das Leben von Nûr ist ein Beispiel für das vieler arabischer Frauen, die bei der Inneren Sicherheit arbeiten. Sie war in einem Dorf in der Umgebung von Minbic aufgewachsen. Im Alter von 13 Jahren hatte ihr Vater sie verheiratet. Nûr meint, dass sich die Situation von Frauen unter dem Druck des Stammessystems und unter dem IS nicht wesentlich voneinander unterschieden habe: »Ab 10 Jahren mussten Mädchen den Hidschab tragen. Heirat im Kindesalter gab es auch schon vor dem IS.« Nach der Befreiung von Minbic ließ Nûr sich scheiden. Jetzt ist sie für die Kontrollposten der Inneren Sicherheit verantwortlich und sagt mit einem Strahlen im Gesicht: »Mit der Befreiung von Minbic und meiner Teilnahme an der Asayîş bin ich wie neugeboren. Ich bin ich selbst geworden.« Sie arbeitet mit Esma zusammen, die Turkmenin und Mutter von 5 Kindern ist. Auch Esma wurde im Alter von 14 verheiratet und ist heute geschieden.

Die 23-jährige Zuka ist Araberin und für das Archiv der Frauensicherheit zuständig. Wie viele andere Menschen wusste sie bis zum Aufbau der Demokratischen Selbstverwaltung nicht, dass in Minbic außer AraberInnen noch andere Nationen und Kulturen leben. Sie erzählt: »Früher konnten Mädchen im Regelfall bis zur 9. Klasse die Mittelschule oder auch bis zur 12. Klasse das Gymnasium besuchen, wenn die Schule in der Nähe gelegen war. Unter dem IS wurde Schulbildung gänzlich für Mädchen und Jungen verboten. Der IS richtete spezielle Klassen in Moscheen ein, wo Mädchen und Jungen ihrer Ideologie entsprechend indoktriniert wurden, d. h. Mädchen und Frauen wurden insbesondere darüber unterrichtet, was für Frauen alles verboten, »haram« sei. Sie führten aus, welche Kleidung, welche Bewegungen, welches Verhalten usw. für Frauen verboten sind und welche Strafen sie dafür bekommen, wenn sie sich nicht daran halten.«

Die Tante von Zuka war eine der Frauen in Minbic, denen vom IS unterstellt worden war, sich »unzüchtig« verhalten zu haben. Dafür wurde sie gesteinigt. Bei den Steinigungen und Hinrichtungen musste die ganze Bevölkerung anwesend sein. Da den Opfern ein schwarzer Sack über den Kopf gezogen wurde, bevor sie bis zur Hüfte eingegraben wurden, wussten die Menschen nicht, um wen es sich handelte. Die Steine wurden von Daesch-Mitgliedern geworfen. Da ihre Tante trotz der vielen Steinschläge immer noch nicht tot war, wurde sie letztendlich durch ein Daesch-Mitglied erschossen. Erst als der blutüberströmte, zertrümmerte Leichnam ihrer Tante zur Schau gestellt wurde, wussten sie, um wen es sich gehandelt hatte.

Es gab eine besondere Organisation der IS-Frauen. Das waren zumeist Frauen, die von »draußen«, aus anderen Teilen Syriens, arabischen Ländern und der Türkei, gekommen waren und versuchten, Frauen aus Minbic und der Umgebung zu rekrutieren. Sie gingen in Familien und hielten nach »schönen« Mädchen und jungen Frauen Ausschau, die sie als »Bräute« für Daesch-Kämpfer anwerben konnten. Manche nahmen sie auch zwangsweise mit. Diese Frauen sammelten auch Geld für Daesch, nahmen Frauen ihren Goldschmuck ab und bestraften Frauen, die gegen die Kleider- und Verhaltenskodexe verstoßen hatten, berichtet Sozdar. Sie ist eine der jungen Frauen, die im Alter von 13 Jahren zwangsweise mit einem IS-Anführer als Zweitfrau verheiratet wurde. Neben sexueller Ausbeutung schulte sie ihr »Ehemann« für einen Selbstmordanschlag gegen »Ungläubige«. Als sie vor wenigen Monaten mit diesem Auftrag in einen kurdischen Stadtteil von Heleb/Aleppo geschickt wurde, gelang ihr die Flucht. Heute lebt sie unter dem Schutz einer Fraueneinheit der Verteidigungskräfte von Minbic.

Mutige Frauen

Die erste Frau, die sich aus Minbic noch vor der Befreiung den YPJ angeschlossen hatte, war Şehid Zîlan (Sara Suleyman). »Zilan hatte von klein auf eine widerständige, freie Persönlichkeit«, sagt ihre Schwester Şîlan, die heute Kovorsitzende des Verteidigungsausschusses des Rats von Minbic ist. Şîlan und Zîlan waren beide gern zur Schule gegangen, bis der IS die Schulen verbot. Als die Gefechte zur Vertreibung des IS auf dem Höhepunkt waren, schloss sich Zîlan den Frauenverteidigungseinheiten an. Sie war damals 14 Jahre alt, 9 Monate später fiel sie als erste Frau aus Minbic bei einem Mörserangriff des IS auf ihre Stellungen.

Ihre Mutter Henan ist Palästinenserin und wie Şîlan meint »eine mutige Frau«. Sie war in einem palästinensischen Flüchtlingslager in Damaskus zur Welt gekommen und aufgewachsen. Ihre Familie war im Kampf für die Befreiung Palästinas engagiert. Deshalb war es für Henen nichts Außergewöhnliches, bewaffnet kämpfende Frauen zu sehen und respektierte den Entschluss ihrer Tochter Zîlan. Jedoch war es für sie nicht leicht gewesen, als sich dann auch noch ihr Sohn Şêro und ihre Tochter Şîlan den Verteidigungskräften anschlossen. Auch Şêro fiel kurze Zeit später im Kampf gegen die IS-Mörderbanden. Şîlan entgegnet: »Welche Möglichkeit zum Widerstand gibt es sonst? Als der IS die Stadt besetzte, gab es einen Aufstand. Frauen waren auch dabei. Einige legten öffentlich die Burka ab. Aber danach wurden alle ermordet. Eine andere Frau beging aus Protest gegen den IS Selbstmord. Aber selbst das wurde grausam bestraft. Acht Stunden lang blieb ihr Leichnam in den Händen von Daesch, wurde gefoltert und vergewaltigt.«

Um sich für die Verbrechen zu rächen und den IS gänzlich aus dem Land zu vertreiben, schließen sich immer mehr arabische Frauen von verschiedenen Stämmen aus den Regionen Tabqa, Raqqa und Minbiç den Einheiten des Militärischen Rates von Minbic an, der Bestandteil der QSD ist. Durch die politische und militärische Ausbildung gewinnen sie an Selbstvertrauen. Sie fangen an, das Schweigen zu brechen, das immer noch auf vielen Frauen lastet: »Beim Abzug aus Minbic – Richtung Cerablus – entführte der IS viele Frauen und Mädchen. Aber bis heute suchen die meisten Familien nicht nach ihren verschwundenen Töchtern. Sie erklärten sie als ›tot‹ oder ›nicht existent‹. Das Schweigen der Frauen ist einerseits Ausdruck des feudalen ›namus‹-Ehre-Verständnisses der patriarchalen Gesellschaft. Andererseits wollen Frauen auch einfach vergessen, was passiert ist. Zudem gibt es in Teilen der arabischen Bevölkerung immer noch Angst davor, dass Daesch eines Tages zurückkehren könnte.«

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Nachdem auch die Stadt Tabqa befreit wurde, schreitet die finale Phase der Operation zur Befreiung von Raqqa in diesen Tagen mit großem Tempo voran. Hunderttausende Menschen, die in die Region Minbic und andere von den Demokratischen Kräften Syriens befreiten Gebiete geflohen sind, warten sehnsüchtig auf die Nachricht, in ihre Dörfer und Städte zurückkehren zu können. In den Medienberichten ist zumeist hauptsächlich von den militärischen Entwicklungen die Rede. Doch während die KämpferInnen der QSD Dorf für Dorf, Straße für Straße, Haus für Haus von der Schreckensherrschaft des IS befreien, beginnen unter den Bedingungen des Krieges zugleich der Neuaufbau und ein neuer Aufbruch der Frauen. Frauen, die entschlossen sind, die Schnittmuster ihrer neuen Kleider selbst zu entwerfen, ihre Farben selbst zu wählen und den Stoff dafür zu weben. Denn es wurde ein Faden der Frauensolidarität und der Hoffnung gesponnen, der Verbindungen und Mut geschaffen hat.