Filmkollektiv Komîna Fîlm a Rojava

Revolutionärer Realismus und Charlie Chaplin

Susanne Roden


Komina film a rojava Charly Chaplin PosterAm 28.03.2017 folgte ich einer Einladung zum Werkstattgespräch mit Kollegen vom Filmkollektiv »Komîna Fîlm a Rojava« (»Filmkommune Rojava«) in die Lausitzer Straße 10. Ein altes Industriegebäude, Torbogen unbeleuchtet, auf beiden Seiten viele ältere und neuere Firmenschilder, zum Teil überdeckt von Kundgebungsplakaten, Antifa-Aufklebern und anderen gesprayten Ankündigungen.

Wir befanden uns zur Vorführung in den Räumlichkeiten einer Schule im ersten Stock, die seit 1990 u. a. Deutsch für unbegleitete Jugendliche auf der Flucht anbietet. Das Gebäude, ursprünglich für drei Millionen Euro gekauft, sollte für rund zwanzig Millionen weiterverkauft werden, um Luxuswohnungen entstehen zu lassen. Kreuzberg ist bekannt für seine Alternativkultur und auch in den Häusern Lausitzer 10 und 11 befinden sich verschiedene Initiativen, Medienmacher, Künstler, Politikaktivisten und das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin – kurz apabiz. Nach der Protestaktion der Hausgemeinschaft »Lause bleibt«, gerichtet an die dänische Eigentümergesellschaft Jørn Tækker, wurde der Verkauf durch Verstreichenlassen einer Frist quasi rückgängig gemacht und der Weg für eine Rückübertragung an das Land Berlin ermöglicht. In jedem Fall aber gab es zum April 2017 eine Mieterhöhung für die Schule ohne Zusage von Sanierungen und das nach über 25 Jahren Aussitzen. Die Fenster zum Teil mit dicker Pappe anstelle von Fensterglas vernagelt, die Heizungen liefen nur im Sommer, im Winter hingegen waren die Heizkörper kalt – ein nicht unerheblicher Mangel. Spekulantentum vom Feinsten.

Dann geht es zum eigentlichen Thema des Abends über. Im Jahr 2014 gründeten Filmschaffende aus verschiedenen Ländern in der kurdischen Stadt Dirbêsiyê (Al-Darbasiyah, im Kanton Cizîrê in der autonomen Region von Rojava) das Filmkollektiv »Komîna Fîlm a Rojava«. Eine Plattform für Filmschaffende und Filmkunst wollten sie schaffen, einen Ort, an dem alternative und revolutionäre kurdische Filme entstehen sollen. Kurz danach entstand die Kultur- und Kunstakademie, an der dann 12 Studierende im Bereich Film ausgebildet werden sollten.

Die Gründung der Filmkommune Rojava erfolgte am 14. Juli 2015 im Gedenken an den Beginn des Hungerstreiks der Genossen Kemal Pir, Mehmet Hayri Durmuş, Akif Yılmaz, Ali Çiçek im Gefängnis von Amed (Diyarbakır) 1982, der dann zu ihrem Tod führte.

Önder Çakar, türkischer Filmschaffender, berichtet gemeinsam mit dem Musiker Mustafa Şahin von dem Projekt. Als Übersetzer fungiert ein gemeinsamer Freund.

Zunächst erläutert Önder Çakar, dass es in Rojava keine Kinotradition gibt. Es kam 1960 zu einer Tragödie, bei der 249 Kinder bei einer Filmvorführung im Kino von Amûdê verbrannten. Die Kurden gehen davon aus, dass es vom Staat organisiert worden war. Seitdem halten sich keine Menschenansammlungen mehr in großer Zahl in geschlossenen Räumen auf. Eigentlich auch nicht im Freien bei Veranstaltungen wie Hochzeiten.
Der Aufbau eines Kulturzentrums wurde beschlossen mit den Bereichen Kunst, Film und Theater. Es dauerte zwei bis drei Jahre, im Fachbereich für Film gab es im ersten Jahr zwölf Studenten, vier Frauen und acht junge Männer zwischen 16 und 24 Jahren. Es wurde Unterricht angeboten in Theater, Film, Tanz, Malerei und eine einjährige Filmausbildung. Einige Personen aus dem Filmbereich und internationale Artistenfreunde waren Lehrer in der Akademie.

Die Schüler hatten alle keine Ahnung vom Film. Nur einer hatte mal einen Film gesehen. Es galt eine Menge Hürden zu nehmen. Kurdische und arabische Schrift, die Teilnehmer waren völlig unbeleckt und unbelesen. Es musste geübt werden. Sprache. Computer. Es gab in der Praxis keinen Plan. Die Schüler wussten überhaupt nicht, was Information ist.

Die Aufgabenstellung war klar: Alle sollten einen eigenen Film drehen. Regie, Drehbuch, Kamera, alle Rollen mussten besetzt werden, und somit hat jeder dem anderen ausgeholfen und verschiedene Positionen besetzt. Sie waren bekümmert, dachten, sie können es nicht, konnten manchmal ein Wort nicht finden. Die Studenten hatten Sorge, wie sie einen Film drehen sollten. Sie hörten die Kampfgeräusche von der Front, Freunde starben und sie sollten einen Film drehen. Rojava war umzingelt, keine Filter für die Kamera, es gab kein Geld und viele Versorgungsengpässe. Der Respekt vor Märtyrern war immens, man hatte Angst, einen schlechten Film zu zeigen. Das ging natürlich nicht. Manchmal mussten sie eine Auszeit nehmen. Wo wir gedreht haben, so Önder Çakar, hatte der ISIS ein Selbstmordattentat verübt. Die Explosionsgeräusche aus Qamişlo (Al-Qamischli) waren während der Dreharbeiten zu hören. Störung. Wir mussten neu drehen. Menschen sind gestorben, die wir kannten. Zwei Jugendliche wollten ihre Filme nicht zeigen, sie fanden sie zu schlecht. Aber es wurden alle Filme beendet. Das war wichtig.

Von diesen ersten Filmen aus der Filmakademie in Rojava sollen uns zwei Werke gezeigt werden. Es sind die ersten Filme auf Kurdisch aus dem befreiten Rojava.

Film 1: Deng (The Sound), von Osman
Es geht um einen Jungen, der nichts richtig mit sich anzufangen weiß und den Tag verbummelt, auf dem Lager liegt und schläft. Sein bester Freund hatte ihm erklärt, dass er kämpfen werde. Dann kommt eines Tages die Nachricht von dessen Tod. Der Junge ist schockiert, die Gespräche, die sie einst geführt haben, kommen ihm in Erinnerung. Und dann entscheidet er, auch an die Front zu gehen und dem Vorbild seines Freundes zu folgen. Am Ende ist zu sehen, wie er eine Gruppe befehligt und so das Andenken an den gefallenen Freund aufrechterhält. Denn es geht um die Freiheit, für die es sich zu kämpfen lohnt.

Film 2: Rastya Wenda (Ahmed lost Reality), von Necla Elî, 23 Jahre alt
Die Rolle der Frau in der Tradition. Die junge Mutter sitzt mit Kindern zu Hause auf der Decke zum Abendbrot. Eine Szene weiter sitzt sie auf einer Bank mit dem Bild von ihrer Hochzeit mit Ahmed. Die Kinder fragen, kommt Papa. Sie ruft mit dem Mobiltelefon an. Man sieht den Ehemann mit einem anderen Mann im Auto, sie fahren. Er antwortet nur knapp: nein. Männergespräche über Geschäfte. Ahmed geht mit dem Mann zu einer Feierabendgesellschaft. Es wird getrunken. Sehr viel. Er ist sturzbetrunken und wird von dem Mann nach Hause gebracht. Dieser muss für Ahmed die Haustür aufschließen. Er schafft es kaum in die Wohnung und wird vom Kumpel auf sein Lager gelegt. Die Frau auf ihrem Lager im Erdgeschoss, das sie mit den Kindern gemeinsam hat, wird wach von den Geräuschen. Die Kinder weinen. Der Kumpel betritt den Raum, sieht sie und will etwas von ihr. Sie hat ein Messer bei sich, droht ihm, verlasse mein Haus. Der Mann nähert sich. Der betrunkene Ehemann kommt etwas zur Besinnung, versucht aufzustehen, schafft es aber kaum. Inzwischen kommt es zum Handgemenge am Schlaflager der Frau. Sie hat das Messer fest in der Hand und hält es dem Mann entgegen, dann sackt sie zusammen. Ahmed erscheint irgendwann im Türrahmen, der andere Mann entweicht. Es ist zu spät. Dann sieht man eine Hochzeitsgesellschaft, die aus einem Haus kommt, in Zeitlupe. Die Menschen tanzen, lachen und singen. Die Brautleute strahlen. Dazu hört man aber sehr traurige Musik. Ahmed läuft unbeteiligt an der Szene vorbei; die Musik unterstreicht die Tragik. Er hatte auch eine Hochzeit und seiner Frau damals erklärt, sie sei sein Augenlicht und etwas Besonderes. Er hat alles verloren ohne Not. Nun geht er allein durch das Leben, vorbei an der fröhlichen Gesellschaft, Richtung Friedhof, der im Hintergrund zu sehen ist.

Önder Çakar kommentiert: die Tradition der Rolle der Frau. Dies ist wichtig für uns alle. Erstens, ein Fundament, auf dem wir aufbauen können, zweitens, nur im privaten Bereich kommt man der Kultur nach.

Frage aus dem Publikum: Die Bedeutung der Musik im Film, hat es Hilfestellungen oder Anregungen gegeben bei der Umsetzung in den Filmen?

Mustafa Şahin erklärt, dass sich die Studenten die Musik alle allein ausgesucht hätten. Nur ein paar Mal gab es Fragen an ihn, als Musiker.
Frage aus dem Publikum: Wurde der Film in Rojava gezeigt und wie hat das Publikum reagiert?

Önder Çakar: In vier Ländern war die kurdische Sprache verboten. Millionen lebten ohne eigene Sprache. Kino ohne eigene Sprache existierte nicht. In Rojava hat sich gezeigt, dass das Publikum reagiert. Dann die kurdische Befreiung in Rojava. Es herrschte eine große Spannung zur Filmvorführung. Und dann ein riesiger Applaus. Es war ein sehr emotionaler Moment. Fast stärker noch, als zur Befreiung von Kobanê.

Die Postproduktion, der cineastische Sound, wurde auch in Rojava durchgeführt, man wollte es nicht im Westen machen. Es sollte hundertprozentig Rojava sein.

Seit 1960. Das Publikum hat keine Erfahrungen, sie haben sich nicht getraut zu kritisieren. Alle Aspekte des Kinos waren unbekannt, die Zuschauer müssen erst Potential bilden.

Es gab das Vorbild von Yılmaz Güney. Es gab Synchronisation im Radio auf Kurdisch für sieben, acht Filme.

Zur Kinovorstellung wurden Theatersäle, Konferenzsäle u. a. einmal die Woche in einen Kinosaal umgebaut.

Damit wir einen Eindruck davon gewinnen, wird uns dann ein zehnminütiger Kurzfilm über die Vorbereitungen zu den Filmvorführungen gezeigt. Und das ist wirklich sehr beeindruckend.

Önder Çakar berichtet: Um die Zuschauer zu aktivieren, haben wir mit den Kindern angefangen. Die erste Vorführung an allen Orten war ein Stummfilm von und mit Charlie Chaplin, »The Kid« aus dem Jahr 1921 mit kurdischen Untertiteln. Zunächst wurden Plakate erstellt. Dann gingen Gruppen von Freiwilligen lange Wege zu den verschiedenen Orten (Amûdê, Rimêlan, Koçeran, Dêrikê (Al-Malikiya), Serê Kaniyê (Ras al-Ayn), Dirbêsiyê usw.), wo Vorführungen stattfinden sollten. Die Parole lautete: Comrade Charlie.

Sie sprachen die Menschen persönlich an, auf dem Feld, in den Straßen, an den Haustüren. Sie erklärten, worum es geht, und übergaben Plakate, die weitergegeben oder aufgehängt werden sollten, um so die Informationen über die geplanten Filmaufführungen zu verbreiten. Am Tag der Vorführung wurden im Eingangsbereich dann Süßigkeiten und Limonade an jedes Kind überreicht. Und dann hieß es: Film ab. Die Spannung war groß.

Es gibt zu jeder Aufführungsstätte dann auch eine ausführliche Dokumentation, die auf der Website des Filmkollektivs angesehen werden kann: https://www.kominafilmarojava.org/english/, z. B. Charlie Chaplin in Rojava (https://youtu.be/CnsdLdCAt8A) oder in Amûdê (https://youtu.be/uMFKxpfmEI8).

Außerdem findet sich auch Filmmaterial vom Kinderfestival, eine Şengal-(Sindschar-)Dokumentation, Bilder vom Training an der Filmakademie und zum Thema Graffiti für Comrade Charlie.

Ferner gibt es eine Dokumentation mit dem Titel »Form=Ideology« von Jonas Staal vom Januar 2016 in englischer Sprache. Dort führt er auch ein Gespräch mit einem der Hauptorganisatoren der Filmkommune Rojava, dem Filmemacher und Lehrer Diyar Hesso, über den Aufbau der Kommune, den revolutionären Realismus bezogen auf die Filmkommune Rojava und den Effekt der Rojava-Revolution, die den Durchbruch brachte zugunsten der demokratischen Ordnung weg vom Nationalstaat. Revolutionärer Realismus – der eine und einzig wahre Realismus – gedeiht und das Rezept, das die Paradigmen einer neuen Welt strukturiert, buchstabiert sich wie folgt: Ideologie=Form.

So sein Fazit.

Önder Çakar: Es hatte schon zuvor Bestrebungen für Kultur und Kunst gegeben. Es ging nicht um die Volksverteidigungseinheiten (YPG), sondern um zu große kulturelle Unterschiede unter ihnen, und die Assimilation war der schwerste Angriff.

Die Frauen in der Klasse sagen, dass es ihr Ziel sei, durch den Film die Rojava-Revolution zu dokumentieren und zu teilen. Lara Elî, eine der Studentinnen, erklärt: »Durch Kultur wird ein Volk sichtbar. Ich habe Kino als Fach besonders deswegen gewählt, weil ich Menschen zu Rojava und zur Frauenrevolution einladen will. Kurdische Kunst und Kultur wurden lange ignoriert; wir wollen mit dem Geist der Revolution darauf antworten.«

»Wir, die Filmkommune Rojava, versuchen die Träume und Imaginationen dieser Revolution zu repräsentieren. Wir glauben an eine Kunst, die die historische Kultur der Gesellschaft mit der neuen revolutionären Moral und Politik verbindet. Unser Grund ist der Grund der Gesellschaft; aber nicht die Gesellschaft, die bereits präsent ist, sondern die Gesellschaft, die wir formen, indem wir sprechen«, so Diyar Hesso im Interview mit Jonas Staal in der Filmkommune Rojava in Dirbêsiyê am 30. Oktober 2015 (aus »IDEOLOGY = FORM« © Jonas Staal, Januar 2016: http://www.e-flux.com/journal/69/60626/ideology-form/).