Wenn es das Wasser dieses Flusses nicht geben würde, dann gäbe es auch kein Leben ...

Mîrav – ein Dienst an der Natur und am Wasser selbst

Devriş Çimen, Journalist

In den frühen Morgenstunden beginnt unsere Reise. Das leuchtende Rot des Morgengrauens begleitet unseren Weg. Während dieses Rot, das unsere Augen an sich bindet, so langsam ins Blau wechselt, spüren wir aus dem offenen Spalt unserer Fenster die Wärme in unser Auto strömen. Zunächst berührt diese Wärme ganz sanft unsere Gesichter. Dann dringt sie langsam, aber stetig in unsere Brust und erwärmt unser Inneres. Wir befinden uns auf den kurvigen Wegen der Kandilberge. Auf der Fahrt blicken wir stetig aus den Fenstern und erblicken in jeder Kurve ein neues buntes Paradies der Natur, versteckt in den Ausläufern des Gebirges. Als wir einen Hügel erreichen, der uns gefühlt den Horizont des Himmels berühren lässt, erblicken wir vor uns die Berge, die den Horizont gar noch übersteigen. Wir lassen unsere Blicke von den Spitzen der Berge hinuntergleiten und erblicken die verschiedensten Grüntöne der Natur. Unser Weg führt uns in dieses Grün.Mîrav – ein Dienst an der Natur und am Wasser selbst | Foto: Devriş Çimen

Während unsere Blicke noch in diesem Meer aus Grün haften bleiben, erblicken wir inmitten dieser Schönheit einen alten Mann. Obwohl er den »Şutik«, einen breiten Wickelgürtel, über seiner kurdischen Tracht trägt, fällt uns sein leichter Buckel auf. Mit seinen abgenutzten Schuhen bewegt er sich schnellen Schrittes in die gegenläufige Richtung eines kleinen Flusses. Er schreitet zwischen den verschiedensten Obstbäumen, die Feigen, Granatäpfel oder Walnüsse tragen, voran.

Dieser alte Mann, der seinen Weg inmitten dieser wunderschönen Natur geht, wohnt in einem aus Erde und Stein errichteten zweistöckigen Haus in einem der Dörfer des Kandilgebirges. Die Berge von Kandil reihen sich in Südkurdistan (Nordirak) an das Zagrosgebirge. Inmitten der Berge sind durch die vielen Flüsse unzählige Gebirgsspalten entstanden, die zu labyrinthartigen Wegen zwischen den Bergen zu den Tälern führen.
Diese Täler und Berge sind Zeugen von hunderten Geschichten, die sich hier in der Vergangenheit ereigneten. Die Geschichte des alten Manns, des Mîrav, ist nur eine von ihnen.

In der Nähe der irakisch-iranischen Grenze, die Südkurdistan von Ostkurdistan trennt, an den Hängen der höchsten Gipfel der Kandilberge, die etwa fünfundzwanzig Kilometer nordöstlich des Dokan-Sees liegen, Liegen die Dörfer Sinemoke, Surede, Aşgulkey und Sergenilye. Die Dörfer sind umgeben von Gärten, die reich an Weinreben, Feigen, Granatäpfeln, Maulbeeren und Pfirsichen sind. Jedes der Dörfer besteht aus rund fünfzig Häusern. Und sie alle sind wie eine Schatztruhe alter Epen Mesopotamiens.

Wir erreichen diese wundervollen Orte im regnerischen Frühling. Der Winter war dieses Jahr hart und schneereich. Den Wechsel der Jahreszeiten betrachten die Dorfbewohner als einen Segen. Denn während der Schnee so langsam schmilzt, entstehen Rinnsale, die zu kleinen Bächen anschwellen. Das Wasser dieser Bäche ist so kalt, dass man es kaum wagt, mit der Hand hineinzufassen, geschweige denn es zu trinken. Die Bäche wagen ihren Weg die Berge hinab und vereinigen sich zu einem fließenden Strom. Dieses Zusammenströmen der Bäche gleicht mit seinem Rauschen einem wahren Orchester. Als der Fluss das Dorf erreicht, welches wir besuchen, wird er etwas langsamer. Hier wird ein Teil des Flusses zur landwirtschaftlichen Bewässerung abgeleitet. Gleich hinter dem Dorf vereinigt er sich dann mit einem größeren Fluss, gewinnt erneut an Geschwindigkeit und fließt dann in das Herz des Dokan-Sees.

Welche Epochen, welche Geschichten, welches Glück und welches Leid, welche Zerstörung und welchen Widerstand dieser Fluss, der unserem Dorf Leben gibt, gesehen hat, liegt im Verborgenen. Doch das Wasser des Flusses fließt klar. Und wir können davon ausgehen, dass der Fluss – ebenso wie unserem Dorf – auch in der Vergangenheit der Natur, den Tieren und den Menschen Leben gegeben hat.

In vielen Religionen und Mythologien, bei den kurdischen, iranischen und arabischen Völkern genauso wie bei den indigenen Völkern Amerikas, Afrikas und Asiens spielt das Wasser in den Schöpfungsmythen eine herausragende Rolle. Aus diesem Grund betrachtet man in unzähligen Gesellschaften überall auf der Welt das Meer, den See, den Fluss oder die Quelle als Heiligtum.

Sowohl im Glauben der alten Sumerer als auch in den mesopotamischen Glaubensschriften der Zoroastrier ist das Wasser etwas Heiliges. Dem Wasser werden eine produktive Rolle bei der Schöpfung und somit göttliche Attribute zugeschrieben und es wird deswegen in diesen Glaubensvorstellungen auch besonders geachtet. Seine Beschmutzung wird als Sünde betrachtet. In dem Avesta, dem heiligen Buch des Religionsstifters Zarathustra, findet man mehrfach Stellen, die diese Vorstellung vom Wasser festhalten.

So wird an einer Stelle des Yasna – ein Bestandteil des Avesta – Wasser mit dem Herrn (Ahura) gleichgestellt. Und in derselben Religion ist von einem Engel namens »Apāmnapāt« die Rede, der allein damit betraut ist, das Wasser zu schützen.

Der Mîrav mit seinem feinen Gesicht, dem wir in den Bergen Kandils begegnen, schützt genau wie Apāmnapāt das Wasser des Gebirges. Er ist etwa siebzig Jahre alt und wird Onkel Hasan Mankak genannt. Seine Rolle kommt dem zoroastrischen Engel auch deshalb gleich, weil er sich darum kümmert, dass vom Fluss aus das Wasser gerecht auf die umliegenden Dörfer verteilt wird. Mit seiner weichen Stimme erklärt er uns: »Wenn es das Wasser dieses Flusses nicht geben würde, dann gäbe es auch kein Leben in den Dörfern. Hier wäre alles trocken. Die Menschen würden dann die Dörfer verlassen und sich selbst überlassen. Dieser Fluss ist also für die Menschen hier nicht nur eine Wasserquelle, sondern die Quelle des Lebens.« Die Art, wie er zu uns spricht, erinnert an einen Märchenerzähler. Doch die Worte, die er mit uns teilt, sind keine Märchen, sondern ein Teil des Lebens der Menschen hier.

In der gesamten Menschheitsgeschichte sind in der Nähe von Flüssen und an den Küsten der Meere Zivilisationen entstanden. Wann die Menschen wohl das verborgene Wasser dieser Berge ausfindig gemacht haben? Das kann uns der Mîrav auch nicht beantworten. Aber er schildert uns eindrücklich, wie das Wasser aus den Bergen das Leben in den Dörfern heute bestimmt: In jedem Frühling, noch bevor der Regen aufhört, kommen die alten Menschen der Dörfer Sinemoke, Surede, Aşgulkey und Sergenilye zusammen. Sie müssen für die Zeit von Anfang Juni bis Ende Oktober einen Mîrav wählen. Denn die Schäden am Flussverlauf, die im Winter und Frühling entstanden sind, müssen behoben werden. Nur so kann der Fluss auch den Dörfern als Lebensquell dienen. Der Mîrav in diesem Jahr ist unser Erzähler, Onkel Hasan Mankak.

Die Augen des Mîrav glänzen, als er langsam seine Hände in den Fluss taucht, um das kalte Wasser zu trinken. Er erklärt uns, dass mit dem Beginn des Sommers die Erde trockener und dann auch mehr Wasser benötigt wird. Dann ist es besonders wichtig darauf zu achten, dass der Fluss an keiner Stelle unnötig an Wasser verliert.

Der Mîrav hat die Aufgabe, für fünf Monate im frühen Morgengrauen flussaufwärts bis zur Quelle des Wassers hochzusteigen und seinen Verlauf zu kontrollieren und instand zu halten. Steine, Äste und andere Gegenstände, die sich im Flussverlauf befinden, werden von ihm entfernt. Bei seiner Rückkehr, wieder am Wasserlauf entlang, ist dann die Sonne in der Regel bereits untergegangen. Der Mîrav ist somit der Herr des Wassers. Seine Aufgabe ist es, die Begegnung des Wassers mit der Natur, den Gärten, den Blumen, den Schmetterlingen, den Knospen, den Bienen, aber auch mit dem Kleinvieh, den Hühnern, den Menschen und vielen anderen Lebewesen zu ermöglichen. Aus diesem Grund wird er Mîrav genannt, also der Herr des Wassers. Der Begriff setzt sich nämlich aus den beiden kurdischen Wörtern »mîr« (der Herr) und »av« (das Wasser) zusammen.

Onkel Hasan Mankak erzählt uns, dass er ein alter Kommunist sei. Das passt zu seiner Tätigkeit als Mîrav. Er sorgt dafür, dass das Wasser gerecht auf die Dörfer verteilt wird. Denn seine Aufgabe ist es auch, den Fluss alle zwei Tage umzuleiten. Jedes der vier Dörfer, die von dem Fluss leben, kommt also nacheinander für jeweils zwei Tage an die Reihe. Unser Mîrav erzählt, dass er für die Umleitung manchmal zwar auch eine Schaufel benötige. Aber in der Regel reiche es aus, mit den passenden Steinen den Verlauf des Wassers geschickt in die richtige Richtung zu lenken. Dadurch sorge er dafür, dass ein Teil des Wassers vom Hauptstrom über kleinere Kanäle in das jeweilige Dorf gelange, das gerade versorgt werde. Über die Kanäle wiederum kommt das Wasser dann zu den Häusern und den Gärten des Dorfes. Dieses Wasser reicht vollkommen aus, um den Wasserbedarf der Bewohner und ihrer Tiere und Felder vollständig zu decken. Aber damit das auch wirklich gelingt, muss die Verteilung völlig gerecht ablaufen. Und so kommt es, dass nur Menschen, denen von allen Seiten großes Vertrauen geschenkt wird, zum Mîrav gewählt werden. Falls wirklich einmal jemand aus berechtigten Gründen mehr Wasser benötige, könne der Mîrav auch eine Ausnahme machen, erklärt uns der Onkel. Aber falls jemand auf eigene Faust den Fluss umleite, gebe es Ärger. »Es fällt mir schwer«, so der Mîrav, »aber dann muss ich den Betreffenden aufsuchen und mich leider Gottes mit ihm streiten. Ich versuche ihnen allerdings immer in Ruhe zu erklären, dass ihr Verhalten nicht richtig ist. In den meisten Fällen sehen sie es ein und entschuldigen sich. Damit versuchen wir diese Situation dann auch zu beenden.«

Der Mîrav sei kein Beruf, erklärt uns unser Onkel. Es sei Dienst an der Gesellschaft, ein freiwilliger Dienst. Man müsse sich aber dazu in gewisser Weise auch berufen fühlen, denn nur Menschen, die gerne einen Dienst für ihre Mitmenschen leisten, könnten diese Verantwortung übernehmen. Und es gehe hierbei nicht nur um die Mitmenschen. Denn letztlich sei die Aufgabe des Mîrav auch ein Dienst an der Natur und am Wasser selbst.

»Wenn mein Leben dazu noch ausreicht und die Dorfältesten mich erneut mit dieser Aufgabe betrauen, würde ich sie gerne wieder übernehmen«, sagt Onkel Hasan Mankak. Er habe bereits in der Vergangenheit zwei Mal diese Aufgabe übernommen. Er mache diese Arbeit gerne. Es sei keine Arbeit, bei der es ums Geldverdienen ginge. Am Ende seiner »Amtszeit« sammeln die Dorfbewohner untereinander ein wenig Geld, um es dem Mîrav für seinen Dienst zu geben. Er teilt uns mit einem Lächeln mit, dass dies keine Summe sei, mit der man reich werde. Das sei ohnehin nicht sein Ziel. »Ich kümmere mich neben meiner Aufgabe auch noch weiterhin um meinen kleinen Garten. Das reicht für mich aus. Nicht das Geld macht einen glücklich. Mich macht es glücklich zu sehen, wie mit dem Wasser des Flusses die Pflanzen über das Jahr hinweg wachsen, Früchte geben und die Menschen und anderen Lebewesen ernähren.«

Ich glaube ihm diese Worte. Denn als er uns in sein Haus einlädt, aus dem es nach frisch gebackenem Brot duftet, wird uns von Neuem klar, wie reich das Herz dieses Mannes ist. Er hat in diesem Haus mit seiner Frau sieben Kinder großgezogen. Nun teilt er das Haus mit einem seiner Kinder und drei Enkelkindern. Während er die Wange eines seiner Enkelkinder küsst, huscht ihm dasselbe Lächeln über das Gesicht wie in dem Moment, als er seine Hand in das kalte Wasser des Flusses eintauchte. »Was ist Glück, wenn es nicht das ist!«, denke ich bei mir.

In den großen Städten fernab der Berge wird man die Arbeit eines Mîrav nicht mehr finden. Die Wasserversorgung wird dort durch staatliche Strukturen übernommen. Selbst die Privatisierung des Wassers – und damit die vollständige Unterordnung der Wasserversorgung unter das Diktat der Märkte und des Kapitals – wird diskutiert. Während im Mittleren Osten entlang des Tigris, des Euphrats und des Nils geschichtsträchtige Zivilisationen entstanden sind, werden heute in derselben Region erbitterte Kriege um Rohstoffe und Bodenschätze geführt. Und man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, dass sich die kommenden Kriege in der Region um das Wasser drehen werden. Das übermäßige Bevölkerungswachstum, die kapitalistische Produktionsweise und das Wuchern der Städte führen dazu, dass der Menschheit immer weniger sauberes Trinkwasser zur Verfügung steht. Und so wie in der Geschichte entlang des Wassers unzählige Zivilisationen entstanden sind, so wird das Fehlen des Wassers dazu führen, dass Zivilisationen zugrunde gehen.

Der Mittlere Osten ist bereits heute großer Trockenheit ausgesetzt. Die Flüsse werden gestaut und von Staaten als politisches Druckmittel gegen ihre Nachbarn eingesetzt. Das noch fließende Wasser wird übermäßig verschmutzt oder zur Ware gemacht und auf den Märkten von Unternehmen in Plastikflaschen abgefüllt feilgeboten.

Während in unserem Zeitalter so vieles rund um das Wasser schief läuft, zeigt uns der Mîrav in den bergigen Dörfern des Kandils, wie gesellschaftlich-ethisches Verhalten mit dem Wasser aussehen kann.