Machtexpansion nach außen, Repression nach innen

Die Schiiten im Nahen und Mittleren OstenDie Schiiten im Nahen und Mittleren Osten

Emrullah Boztaş, Journalist

In vielen arabischsprachigen Ländern ist es den Volksbewegungen, die nach strukturellen Reformen und der Ablösung diktatorischer Regime verlangen, bereits jetzt gelungen, die Machtverhältnisse nachhaltig ins Schwanken zu bringen und Veränderungen herbeizuführen. Im Mittleren Osten können sich die Besonderheiten von Kriegen und Bündnissen schnell ändern. Als historische Feinde Geltende können von einem Tag auf den anderen zu Bündnispartnern werden. Ehemalige Freunde können sich morgen schon gegenseitig bekriegen. Im Hinblick darauf gilt es einen besonderen Blick auf die Entwicklungen in den Ländern Irak, Syrien und Libanon zu werfen.

Einer der wichtigen Akteure im konfliktträchtigen Mittleren Osten von heute sind die Schiiten. Ihr historisches und kulturelles Territorium ist im Laufe der Geschichte mal gewachsen, mal geschrumpft. Gegenwärtig befinden sie sich in einer Expansionsphase. Die wichtigste Ursache dafür ergab sich durch die Intervention der USA im Mittleren Osten. Die Schiiten, die seit jeher ihren Einfluss in der ganzen Region vergrößern wollen, in denen ihre Glaubensgeschwister leben, haben die Gunst der Stunde richtig zu nutzen gewusst.

In der kapitalistischen Moderne wird der Krieg durch die herrschenden Kräfte als Mittel der Neugestaltung genutzt. Das mit dem Angriff auf das Baath-Regime im Irak geschaffene Chaos führte dazu, dass Bagdad – seit Jahrhunderten durch die Eliten des sunnitischen Islams geführt – unter die Kontrolle der Schiiten geriet, die ihrerseits die Mehrheit im Irak bilden. Durch die neutrale Haltung der Kurden im Irak wird Bagdad, das historische Zentrum der Kalifen (sowohl das umayyadische als auch das abbasidische Kalifat befand sich zeitweise in Bagdad), erstmals durch Vertreter der schiitischen Konfession gelenkt. Nachdem die sunnitischen Kalifate der Abbasiden, der Umayyaden und der Osmanen die Region kontrollierten, sind es nun die Schiiten, die sich als Anhänger Alis betrachten, welche die Regierungs- und leitende Positionen in Bagdad bekleiden.

Während zu Beginn des Bürgerkriegs in Syrien und des Erstarkens des IS im Irak den Machthabern in beiden Ländern kaum Erfolgsaussichten beschieden wurden, haben die Aufrufe zahlreicher Ajatollahs zum Heiligen Krieg dazu geführt, dass sich in beiden Ländern das Blatt wendete.

Die irakischen Kurden, die in ihrer überwiegenden Mehrzahl selbst der sunnitischen Konfession im Islam angehören, halten sich von der Konfliktlinie zwischen der schiitisch-arabischen und der sunnitisch-arabischen Bevölkerung fern. Zu behaupten, sie nähmen eine neutrale Position in dem Konflikt ein, wäre aber dennoch falsch. Denn ihre Zurückhaltung beruht auf einem Abkommen mit der irakischen Zentralregierung, das sowohl einen kurdischen Staatspräsidenten für den irakischen Zentralstaat als auch eine weitreichende Autonomie für den kurdischen Norden des Irak vorsieht. Ein Ergebnis dieses Abkommens ist wiederum die Manifestation der schiitischen Vormachtstellung im Irak und damit die Ausweitung der Einflusssphäre des iranischen Staates, der selbsternannten Protektionsmacht der Schiiten.

Denn bei Betrachtung der Machtkämpfe im Irak und im Jemen steht der Einfluss der Islamischen Republik Iran außer Frage. Ebenso klar ist, dass der Iran und die libanesische Hisbollah die wichtigsten Stützen des syrischen Baath-Regimes sind. Die oppositionellen Kräfte innerhalb der totalitären Regime in Qatar, Bahrein und den Vereinigten Arabischen Emiraten sind ebenfalls schiitisch und werden aus dem Iran unterstützt. Dasselbe gilt für die schiitische Minderheit in den südlichen und östlichen Gebieten Saudi-Arabiens. Auch auf dem afrikanischen Kontinent gibt es in Nigeria eine aktive schiitische Bevölkerung, die in ihrem politischen Kampf ebenfalls Kraft aus dem Iran schöpft. Und so kommt es, dass das iranische Regime, das gegenüber seiner eigenen Bevölkerung ein äußerst totalitäres System etabliert hat, von den schiitischen Bevölkerungsgruppen außerhalb des Landes wie ein Erlöser gepriesen wird.

Die schiitischen Kräfte führen sowohl im Irak gegen den Islamischen Staat (IS) als auch in Syrien gegen andere dschihadistische Gruppen einen relativ erfolgreichen Krieg. In beiden Ländern kämpfen auch Einheiten der iranischen Revolutionsgarde in ihren Reihen. Das Welayat-e Faghih [»Die Statthalterschaft des Rechtsgelehrten« nach Ajatollah Chomeini] als ideologische Grundlage der schiitischen Herrschaft hat auch außerhalb des Iran großen Einfluss auf die Schiiten. Während zu Beginn des Bürgerkriegs in Syrien und des Erstarkens des IS im Irak den Machthabern in beiden Ländern kaum Erfolgsaussichten beschieden wurden, haben die Aufrufe zahlreicher Ajatollahs zum Heiligen Krieg dazu geführt, dass sich in beiden Ländern das Blatt wendete. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür war ein Aufruf des religiösen Führers der irakischen Schiiten Sistani, der binnen weniger Wochen zehntausende Menschen zur Waffe greifen ließ. Nur dadurch konnte der Vormarsch des IS, der mittlerweile Bagdad bedrohte, zurückgeschlagen werden. Viele der schiitischen Kämpfer hatten zwar kaum Kampferfahrung, doch die Aussicht auf das Paradies bei einem Märtyrertum im Heiligen Krieg reichte als Motivation für die meisten aus, um unter großem Einsatz die alten Generäle des Baath-Regimes und die radikalen Islamisten des IS zu stoppen. Ausschlaggebend für ihren Erfolg waren also ihre Motivation und Moral.

Wenn wir an die Schiiten denken, kommt uns naturgemäß zunächst die Islamische Republik Iran in den Sinn. Der iranische Staat blickt auf eine jahrtausendealte Tradition in der Region zurück, seine Geschichte reicht weit über die islamische Geschichte hinaus. Und in gewisser Weise verkörpert auch die Islamische Republik Iran die vorislamische medisch-persische Zivilisation. Denn dem Iran ist es auch in der Zeit nach der Ausbreitung des Islams gelungen, seine Eigenheiten zu wahren. Durch die Verbreitung des Islams im heutigen iranischen Raum entstand aus der Hybridität von medisch-persischer und islamischer Kultur etwas Neues.

Bereits zur Zeit des frühen Islams der ersten vier Kalifen bildete sich auf dem Territorium des heutigen Iran, Afghanistans, Tadschikistans und Pakistans die kulturelle Tendenz heraus, sich von der islamischen Hauptströmung zu separieren. Besonders die Glaubensgemeinschaften der Zoroastrier und der Mazdakiten drückten ihre Widersprüche zum noch jungen Islam dadurch aus, dass sie den Anspruch Alis, des Neffen und Schwiegersohns des Propheten Mohammed, und seiner Nachfolger auf das Kalifat unterstützten. Um die Frage des Kalifats entbrannte nach dem Tod Mohammeds bekanntlich ein Machtkampf, in dessen Folge sich die Partei Alis, in Opposition zur umayyadischen Dynastie, als Schiiten von der sunnitischen Ausrichtung des Islams abspaltete. Für die Anhänger Alis, die quasi von den Vertretern des sunnitischen Islams exkommuniziert wurden, galten das alte Arya [alte Bezeichnung für die iranische Hochebene] und Basra als wichtige Rückzugsgebiete. In die Region von Tadschikistan bis nach Basra im Mittleren Osten konnten zugleich auch die semitischen Stämme [die arabischen Stämme, die den Islam verbreiteten] nicht vorstoßen. Durch den Einfluss des Schiitentums, des Islams wurde dennoch die dualistische Philosophie des Zoroastrismus einer Revision unterzogen, und durch das Bündnis mit dem safawidischen Reich ist schließlich ein Glaube entstanden, der dem heutigen Schiitentum sehr nahe kommt. Laut schiitischer Glaubenslehre wird der verschwundene zwölfte Imam Mahdi wieder zurückkehren und im Kampf gegen Daddschal das Böse auf Erden auslöschen. In diesem Kampf werden die Schiiten auf Seiten Mahdis zum Kampf bereitstehen und dafür am jüngsten Tag belohnt werden. Die Rolle der Führung spielt hierbei eine besondere Rolle. Im Schiitentum übernimmt das Welayat-e Faghih diese Führungsrolle und soll die schiitische Gemeinschaft bis zur Rückkehr des Mahdis auf dem rechten Weg führen.

Die heutige schiitische Glaubensauffassung des Mahdi-Daddschal-Dualismus ist eine Widerspiegelung der alten zoroastrischen Befreiungstheorie. Im Zoroastrismus kämpft der gute Gott Ahura Mazda gegen Ahriman, der das Böse repräsentiert. Am jüngsten Tag wird Ahura Mazda diesen Kampf gewinnen, und nach dem jüngsten Tag werden diejenigen, die an seiner Seite gekämpft haben, belohnt. Und das wichtigste Detail in diesem Vergleich ist, dass der persische Herrscher als Vertreter Ahura Mazdas mit der Aufrechterhaltung der Ordnung im Diesseits beauftragt ist.

Hier findet also eine Adaption von Glaubensvorstellungen durch das Schiitentum statt, die es so auch bei den Zoroastriern und Mazdakiten gegeben hat. Die Wurzeln für die Moral und Kampfbereitschaft der schiitischen Kämpfer haben also eine lange Tradition.

Mit Blick auf die weit zurückreichenden Grundlagen verfügen die schiitischen Kräfte mit ihrem Zentrum im Iran über einige wichtige Vorteile. Von den alten indoeuropäischen Ethnien sind es allein die Kurdinnen und Kurden, die sich nicht mehrheitlich des Schiitentums angenommen haben. Dennoch werden sie bei den Plänen des Iran im Mittleren Osten im Allgemeinen nicht als Gegner, sondern eher als neutrale Kraft oder potentielle Bündnispartner wahrgenommen. Selbst wenn sich ein Teil Kurdistans unter iranischer Kolonialherrschaft befindet, wurde die Identität der Kurden durch den iranischen Staat nie verleugnet, auch wenn es hieß, dass sie iranische Wurzeln hätten. Die persischen und iranischen Machthaber waren stets daran interessiert, die Kurden als Bündnispartner in der Region zu halten.

Unter der schiitischen Bevölkerung des Mittleren Ostens gibt es im Prinzip eigentlich keine Opposition zum Iran. Im Gegenteil, dessen ideologische Führungsrolle durch das Welayat-e Faghih wird von so gut wie allen Schiiten anerkannt. Aktivitäten und Äußerungen des Iran werden deshalb ohne Umschweife als der göttliche Abglanz auf Erden respektiert.

Angesichts der im Irak, in Syrien, im Jemen und im Libanon agierenden schiitischen Kräfte können wir durchaus von einem vom Norden Tadschikistans bis zum Libanon reichenden schiitischen Einflussgebiet sprechen. Gleichzeitig reicht es über den persischen Golf bis zum Jemen. Auf Grundlage dieses breiten Einflussgebiets erwiderte der Iran die Angriffe gegen das Mutterland der Schiiten, die bis vor zwei Jahren noch anhielten, mit einer Strategie, sie außerhalb der eigenen Staatsgrenzen abzuwehren.

Der Iran war einer Isolationspolitik ausgesetzt, die maßgeblich von den USA und Europa ausging. Eine Intervention und ein Krieg wie im Irak waren nicht unwahrscheinlich. Um diese Gefahr zu bannen, ergriff der iranische Staat außerhalb seiner Staatsgrenzen verschiedene politische Maßnahmen. Gleichzeitig haben im Rahmen des arabischen Frühlings, der zu Beginn ein demokratisches Aufbegehren der Völker für mehr Freiheit war, auch die schiitischen Minderheiten in Qatar, den Vereinigten Arabischen Emiraten und dem Jemen rebelliert. Ihre Proteste konnten nur mit der Unterstützung des Militärs von Saudi-Arabien, das von Qatar und den Emiraten zu Hilfe gerufen wurde, niedergeschlagen werden. So ist Saudi-Arabien einerseits der »schiitischen Gefahr« durch militärisches Eingreifen begegnet; andererseits hat es aber auch mit dem Vollzug der Todesstrafe am schiitischen Führer in ihren eigenen Staatsgrenzen, Scheich Nimr Baqir al-Nimr, den Grundstein für weiteren Aufruhr gelegt. Gleichzeitig hat die Türkei, die sich gern in der Führungsposition des sunnitischen Islams sieht, in Syrien und dem Irak dschihadistische Gruppierungen wie den IS oder Al-Qaida-Untergruppen unterstützt. Und während der Iran in dieser ganzen Phase darum bemüht war, den Krieg von seinen Grenzen fernzuhalten, begann er gleichzeitig damit, die Opposition im eigenen Land mit der Todesstrafe und anderen repressiven Maßnahmen zum Schweigen zu bringen. Die Aufhebung des Embargos und der Isolation, nachdem das internationale Atomabkommen Januar 2016 in Kraft getreten war, hat der iranischen Politik weiteren Auftrieb gegeben und das Entgegenkommen des Westens ihr auch einen Strategiewechsel ermöglicht.

Hatte sich der Iran bis dahin mit dem syrischen Baath-Regime nur auf Grundlage der Unterdrückung von Kurden verständigen können, erfolgte nach Aufhebung der Sanktionen eine strategisch tiefergehende Zusammenarbeit. Er begann das syrische Regime aktiv militärisch und logistisch zu unterstützen. Diese Unterstützung sorgte zugleich auch dafür, dass Damaskus im Bürgerkrieg an Boden gewann. Dem Aufruf der schiitisch-religiösen Führung im Iran folgend begann auch die libanesische Hisbollah auf Seiten des Baath-Regimes aktiv am Kriegsgeschehen in Syrien teilzunehmen. Ihr gelang es binnen weniger Wochen, wichtige Gebiete im syrisch-libanesischen Grenzgebiet unter ihre Kontrolle zu bringen, was Damaskus eine Atempause verschaffte. Im Norden Syriens, also in Rojava, verfolgte das Baath-Regime zeitgleich eine nicht konfrontative Strategie gegen die dortigen Verteidigungseinheiten (YPG/YPJ). Die kurdische Seite wurde somit vom Regime als eine dritte Partei im Bürgerkrieg anerkannt. Auch wenn die Strategie der Nichtkonfrontation bei den Auseinandersetzungen zwischen den kurdischen Verteidigungseinheiten und den vom Iran unterstützten Gruppen in Heseke fast ein jähes Ende gefunden hätte, so hat sie im Prinzip noch Bestand.

Parallel zum Aufschwung der schiitischen Expansionspolitik in Syrien kam es im Irak zu ähnlichen Entwicklungen. Nach der Einnahme von Mûsil (Mosul) hatte der IS begonnen, seine Angriffe auf die südkurdische Gebieten Sadiyê, Celewla, Kerkûk und Şengal (Sindschar) auszuweiten. Dabei verharrten die schiitischen Kräfte noch in der Beobachterrolle. Doch der anhaltende Siegeszug des IS war sowohl in Hewlêr (Erbil) als auch in Bagdad Grund zur Sorge. Er war im Süden bis an die Grenze zum Iran vorgerückt. Die Peşmerge-Einheiten der Patriotischen Union Kurdistans (YNK) zogen sich nach großen Verlusten teilweise aus Celewla und Sadiyê zurück. So langsam wuchs die Gefahr, dass der IS gen Kerkûk vorrücken könnte. Er brachte ebenfalls die êzîdische Stadt Şengal (Sindschar) unter seine Kontrolle und stand damit unmittelbar vor dem nördlichen Grenzübergang zu Syrien in Rabia. Die Peşmerge-Einheiten der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) hatten in Şengal zuvor freiwillig das Feld geräumt und sich in Richtung Duhok zurückgezogen. Mit der Einnahme des Ortes Kelek war der IS nun bis vor die Tore Hewlêrs [Sitz der kurdischen Regionalregierung] gelangt.

Bis zu diesem Zeitpunkt waren die schiitischen Kräfte im Irak erstarrt, während der IS begann, die Vororte von Bagdad einzunehmen. Die irakische Armee hatte keinerlei Widerstand gezeigt. Ihre Mitglieder waren entweder geflohen oder schlossen sich dem Gegner gruppenweise an. Die Volksverteidigungskräfte (HPG) der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) hingegen entschlossen sich in dieser Phase, aktiv einzugreifen. Sie erklärten, sich dem IS nicht nur in Şengal, sondern auch in den grenznahen Sadiyê und Celewla sowie in Kerkûk, Mexmûr und Hewlêr entgegenzustellen. An vielen Orten bildeten sie auf diesem Wege gemeinsame Verteidigungslinien mit den Peşmerge. In Şengal kämpften sie erfolgreich einen humanitären Korridor nach Rojava frei. Diese Initiative der PKK stellte der Weltöffentlichkeit ihre militärische und politische Schlagkraft unter Beweis und entfachte den Widerstandskampf gegen den IS. Erst in der Folge des Eingreifens der PKK sammelten sich auch die übrigen bewaffneten Kräfte im Irak, um den Vormarsch des IS zu stoppen und die Islamisten zurückzudrängen. Auf einen Aufruf des schiitischen Führers im Irak Sistani hin wurde die überwiegend schiitische Miliz Al-Haschd asch-Schaabi gegründet. Jeder Schiite, dessen Hand eine Waffe halten kann, war zum Kampf gegen den IS aufgerufen. In der Folge begann der IS auch im Süden an Boden zu verlieren. Zugleich führte der gemeinsame Kampf zu einer Annäherung zwischen den Kurden im Irak und dem schiitischen Block, was die schiitische Vorherrschaft dort weiter festigte.

Neben den Kampfhandlungen im Irak ist für die schiitische iranische Führung auch der Jemen von besonderem Interesse. Die schiitische Mehrheit im Osten des Landes begann sich im Rahmen des arabischen Frühlings zu organisieren und wurde darin aktiv aus dem Iran unterstützt. Im Jemen machen die Schiiten rund 40 % der Gesamtbevölkerung aus. Ihrer Huthi-Bewegung ist es mit aktiver iranischer Unterstützung gelungen, die Regierungsmacht an sich zu reißen. Der abgesetzte jemenitische Präsident flüchtete anschließend nach Saudi-Arabien, wo unter saudischer Führung eine arabische Militärallianz gegen die Huthi gebildet worden ist, die durch anhaltende Luftangriffe von sich reden macht. Für Iran selbst stellt der anhaltende Konflikt keine Gefahr dar. Doch für Saudi-Arabien, das nun vor seiner eigenen Haustür mit schiitischen Machthabern konfrontiert ist, gestaltet sich die Lage deutlich schwieriger. Denn der Krieg, den die saudischen Herrscher im Jemen führen, schwächt die Wirtschaft des Königreichs und führt gleichzeitig dazu, dass sie notgedrungen die Unterstützung für die wahhabitisch-islamistischen Gruppen im Irak kürzen müssen. Das wiederum stärkt dort die Position des Iran weiter. Der Machtwechsel im Jemen ist also ein strategischer Erfolg des Iran im Kampf gegen seinen Dauerrivalen Saudi-Arabien. Die Kosten dieses Machtkampfes trägt ohne Frage die Zivilbevölkerung des Jemen.

In der Gesamtschau wird deutlich, dass der Iran bzw. die schiitische Bewegung sich gewandelt hat. Hatten bis zum letzten Viertel des 20. Jahrhunderts traditionell die Scheichs die religiöse Führung im Schiitentum inne, so ist diese Führungsrolle durch eine Neuinterpretation im Sinne der kapitalistischen Moderne der Islamischen Republik Iran übertragen und institutionalisiert worden.

In der Gesamtschau wird deutlich, dass der Iran bzw. die schiitische Bewegung sich gewandelt hat. Hatten bis zum letzten Viertel des 20. Jahrhunderts traditionell die Scheichs die religiöse Führung im Schiitentum inne, so ist diese Führungsrolle durch eine Neuinterpretation im Sinne der kapitalistischen Moderne der Islamischen Republik Iran übertragen und institutionalisiert worden. Die vom Ökonomischen über das Soziale bis hin zum Politischen führende Kraft im Iran ist die Institution des Welayat-e Faghih, analog zum Kalifat im sunnitischen Glauben, als es noch von allen Sunniten anerkannt wurde. Aufbauend auf diesem Selbstvertrauen [das sich darin ausdrückt, sich selbst an die Stelle des Kalifats zu setzen] gelingt es der schiitischen Bewegung, Bündnisse mit verschiedensten nicht sunnitischen Gruppen im Mittleren Osten wie den Alawiten, den Ismailiten oder den christlichen Minderheiten einzugehen. Im Würgegriff des Dschihadismus ziehen es etliche Gruppen eher vor, auf der Seite des schiitischen Totalitarismus ihren Platz einzunehmen, als alleingelassen zu werden. Im Irak haben sich die Machtverhältnisse vollständig in Richtung der schiitischen Kräfte verschoben. Im Libanon hat die schiitische Hisbollah durch ihren Einsatz bei der Verteidigung des Landes ohnehin eine unangefochten wichtige Stellung. Insgesamt geht der sunnitische Einfluss in der gesamten Region beständig zurück, was in erster Linie auf die ausgeklügelte Machtpolitik des Iran zurückzuführen ist. Die iranische Führung setzt also auf eine vielschichtige und flexible Außenpolitik der Machtexpansion, während sie nach innen die Repression gegen Oppositionelle beständig fortführt.