nur online | Die Rolle der Türkei und ihrer Verbündeten in der Syrienkrise

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Beitrag von Fehim Taştekin auf der 13. EUTCC-Konferenz

Beitrag von Fehim Taştekin auf der 13. EUTCC-Konferenz | Foto: ANFDie berechtigten Forderungen der Syrer_innen nach Veränderungen wurden in kürzester Zeit durch eine blutige Phase verdrängt. Das syrische Regime hat ohne Frage schwere Verbrechen begangen. Es ist jedoch mindestens genauso wichtig, die Rolle der Akteure genauer zu betrachten, die sich in der Gruppe der Freunde des syrischen Volkes (Group of Friends of the Syrian People) zusammengeschlossen haben. Natürlich erfolgt diese Analyse zu einem sehr späten Zeitpunkt. Das eigentliche Ziel vieler dieser Akteure war nicht die Demokratisierung des Systems. Sie beabsichtigten vielmehr, ein Land in die Knie zu zwingen, das in der globalen Ordnung eine besondere Rolle spielt. So wurden die Entwicklungen in dieser Phase, die friedlich begann, durch eine religiös-sektiererische Sprache und Waffen in eine grundlegend andere Richtung gelenkt. Dafür tragen die Türkei und die Verbündeten des Westens wie Saudi-Arabien und Qatar eine sehr große Verantwortung.

Zuallererst müssen wir uns Folgendes in Erinnerung rufen: Was vor dreißig Jahren in Afghanistan mit der logistischen Unterstützung Pakistans, der finanziellen Hilfe der Saudis und dem organisatorischen Beitrag der CIA erprobt worden war, wurde nun in Syrien wiederholt. Die globale Mobilmachung der dschihadistischen Kräfte in Afghanistan brachte der Welt Organisationen wie Al-Qaida, die Taliban oder die Tehrik-i-Taliban. Der einzige Unterschied in Syrien war nun, dass die Türkei und Jordanien die Rolle Pakistans übernahmen. Dem Relikt Afghanistans folgend wurden die Elemente einer neuen Generation von Dschihadist_innen auf die syrische Bühne gelenkt. In den Augen der Türkei und ihrer Freunde waren all diese Kräfte Revolutionär_innen. Die Türkei unterstützte das Revolutionsprojekt auf dem Territorium ihres Nachbarn. Bei der Organisation auf ziviler wie auch auf militärischer Ebene trat sie als Unterstützerin der Opposition auf den Plan.

Als Journalist bin ich Zeuge tausender Lügen geworden. Es gäbe sehr viel zu berichten, aber dafür fehlt an dieser Stelle leider die Zeit. Wir tun gut daran, damit zu beginnen, der Lüge, dass die Absicht der Akteure in Syrien Demokratie gewesen sei und die gemäßigten Kräfte erst später von dschihadistischen Kräften verdrängt worden seien, ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Die Dschihadist_innen waren von Anfang an in Syrien. Bereits während der ersten Tage des syrischen Aufstandes gibt es viele Beispiele für Akte konfessioneller Gewalt durch die Dschihadist_innen. An dieser Stelle ein Beispiel, das nur die Türkei betrifft: Am 3. Juni 2011 wurden in Dschisr asch-Schughur 123 Sicherheitskräfte getötet. Ihnen wurden Arme und Beine abgeschnitten, ihre Leichen in den Fluss Asi geworfen oder in Massengräbern verscharrt. All die Munition, die bei diesem Massaker der sogenannten Revolutionär_innen verwendet wurde, stammte aus der Türkei. Die Personen, die an diesem Massaker beteiligt waren, wurden fälschlicherweise zu Held_innen erklärt. Mit ihnen wurden in der Türkei die Gruppen »Bewegung Freier Offizier_innen« (Vorläuferin der FSA) und »Freie Syrische Armee« (FSA) aufgebaut.

Viele Akteure wollten uns auf naive Weise Glauben machen, dass die vermeintlich demokratischsten Länder der Welt auf der Arabischen Halbinsel sich nun darum bemühen würden, die Demokratie auch nach Syrien zu bringen. Diese schmutzige Einmischung hat nichts anderes bewirkt, als dass hunderte gefährliche Organisationen in der Region ihre Wurzeln schlugen, hunderttausende Menschen starben und Millionen zu Geflüchteten wurden, zusammen mit den Ursprungsstätten der Zivilisation ganze Städte vernichtet, Industriegebiete wie das in Scheikh Nadschar geplündert und historische Stätten zerstört wurden. Diese Operationen stellen schwere Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Plünderungs- und Zerstörungsvergehen und Verbrechen im Zusammenhang mit der Unterstützung von Terrorgruppen wie Al-Qaida dar.

Davon abgesehen wurden in dieser Phase zwei Modelle erschaffen: das dunkle Modell des Islamischen Staates (IS) und das Modell der demokratischen Selbstverwaltung in Rojava. Die türkische Regierung zog es vor, den IS zu unterstützen und den unter der Leitung der Kurd_innen entstandenen Selbstverwaltungsstrukturen den Krieg zu erklären. Seit Juli 2012 führte die Türkei einen Stellvertreterkrieg sowohl gegen die Kurd_innen als auch gegen die syrische Führung. Ab Oktober 2014 konzentrierte sich ihre Feindschaft jedoch zunehmend auf die Kurd_innen. Es lässt sich nicht verhehlen, dass sich die Türkei der Unterstützung des IS schuldig gemacht hat. Die Politik der türkischen Regierung bezüglich des IS zeigt sich in vier verschiedenen Kategorien:

  • Als der IS gegen die syrische Führung kämpfte, wurde er als revolutionäre Kraft betrachtet und profitierte von seinen Grenzen zur Türkei.
  • Als der IS Rojava angriff, wurde er als nützliche revolutionäre Kraft betrachtet und unterstützt.
  • Als der IS gegen Gruppen Krieg führte, die von der Türkei und den Golfstaaten unterstützt wurden, wurde er zu einer unerwünschten Organisation.
  • Im Irak wurde der IS als Motor der sunnitischen Revolution gegen die Maliki-Regierung betrachtet. Die ISler_innen betrachtete die AKP-Führung als wütende, sunnitische Kinder.

Des Weiteren blieb die türkische Regierung sehr zurückhaltend, als der IS drei Grenzübergänge an der Grenze zur Türkei einnahm. Auch wenn die Grenzübergänge von der türkischen Regierung offiziell geschlossen wurden, duldete man dennoch, dass sie vom IS überquert wurden. Auch wenn die Telefonate der Emire des IS an den Grenzübergängen abgehört wurden, so wurde dem Nachschub an Kämpfer_innen und Gütern über die Grenze nichts entgegengesetzt. Auch wurde gegen die Organisierung des IS in verschiedenen Städten der Türkei nichts unternommen. Sogar gegen IS-Mitglieder, die in Terrorakte verwickelt waren und unter Beobachtung standen, wurde nichts gemacht.

Sobald nachgewiesen werden konnte, dass die Türkei Beziehungen zum IS pflegt, war die Regierung in Ankara gezwungen, sich der Internationalen Koalition gegen den IS anzuschließen und einige Maßnahmen zu unternehmen. Durch die Öffnung des Militärstützpunktes in Incirlik hat sich die Türkei jedoch nur halbherzig am Kampf gegen den IS beteiligt.

Indem sie den Volksverteidigungseinheiten (YPG) nicht erlaubte, den Westen des Euphrats zu überqueren, unterstützte sie den IS weiterhin dabei, entlang der türkischen Grenzen zu bleiben. Sie musste mit der Militäroperation »Euphrat-Schild« auf den Druck der USA reagieren, entweder den IS selbst zu bekämpfen oder es den »Demokratischen Kräften Syriens« (QSD) unter Führung der Kurd_innen zu ermöglichen. Bei der Operation »Euphrat-Schild« ging es um folgende vier Punkte:

  • Der Anschein der Unterstützung des IS sollte widerrufen werden.
  • Das kurdische Gebiet zwischen Kobanê und Afrîn sollte »gesäubert« und dadurch die Verbreitung der demokratischen Autonomie unterbunden werden. Laut Aussagen türkischer Staatsvertreter_innen sollte ein »kurdischer Korridor« verhindert werden. Hier wurde auf der Grundlage einer künstlich geschaffenen Angst eine weitere Gelegenheit genutzt, den IS zu unterstützen.
  • Es ging tatsächlich darum, ein Schutzgebiet für Geflüchtete und bewaffnete Gruppen zu schaffen.
  • Für die in Aleppo in Not geratenen Gruppen sollte ein Schutzraum geschaffen werden.

Die türkische Politik ist so ausgerichtet, dass es ihr lediglich darum geht, die demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava zunichtezumachen. Die Türkei hat bereits Signale ihrer Bereitschaft ausgesandt, sich auch mit Assad zu verbünden, um die Föderation Nordsyrien – Rojava zu zerstören. Diese wird mit einer derart feindlichen Politik der Türkei konfrontiert, weil sie stets an ihre Autonomie als Selbstverwaltungskantone gebunden war.

Rojava ist für die Türkei, die selbst sowohl die kurdische als auch die alevitische und christliche Minderheit nicht akzeptiert, ein provokativer Dorn im Auge. Die ganze Angelegenheit kann wie folgt beschrieben werden: Wie soll die Situation der Kurd_innen in der Türkei aussehen, wenn die Kurd_innen in Syrien eine Autonomie aufbauen, in der das Recht auf muttersprachlichen Unterricht und die Anerkennung ihrer kulturellen Identität und ihrer grundlegenden Rechte garantiert werden? Die Kurd_innen in der Türkei werden sich nicht mit einem Status abfinden, der dem der syrischen Kurd_innen in etwas nachsteht. Diese Tatsache raubt so manchen den Schlaf.

Indem die Türkei Rojava den Krieg erklärte, hat sie auch die brüchige Beziehung zu ihrer kurdischen Bevölkerung vergiftet.

Für die Türkei hätte Rojava im Lichte geographischer, historischer und aktueller Faktoren einen wechselseitigen Effekt. Ein positiver Einfluss wäre: Wenn die Türkei mit Rojava freundschaftliche Beziehungen bzw. ein Bündnis einginge, könnte auch die Lösung der kurdischen Frage in der Türkei möglich werden. Die Annäherung an Rojava hätte eine andere sein können, wenn Erdoğan die Dolmabahçe-Verhandlungen nicht abgebrochen hätte. Wenn die Türkei also mit den Kurd_innen in ihrem Land einen Frieden schließt, so würde das auch die Rojava-Realität der Türkei verändern. Umgekehrt würde die Anerkennung Rojavas durch die Türkei einen möglichen Friedensprozess für die Region deutlich vereinfachen. Hier könnte das System Rojava auch eine Inspiration sein, um das herrschende auf Homogenität beruhende Modell durch die Anerkennung der Grundrechte der ethnischen und religiösen Minderheiten zu ersetzen. Zusammenfassend können wir sagen, dass die Türkei einen Fehler nach dem anderen beging, indem sie sich selbst zum Vorbild erklärte und den Mittleren Osten dementsprechend umzugestalten versuchte. Am Ende des Tages hat sie auch innerhalb ihrer eigenen Grenzen Fehler begangen. Der Diktator, der türkische Städte bombardieren ließ und die Opposition zum Schweigen brachte, hat stürmischen Zeiten den Weg bereitet.