nur online | Rede auf der 13. EUTCC-Konferenz im Europaparlament

... damit der Weg zu Frieden und Demokratie sich vom bloßen Traum in Wirklichkeit verwandelt

Hatip Dicle, Kovorsitzender des Kongresses für eine Demokratische Gesellschaft (DTK)

Sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer,

ich grüße Sie alle im Namen des Kongresses für eine Demokratische Gesellschaft (DTK).

Zunächst möchte ich mit einer kurzen Vorstellung und Erläuterung unseres Kongresses und seiner Funktionen beginnen.
Der DTK ist eine zivilgesellschaftliche Organisation, die aus Parteien, Gewerkschaften, Stiftungen, Vereinen und gewählten Vertreter*innen der Bevölkerung des türkischen Teils Kurdistans gebildet wurde. In unserem Kongress sind neben Kurd*innen auch Repräsentant*innen unterschiedlicher in Kurdistan lebender ethnischer und religiöser Gruppen vertreten. Unser Ziel ist es, die Demokratie in Kurdistan zu entwickeln, zu institutionalisieren und zu einer friedlichen, demokratischen Lösung der kurdischen Frage beizutragen. Von den 501 Delegierten wurden über 60 Prozent von der Bevölkerung direkt gewählt. 40 Prozent sind Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Organisationen bzw. unabhängige Persönlichkeiten. Ähnlich wie ein Parlament arbeitet der Kongress auf der Basis von Ausschüssen. Aktuell ist der DTK jedoch mit starker Repression und Behinderungen von Seiten des Staates konfrontiert.Rede von Hatip Dicle auf der 13. EUTCC-Konferenz im Europaparlament | Foto: ANF

Verehrte Damen und Herren!
Wie Sie wissen, wurde der türkische Nationalstaat unter dem Namen Republik Türkei in Folge des vor fast genau hundert Jahren geschlossenen Sykes-Picot-Abkommens auf einem Teil des osmanischen Territoriums gegründet. Das Gründungsparadigma dieses Staates hatte zur Folge, dass die unterschiedlichen ethnischen Gruppen, darunter vor allem die Kurd*innen, unter dem Druck der Türkisierungspolitik, der Verleugnung ihrer eigenen Identität, erzwungener Assimilation sowie wiederholter Auslöschungsprozesse ausgesetzt waren. Auch die Glaubensgemeinschaften der Alevit*innen, der Êzîd*innen und der Christ*innen wurden der gleichen Vereinheitlichungs- und Auslöschungspolitik unterworfen. Das kurdische Volk hat sich in allen seinen Schichten zwischen 1924 und 1938 in verschiedenen Teilen des türkischen Kurdistan mit bewaffneten Aufständen gegen dieses Unterdrückungskonzept gewehrt. Am Ende konnten die kurdischen Aufstände dieser Periode jedoch allesamt vom Staat mit jeweils großen Zerstörungen und Massakern niedergeschlagen werden. Aber all das änderte nichts daran, dass die kurdische Frage das beherrschende politische Thema der Türkei geblieben ist.
Der bewaffnete Kampf, der 1984 unter Führung der PKK begann, ist auf die geschilderten objektiven Bedingungen zurückzuführen. Der frühere türkische Staatspräsident Süleyman Demirel hat diese aktuelle Erhebung einmal den 29. kurdischen Aufstand genannt. Dies zeigt, wie tief das Problem gründet.

Trotz dieser Realität gibt der Staat seine in der Kurd*innenfrage 93 Jahre lang verbissen verfolgte Politik der Ablehnung und Gewalt nicht auf. Es ist ihm nie gelungen, seine Mentalität zu ändern und eine demokratische Lösung zu suchen. Es gelang ihm auch nicht, sich von einer oligarchischen in eine demokratische Republik zu vrtwandeln.

Ich will eines klar betonen: Die Kurd*innen glauben daran, dass ihre Probleme innerhalb der Grenzen der Republik Türkei, im Rahmen politischer Dialoge und auf demokratischem Wege gelöst werden könnten. Sie wollen, dass ihre nationale Identität in der Verfassung anerkannt wird und dass sie die durch internationale Verträge geschützten Rechte auf die eigene Sprache und Kultur sowie politische und andere Rechte wahrnehmen können. Ebenso verlangen sie einen politischen Status, der es ihnen ermöglicht, eine ähnliche Selbstverwaltung zu praktizieren, wie sie in vielen anderen demokratischen Ländern bereits realisiert worden ist. Sie kämpfen für diese Hauptziele. In diesem Zusammenhang schlagen wir seit Jahren Folgendes vor: Die Türkei soll eine ähnliche administrative und politische Struktur wie Spanien, mit 20–25 autonomen Regionen, erhalten. Jede Region hätte ihr eigenes lokales Parlament und würde von ihrer eigenen Regierung verwaltet. Außer den Außenbeziehungen, der Landesverteidigung, den öffentlichen Finanzen und der allgemeinen Gerichtsbarkeit würden alle staatlichen Befugnisse auf die autonomen Regionen übertragen. In diesem System übertragener Regierungsaufgaben, könnten sich alle ethnischen und religiösen Gruppen frei organisieren. Kurzum, die Kurd*innen wollten immer eine Problemlösung auf demokratischem und friedlichem Wege, aber der Staat hat den für Lösungen nötigen politischen Willen nicht gezeigt.

Geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer,
ich selbst war an Gesprächen mit Regierungsdelegationen seit 1993 bis zu den letzten Gesprächen zwischen 2013 und 2015 beteiligt und gehöre damit zu den lebenden Zeug*innen für die Bemühungen der kurdischen Seite eine friedliche Lösung zu finden.

1993, während meiner ersten Beobachtungen, war ich im türkischen Parlament Abgeordneter der später vom Staat verbotenen Partei HEP für Amed (Diyarbakır). Nach Aufrufen hoher Staatsvertreter*innen, der HEP und verschiedener politischer Kreise hatte der PKK-Vorsitzende Öcalan am 17. März 1993 einen einseitigen, einmonatigen Waffenstillstand verkündet. Dieser Schritt hatte auf der kurdischen Seite und in demokratischen Kreisen große Hoffnungen und Erwartungen auf eine friedliche Lösung geweckt. Der damalige Staatspräsident Turgut Özal sandte daraufhin eine Gruppe von HEP-Abgeordneten – darunter auch mich – sowie Celal Talabanî, den Vorsitzenden der irakisch-kurdischen YNK und späteren irakischen Staatspräsidenten, mit positiven Botschaften und dem Wunsch nach einem unbegrenzten Waffenstillstand in den Libanon zu Abdullah Öcalan. Die Gespräche mit ihm liefen gut und daraufhin erklärte Öcalan in unserer Anwesenheit auf einer Pressekonferenz am 16. April 1993 den unbegrenzten Waffenstillstand. Allerdings erfuhren wir am 17. April, noch bevor wir von Damaskus aus unsere Rückreise in die Türkei angetreten hatten, dass Präsident Özal gestorben war. Der Zeitpunkt seines Todes schien verdächtig. In der Folgezeit haben seine Familie und eine Reihe politischer Kreise den Verdacht geäußert, dass Özal von einer politischen Clique innerhalb des Staatsapparates, die keine politische Lösung der kurdischen Frage wollte, ermordet wurde. Bis heute konnte die Wahrheit zu diesem Fall nicht aufgedeckt werden. Allerdings wurde die Türkei nach diesem Tod erneut in den Sog blutiger und bewaffneter Auseinandersetzungen gezogen. Wir kurdischen Abgeordneten und Delegationsmitglieder wurden danach zu langen Haftstrafen verurteilt.

Nach diesem ersten Versuch hatte der PKK-Vorsitzende Öcalan in den Jahren 1995 und 1998 erneut einseitige Waffenstillstände verkündet. Doch anders als 1993 hat der Staat diese Bemühungen ignoriert.

Nachdem Öcalan am 15. Februar 1999 in Folge eines internationalen Komplotts gefangen genommen und an die Türkei ausgeliefert worden war, hatte sich die Guerilla 5 Jahre lang nach Südkurdistan (Nordirak) zurückgezogen. Obwohl in dieser Zeit kein einziger Schuss abgegeben wurde, hat der Staat diese historische Gelegenheit nicht genutzt. In diesen 5 Jahren hätten die EU und die USA die Türkei ermutigen sollen, eine friedliche Lösung der kurdischen Frage zu finden. Stattdessen wurde die PKK leider, obwohl die Guerilla keinen einzigen Schuss abgegeben hatte, ab Anfang 2003, zuerst von den USA, dann auch von der EU, in deren »Liste der Terrororganisationen« aufgenommen. Diese Entscheidung hat die Türkei ermutigt, hinsichtlich der Kurd*innenfrage wieder zur Kriegspolitik zurückzukehren. Die Kurd*innen haben diese unglückliche Entscheidung als historisches Unrecht verstanden, das einer friedlichen und politischen Lösung des Problems in keiner Weise gedient hat. Unserer Meinung nach wäre die richtige Haltung der EU so, wie sie kürzlich ein Brüsseler Gericht eingenommen hat: Der Konflikt der Türkei mit der kurdischen Guerilla ist ein »Krieg«. Gemäß den Genfer Konventionen sollte die PKK als »Konfliktpartei« akzeptiert und deswegen auch von ihrer »Liste der Terrororganisationen« gestrichen werden. Ich glaube, dass solch eine realistische Herangehensweise sehr zu einer friedlichen und politischen Lösung beitragen würde und somit ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu Demokratie und Frieden wäre.

Geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer,
Öcalan, der inzwischen seit fast 18 Jahren auf der Gefängnisinsel Imralı gefangen gehalten und vom Staat de facto als »Hauptverhandler« akzeptiert wurde, hatte einen Vorschlag unterbreitet, dem die AKP-Regierung zustimmte. Daraufhin fanden von Anfang 2013 bis zum 5. April 2015 Gespräche statt. Als Kovorsitzender des Kongresses für eine Demokratische Gesellschaft war ich in den letzten 7 Monaten dieses Zeitraums Mitglied der Imralı-Delegation. Während dieser Zeit sind wir mit Wissen des Staates, viele Male in die Qandil-Berge nach Südkurdistan gereist um die PKK-Vorsitzenden über die Gespräche am runden Tisch auf Imralı zu informieren und ihre Meinungen dazu einzuholen. Die Gesprächsprotokolle wurden sowohl mit der staatlichen Delegation als auch mit Öcalan geteilt. Das Ergebnis all dieser Bemühungen war ein unserer Meinung nach historisches Dokument in der Form einer »Dolmabahçe-Vereinbarung« genannten Roadmap mit 10 Punkten. Das Ziel dieser Roadmap war es, die Türkei zu einem Schritt auf dem Weg hin zu einer demokratischen Republik zu bewegen. Dementsprechend sollten auf Imralı mit Vertreter*innen interessierter Gruppen mehrmonatige Verhandlungen zu jedem einzelnen Punkt stattfinden und entsprechende Vereinbarungen getroffen werden. Die notwendigen gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Schritte sollten nach einer Einigung niedergeschrieben und unterzeichnet werden. Zum Beispiel sollten Vertreter*innen der alevitischen Gemeinschaft ihre eigenen demokratischen Forderungen vortragen, diskutieren und nach einer Einigung eine entsprechende Vereinbarung unterzeichnen. Ähnliche Gespräche sollten mit Vertreter*innen der Kurd*innen, der Minderheiten, der Frauen, der Arbeiter*innen usw. stattfinden. Ein aus 7–8 Personen bestehendes Aufsichtsgremium, dessen Mitglieder von den Gruppen benannt worden wären, sollte dazu dienen, sowohl Gesprächsblockaden zu überwinden als auch die Ergebnisse zu notifizieren. Alle Diskussionen auf Imralı sollten der Öffentlichkeit durch die Medien zugänglich gemacht werden. Dadurch hätte auch die Zustimmung im Land gewährleistet werden können. Natürlich hätten alle diese schriftlichen Dokumente auch die Richtung einer neuen demokratischen Verfassung der Türkei vorgegeben. So hätte die Türkei schließlich den Schritt hin zu einer demokratischen Republik machen können.

Als Ergebnis dieser Verhandlungen hätte Öcalan die PKK dazu aufgerufen, einen Kongress einzuberufen, der die Entscheidung über das Ende des seit 1984 andauernden bewaffneten Kampfes trifft. Die PKK-Führung hatte bereits die Vorbereitungen dazu getroffen. Die Erwartungen wurden jedoch enttäuscht: Dieser Prozess endete, weil Staatspräsident Erdoğan am 5. April 2015 die Verhandlungen auf Imralı schlagartig beendete. Zusammen mit dem IS unterwarf er das kurdische Volk im gesamten Mittleren Osten seinem Kriegskonzept. Groß- und Kleinstädte in Kurdistan wurden mit Panzern und Artillerie zerstört, die HDP-Kovorsitzenden, viele kurdische Abgeordnete und gewählte Bürgermeister*innen wurden festgenommen und die von der DBP geführten Stadtverwaltungen wurden Staatskommissar*innenen übergeben. Die Türkei ist in ein Gefängnis verwandelt worden, in dem Journalist*innen, Intellektuelle und Politiker*innen verhaftet und zehntausende öffentliche Angestellte entlassen wurden und werden. All diese faschistischen Maßnahmen sind Teil eines Kriegskonzeptes.

Es ist mehr als deutlich, dass Erdoğan unter dem Konzept »Präsidialsystem« Schritte unternimmt, in der Türkei eine dunkle Diktatur zu errichten. Er will die letzten Stückchen Demokratie eliminieren und die Hoffnungen auf Frieden auslöschen. So wie Hitler verbreitet er innerhalb wie außerhalb des Landes sein Kriegsgeschrei. Ich muss es deutlich sagen: Wenn Erdoğan nicht gestoppt wird, dann wird er nicht nur in der Türkei, sondern auch im Mittleren Osten und in der gesamten Welt seine Kriegstreiberei verbreiten.

Allen vermittelnden und friedensliebenden Freund*innen, die versuchen, zu einem gerechten, dauerhaften und ehrenhaften Frieden in der kurdischen Frage beizutragen, möchte ich zum Ende meiner Ausführungen noch sagen: Ebenso wichtig, wie es ist, dass die Waffen schweigen und dass die Ideen gehört werden, während verhandelt wird, genauso wichtig ist es auch, dass die Gesundheit und Sicherheit Öcalans bewahrt wird und dass er in der kürzest möglichen Zeit seine vollständige Freiheit erhält. Diese Schritte müssen entschlossen angegangen werden, damit der Weg zu Frieden und Demokratie sich vom bloßen Traum in Wirklichkeit verwandelt.

Zum Schluss möchte ich noch feststellen, dass wir alle, die wir in der Türkei und in Kurdistan Frieden und Geschwisterlichkeit der Völker wollen und die Demokratie unterstützen, zusammenstehen, dass wir Widerstand leisten und dass wir letztlich gewinnen werden. Wir sind fester Hoffnung, wir sind energisch und entschlossen.

Mit freundlichen Grüßen

Hatip Dicle, Kovorsitzender des Kongresses für eine Demokratische Gesellschaft

8. Dezember 2016