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Internationales Pokern auf Kosten der Kurdinnen und Kurden

Songül Karabulut

Dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 folgte ein gelungener politischer Putsch der Regierung der Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP). Diesen zeichnet aus, dass er von der Regierung als demokratische Rettung des Systems verkauft wurde und all ihre folgenden antidemokratischen, diktatorischen Praktiken mit Unterstützung der Republikanischen Volkspartei (CHP) und der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) legitimiert wurden. So wurden am ersten Schultag an die Schüler_innen Materialien verteilt mit dem Titel »Triumph der Demokratie am 15. Juli und das Gedenken an die Märtyrer_innen«. Wie groß diese Lüge und Manipulation ist, beweist die Bilanz des politischen Putsches: Nachdem der militärische Putschversuch binnen circa zwölf Stunden hatte zum Scheitern gebracht werden können, wurde mithilfe der angeblichen sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP und der nationalistischen MHP am 21. Juli der Ausnahmezustand (OHAL) über die gesamte Türkei verhängt und am 3. Oktober inzwischen wie erwartet um weitere drei Monate verlängert. Das war der zweite »Dienst« des türkischen Parlaments nach seiner offiziellen Wiedereröffnung nach der Sommerpause am 1. Oktober. Zuvor war am Tag der Parlamentseröffnung das parlamentarische Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen um weitere dreizehn Monate verlängert worden. Das Parlament ist eigentlich gar nicht mehr funktionsfähig, es wurde regelrecht außer Kraft gesetzt. Der Journalist Deniz Yücel sagte Anfang Oktober auf einer Veranstaltung in Berlin, das Parlament werde momentan eher als Freiluftmuseum genutzt. Ständig würden Delegationen eingeladen, denen die Spuren der Bombardierung des Parlaments gezeigt werden.Aktion der Friedensmütter in Istanbul: Frauen wollen keinen Krieg – Frauen wollen Frieden. Foto: DIHA

Nach dem Putsch ist vor dem Putsch

Nach der Verhängung des Ausnahmezustands folgte unter dem Vorwand, gegen die Putschist_innen vorzugehen, eine landesweite Hexenjagd auf die gesamte Opposition: Seit dem 15. Juli wurden [die folgenden Zahlenangaben schwanken je nach Quelle und Tagesstand] über 80 000 Menschen im öffentlichen Dienst vorübergehend oder dauerhaft suspendiert. 4 897 Menschen verloren ihren Beamt_innenstatus. Die Zahl des aus dem Militär suspendierten Personals beläuft sich auf 3 534. Gegen 40 000 Bedienstete des öffentlichen Dienstes wurden weitere Untersuchungen eingeleitet. Gegen 5 247 Akademiker_innen aus den staatlichen und Stiftungsuniversitäten wurden Untersuchungen eingeleitet, 4 225 wurden des Dienstes enthoben, 2 341 suspendiert; gegen 1 545 Mitglieder des Verwaltungspersonals wurden Untersuchungen eingeleitet, 1 117 entlassen. 3 392 Richter_innen und Staatsanwält_innen, davon 2 Mitglieder des Verfassungsgerichts, bekamen Berufsverbot.

Insgesamt wurden per Dekret aus dem Bereich des Bildungsministeriums 28 163 Beschäftigte entlassen, aus dem des Gesundheitsministeriums 2 018, des Wirtschaftsministeriums 1 642, des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik 439, des Ministeriums für religiöse Angelegenheiten 1 519, des Ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft 733, des Ministeriums für Jugend und Sport 320, des Zoll- und Handelsministeriums 149, des Ministeriums für Kultur und Tourismus 175. Mit den Dekreten Nummer 670 und 671 wurden 10 026 Mitglieder des Sicherheitsapparates entlassen.

Mit dem Ausnahmezustand wurde die Frist der Ingewahrsamnahme auf einen Monat verlängert, d. h. die Zeit, die ein Mensch ohne Haftbefehl festgehalten werden kann. Laut Bericht des Menschenrechtsvereins der Türkei wurden weit über 50 000 Personen festgenommen, über 30 000 von ihnen wurden verhaftet, Tendenz steigend. Folter während des Verhörs wurde nicht einmal verheimlicht, Bildmaterial mit klaren Folterspuren veröffentlicht.

Es ist nur natürlich, dass für diesen politischen Coup Gefängnisplätze benötigt werden. Dafür wurden nach AKP-Manier Lösungen gefunden. Anfang September wurden über 35 000 verurteilte Straftäter_innen vorzeitig aus der Haft entlassen, um Platz für die neuen, wohlgemerkt politischen, Gefangenen zu schaffen. Es ist nicht schwer zu erraten, dass unter den Entlassenen kein einziger politischer Häftling war, sondern ausschließlich Kriminelle. Erst vor kurzem gab der türkische Justizminister bekannt, dass weitere 174 neue Haftanstalten mit einer Kapazität von über 100 000 Plätzen gebaut werden sollen.

Auch eine Vielzahl von der Fethullah-Gülen-Gemeinde zugerechneten Institutionen, wie 35 Gesundheits- und 1061 Bildungseinrichtungen, 800 Studierendenwohnheime, 223 Studienzentren, 129 Stiftungen, 1125 Vereine, 15 Universitäten, 19 Gewerkschaften, wurden staatlicherseits beschlagnahmt.
Viele Journalist_innen und Akademiker_innen, die der AKP-Regierung ein Dorn im Auge sind, haben sich entweder ins Ausland abgesetzt wie der damalige Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar oder sie wurden ins Gefängnis gesteckt wie die beiden bekannten Journalistenbrüder Ahmet und Mehmet Altan oder die bekannte Schriftstellerin Aslı Erdoğan. Gegenwärtig beläuft sich die Zahl der inhaftieren Journalist_innen auf 120. Mit der Verhängung des Ausnahmezustands wurde die Gleichschaltung der Medien vollzogen. Nachdem 23 Radiosender, 45 Zeitungen, 29 Verlage wegen angeblicher Nähe zur Organisation Fethullah Gülens, kurz FETÖ, geschlossen worden waren, sind es in der zweiten Welle kurdische oder alevitisch-linke Medienorgane gewesen. Insgesamt 12 TV- und 11 Radio-Sender, darunter IMC und Hayat, wurden eingestellt, auch der kurdischsprachige Kinderprogrammsender Zarok TV (übersetzt Kinder TV). Diese Gleichschaltung wurde inzwischen auch auf das Ausland ausgeweitet. Der türkischsprachige prokurdische Nachrichtensender MedNûçe TV wurde auf Verlangen der Türkei vom französischen Satellitenunternehmen Eutelsat am 3. Oktober und Newroz TV am 12. Oktober ohne vorherige Mahnung ausgeschaltet.

Der Kampf der Türkei gegen Oppositionelle ist sehr vielschichtig. So setzt sie beispielsweise auch in den sozialen Medien ihren unerbittlichen Feldzug gegen Oppositionelle fort. Viele Nutzer_innen der sozialen Medien in der Türkei beklagen, dass ihr Konto gesperrt worden sei. Das ist kein Wunder. Laut Angaben von Twitter kamen in der ersten Hälfte 2016 die weltweit meisten behördlichen Anträge auf Löschung von Inhalten aus der Türkei. Das Posten von Bildern reicht aus, um gesperrt zu werden. Auch hier ist der Fleiß westlicher Anbieter wie Facebook und Twitter bemerkenswert.

Wie vorausgesagt verlagert und konzentriert sich dieser Staatsterror immer mehr auf Kurdistan. Ein Besatzungskrieg wird geführt, der sich nicht nur auf Nordkurdistan (Bakur) beschränkt. Die Türkei hat diesen Krieg nämlich längst auch über die Grenze nach Südkurdistan (Başûr) und mit der Besetzung von Cerablus (Dscharabulus) auf die demokratische Föderation Nordsyrien/Rojava ausgeweitet.

Die Operationen des politischen Genozids in Kurdistan halten mit voller Geschwindigkeit an. Nachdem die parlamentarische Immunität von 54 der insgesamt 56 Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP) aufgehoben wurde und sie nun Schritt für Schritt von der Staatsanwaltschaft zur Aussage vorgeladen werden, hat der türkische Staat auch begonnen, Parteifunktionär_innen der HDP und der Partei der Demokratischen Regionen (DBP) festzunehmen und zu verhaften. So wurde z. B. am 9. September der HDP-Kovizevorsitzende Alp Altınörs festgenommen und verhaftet. Vor allem im Oktober hat die Zahl der Festnahmen kurdischer Politiker_innen sichtlich zugenommen. Mit dem Dekret 674 der Notverordnung wurden insgesamt 28 Stadtverwaltungen (davon 24 kurdische) unter Zwangsverwaltung gestellt und die Bürgermeister_innen suspendiert. Die Rathäuser werden mit Panzern umstellt und im 21. Jahrhundert wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit ohne Hemmungen eine koloniale Besatzung praktiziert.

Der gescheiterte Putsch ist Folge einer gescheiterten Republik

Der gescheiterte Militärputsch vom 15. Juli sollte als das Scheitern der seit 93 Jahren bestehenden kurdenfeindlichen Republik betrachtet werden. Das wiederum führte dazu, dass sich die Türkei in eine zweite Lausanne-Phase begeben hat. Das heißt, die Türkei durchlebt eine ähnliche Phase wie vor und während der Lausanne-Verhandlungen 1922/23. Die AKP, die den Militärputsch vorerst abwehren konnte, zwingt sich jetzt dem kapitalistischen System auf, mit dem Ziel, eine neue AKP-Republik gründen zu können. Das ist der Grund dafür, dass sie im Inland den Staatsterror gegen die Bevölkerung maximiert hat und außenpolitisch mit dem System in Verhandlungen tritt.

Es ist kein Zufall, dass Staatspräsident Erdoğan während seiner Sitzung mit den Dorfvorsteher_innen des Landes den Vertrag von Lausanne erneut thematisiert und als Verrat hingestellt hat. So wie damals, als England und Frankreich mit Atatürk Verhandlungen aufnahmen, nachdem der griechische Angriff hatte abgewendet werden können, so denkt Erdoğan heute, dass USA und EU mit ihm verhandeln müssten, nachdem der Militärputsch zum Scheitern gebracht werden konnte. Den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) sowie die Flüchtlingsfrage bewertet die AKP als geeignete Vorbedingungen für ihr Verhandlungsvorhaben. Dass sich die AKP-Regierung vor diesem Hintergrund in einer aktualisierten Version der Lausanne-Verhandlungen befindet, ist nicht von der Hand zu weisen. Ihr außenpolitischer Kurswechsel der letzten Monate gegenüber Russland, Israel, Iran, USA und EU ist ebenfalls in diesem Zusammenhang zu sehen. Die Türkei ist in einer schwachen Position und hat ihre kurdenfeindliche Politik zu ihrer roten Linie erklärt. Sie wird in den Verhandlungen folglich etwas anbieten müssen.

Während Erdoğan Inönü vorwirft seinerzeit die Türkei verkauft zu haben, versucht er auf diese Weise seine eigenen Zugeständnisse zu verdecken. Wichtig hierbei ist, was die AKP-Regierung im Gegenzug für die Akzeptanz ihrer Macht und ihrer antikurdischen Politik anbieten wird. Beim ersten Lausanne hatte Inönü als Gegenleistung für die Billigung der kemalistischen Macht und der antikurdischen Politik der Türkei Mûsil (Mosul) freigegeben. Was wird heute das Erdoğan-Regime neben Mûsil wohl herzugeben bereit sein?

Eine Anmerkung an dieser Stelle: Parallel zu dem von Erdoğan eröffneten Lausanne-Diskurs erregt die Behauptung eines Obersten namens Hasan Atilla Uğur, britisches Geld solle kurdische Stämme (Clans) zu einem Aufstand gegen die Türkei verleiten, große Aufmerksamkeit. Daraufhin haben sich Vertreter_innen von über 50 Stämmen mit einer Pressekonferenz gegen diese Behauptung gewehrt und ihre Loyalität zum Staat bekundet. Hier werden historische Ängste wiedererweckt. Nach dem Vertrag von Lausanne 1923 kam es zum Aufstand kurdischer Stämme gegen ihre Entrechtung, obwohl den Kurd_innen zuvor weitgehende Rechte zugesprochen worden waren. Später wurde dieser Aufstand in Verbindung mit England gebracht. Die Engländer_innen hätten die kurdischen Clans ermutigt, sich gegen die türkische Republik aufzulehnen, um darüber Mûsil von der Türkei zu bekommen. Diese hat später, wie wir wissen, ihren Anspruch auf Mûsil an England abgetreten.

Aus dem Westen nichts Neues

Die Haltung des Westens, vor allem der Bundesregierung, bekommt vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen eine Bedeutung. Trotz erheblicher Kritik aus der Öffentlichkeit setzt die Bundeskanzlerin eine Pro-Erdoğan-Politik fort, sei es in Form des schmutzigen Flüchtlingsdeals, der EU-Beitrittsverhandlungen oder über unzählige weitere Abkommen. Die EU-Kommission hat erneut 600 Mio. Euro für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt, somit beläuft sich die Summe der bisherigen Leistungen auf mehr als zwei Milliarden.

Auch das Schweigen zur neuen Kolonialpolitik der AKP in Kurdistan sowie die Beihilfe durch die Festnahmen kurdischer Politiker_innen in Deutschland oder die Abschaltung kurdischer Fernsehkanäle durch das französische Satellitenunternehmen sind ein Teil dieser Verhandlungsphase. Es ist allseits bekannt, dass die Türkei nur mit Zustimmung aus dem Westen (konkret der USA) in Cerablus einfallen konnte. Jetzt wird darüber verhandelt, ob und, wenn ja, in welcher Form die Türkei bei der »Befreiungsoffensive« in Mûsil eine Rolle spielen wird.

Der eigentliche Grund für die Beendigung des Friedensprozesses

Es ist noch ganz frisch in Erinnerung, als die AKP-Regierung im Juli 2015 den Angriff in Pîrsûs (Suruç) zum Anlass nahm, um den »Antiterrorkampf« gegen den Islamischen Staat zu beginnen. Angeblich hatte sie endlich eingesehen, dass der Kampf gegen den IS unausweichlich sei. Aber es dauerte nicht lange, bis sich diese Bereitschaft als ein totaler Krieg gegen die Kurd_innen entpuppte. Im Türkischen gibt es eine Redewendung: »Wer ein Minarett klaut, sorgt dafür, dass der Überzug passt.« Das trifft absolut auf die Türkei zu. Als die AKP-Regierung den zweieinhalbjährigen Friedensprozess beendete und erneut einen brutalen Krieg vom Zaun brach, wurde der passende Grund auch schnell gefunden. Der Tod zweier Polizist_innen im nordkurdischen Serê Kaniyê (Ceylanpınar) am 22. Juli sollte den Anlass liefern. Der Westen, der bei staatlichen Erklärungen schnell überzeugungswillig erscheint, war auch sofort am Werk und machte die PKK für das Ende des Friedensprozesses verantwortlich. Bis heute haben diese Morde nicht aufgedeckt werden können. Aber nach dem Putschversuch passierte etwas anderes: Der Richter, der Staatsanwalt und der angebliche Informant in diesem Falle wurden wegen Verdachts der Mitgliedschaft in der Gülen-Gemeinde festgenommen.

Der dreifache Mord an Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez am 9. Januar 2013 in Paris, kurz nachdem bekannt wurde, dass die Gespräche mit Abdullah Öcalan erneut aufgenommen worden waren, ist ja bislang auch nicht gelöst. Der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder Ömer Güney wird Anfang nächsten Jahres beginnen. Dass der türkische Geheimdienst in die Pariser Morde verstrickt ist, wissen auch die französischen Gerichte. Wir leben in einer Zeit, in der die Staaten versuchen, ihre Interessen durch Instabilität und Kriege wahrzunehmen. Daher setzen alle auf die Verschärfung der Krise, des Chaos und der Kriege in der Region. Die kurze Botschaft Abdullah Öcalans, die nach dem Besuch seines Bruders auf Imralı an die Öffentlichkeit drang, zeigt eine Alternative zu dieser Mentalität der Macht. Öcalan unterstrich, dass die AKP den Friedensprozess einseitig beendet habe, und erklärte, die kurdische Frage könne binnen sechs Monaten gelöst werden, sobald die Türkei den Willen dazu beweise. Es reiche aus, wenn die Türkei zwei mit weitreichenden Befugnissen ausgestatte Vertreter_innen zu ihm sende. Diese kurze Botschaft genügt, um zu verstehen, warum er seit April 2015 einer Totalisolation ausgesetzt wird. Frieden ist den Machthabenden nicht dienlich, folglich sollen alle, die ein Interesse an Frieden, Stabilität und Demokratie haben, ausgeschaltet und »zum Schweigen gebracht« werden – entweder durch Totalisolation oder durch Verhaftung, Entlassung, Einschüchterung.

Genau diese Situation einer Wiederholung der Geschichte wollte und will Abdullah Öcalan verhindern. Verhindern, dass die Menschen im Mittleren Osten durch die Teile-und-herrsche-Politik des Westens immer mehr an Potential verlieren und in die Abhängigkeit und Fremdbestimmung geraten. Aber der AKP-Regierung ist ihr Machtstreben wichtiger als die Zukunft des Volkes und der Region. Ihr Einsatz am Pokertisch ist sehr hoch – »alles oder nichts«. Sie setzt alles ein, aber schon jetzt ist abzusehen, dass sie leer ausgehen wird. Alle Züge, die sie macht, um ihre Macht zu festigen, führen lediglich dazu, dass ihre Macht immer mehr ins Wanken gerät.

Weil ihr Spieleinsatz die Zukunft der Menschen ist, dürfen wir die daraus erwachsende Gefahr nicht unterschätzen und die Mitschuld und Motivation der anderen Mitspieler, wie z. B. Deutschlands, nicht übersehen.