Die Außenpolitik der Türkei und der Putsch

Von der AKP eine demokratische Entwicklung zu erwarten, wäre naiv

Resul Solgün, Journalist

Die Türkei erwachte nach dem Putschversuch vom 15. Juli als eine neue Türkei. Die USA und die EU haben ihr bzw. der AKP-Regierung nicht die erwartete Unterstützung gezeigt. Sie verlautbarten in der Putschnacht lediglich eine Erklärung, in der es ungefähr hieß: »Die Parteien konnten einander nicht besiegen.« Die AKP-Regierung verzweifelte in ihrer Einsamkeit. Ausgerechnet von Staaten, die vor dem 15. Juli noch als Gegner gegolten hatten, kam der erwartete Beistand. Russland, Iran und China verurteilten den Putschversuch und erklärten der AKP-Regierung ihre Unterstützung.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan begann eine Großkundgebung zu organisieren, nachdem er zuvor die Bevölkerung auf die Straße gerufen hatte. Sie fand am 7. August 2016 in Yenikapı [Istanbuler Stadtteil] unter dem Motto »Demokratie und Märtyrer« statt. Eingeladen waren neben der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) auch die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP), die zuvor von Erdoğan selbst als Geschwisterpartei der Demokratischen Partei der Völker (HDP) diffamiert worden war. Erdoğan klammerte sich nach dem Putschversuch an Kräfte wie Iran, Russland, Syrien, die CHP und MHP, die er jahrelang als gegnerische Kräfte angesehen hatte, und grenzte ganz bewusst die HDP aus.

Während der Kundgebung hatten alle geladenen politischen Akteure die Möglichkeit, sich zu äußern. Meiner Meinung nach waren die Worte Erdoğans am bedeutendsten: »Am Sonntag [Tag der Kundgebung] werden wir ein Komma setzen, am Mittwoch einen Punkt.«

Am folgenden Mittwoch traf er sich mit dem russischen Staatspräsidenten. Er hatte sich bei Putin, mit dem die Türkei zuvor auf Kriegsfuß gestanden hatte, in einem Brief für das abgeschossene Flugzeug entschuldigt – er hatte mit Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu regelrecht in einem Wettstreit gestanden, wer denn den Befehl zum Abschuss gegeben habe – und ist dann später zu Kreuze gekrochen.

Bei seiner Rückkehr hielt er eine Balkonrede. Auch wenn er den Eindruck vermitteln wollte, dass alle Probleme mit Russland behoben seien und alles prima laufe, dauerte es nicht lange, bis die Realität an die Öffentlichkeit kam. Putin hatte sich lediglich für die Normalisierung der Beziehungen ausgesprochen und die Erwartung Erdoğans, Russland als Alternative zur NATO an seiner Seite zu haben, erfüllte sich nicht. Erdoğan drohte erneut, mit der Türkei wenn nötig aus der NATO auszutreten.

Die europäischen Länder hatten, bevor sie den Putschversuch verurteilten, an die Regierung appelliert, im Umgang mit den Putschisten den Rahmen der Rechtsstaatlichkeit nicht zu verlassen. Amnesty International veröffentlichte Berichte über systematische Folter an Generälen, Offizieren und Soldaten.

Die Türkeireise des anstatt Außenminister John Kerry gekommenen US-Vizepräsidenten Joe Biden war regelrecht eine Überraschung. Er brachte im Vergleich zu früheren Besuchen nichts Nachteiliges zur Sprache, klopfte im Gegenteil der AKP auf die Schulter. Das war eine unerwartete Entwicklung. In dem Russland-NATO-Dilemma vermittelte die Türkei das Bild völligen Einklangs mit den USA. Diese schienen Gefallen daran zu finden.

Die Türkei verzichtete auf Anschuldigungen, die USA seien am Putsch beteiligt gewesen, verstärkte stattdessen den Druck auf sie, Fethullah Gülen auszuliefern.

Als wir eines Morgens mit der Nachricht erwachten, Panzer der türkischen Armee seien in Nordsyrien eingedrungen, waren wir sehr erstaunt. Als wir uns dann aber nach einer Weile das Ergebnis anschauten, nahm unser Staunen noch mehr zu. Die Türkei hatte etwas geschafft, was eine Koalition aus 40 Ländern mit ihren Luftangriffen nicht hatte erreichen können. Der Abschnitt zwischen Azaz und Cerablus (Dscharabulus) war innerhalb einer Woche vom Islamischen Staat (IS) befreit worden.

Die Türkei begründete ihre grenzübergreifende Operation zweifach, mit dem Kampf gegen den IS und der Anwesenheit der Volksverteidigungseinheiten (YPG) westlich des Firats (Euphrats).

Das erste Ziel, Azaz/Cerablus vom IS zu befreien und diese Region militärisch der türkischen Armee und der Freien Syrischen Armee (FSA) zu unterstellen, ist nicht wirklich erreicht, da sich der IS widerstandslos zurückgezogen hat. Es sieht eher nach einer abgesprochenen Übergabe aus als einer erzwungenen Befreiung.Demonstration in Afrîn gegen die Angriffe der Turkei | Foto: ANHA

Nachdem der Rückzug der YPG hinter den Firat von USA, YPG und QSD (Demokratische Kräfte Syriens) bestätigt worden war, stellte die Türkei ihren Einspruch zurück. Doch später kündigte Erdoğan an, falls notwendig bis nach Minbic (Manbidsch) und Al-Bab vorzudringen, und erklärte ganz offen ihre Ablehnung eines kurdischen Korridors [in Nordsyrien].

Auch wenn diese Operation den Anschein erweckt, als sei ihr Ziel der Islamische Staat, so war es eine Rückkehr der Türkei nach Syrien, nachdem sie zuvor mit dem Abschuss des russischen Flugzeugs rausgeflogen war. Und ihr eigentliches Ziel besteht darin, einem kurdischen Korridor Einhalt zu gebieten. Diese Operation war eine Intervention der Türkei gegen eine für sie nachteilige Entwicklung an der Grenze, nachdem sie parallel zum arabischen Frühling die Abkommen von Lausanne [1923], Sèvres [1920] und den Misak-ı milli (Nationalpakt) [1920] zur Diskussion gestellt hatte.

Ein weiteres wichtiges Ereignis in diesem Zusammenhang ist, dass der Ableger der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK-Irak), die PDK-Iran, die noch vor vier, fünf Monaten Iran den Krieg erklärt hatte, vor einigen Tagen die Waffen niedergelegt hat.

So, wie die mit dem arabischen Frühling betretene Phase die Grenzen bedeutungslos werden ließ und in Syrien, Irak, Iran, Libanon, Jordanien und der Türkei zur Anwesenheit von al-Qaida führte, so hat sie auch dazu beigetragen, dass sich Kurden und Schiiten in Irak, Syrien und der Türkei näher kamen.

Es wurde begonnen, die Existenz sunnitischer Staaten zu hinterfragen, die vor hundert Jahren nach der künstlichen Grenzziehung durch die Engländer und Franzosen Kopien ähnlich entstanden waren. So ist die libanesische Hizbollah zur Unterstützung des Regimes in Syrien, Iran unterstützt mit aller Kraft Syrien. Die Grenzen zwischen Irak, Libanon und Syrien büßen allmählich ihre Bedeutung ein, die künstlichen Grenzen von Skyes-Picot verwischen immer mehr und an ihrer Stelle gewinnen natürliche Linien zwischen kurdischen und schiitisch-arabischen und sunnitisch-arabischen an Kontur.

Der Krieg in Syrien, der sich mit türkischem Beitrag zu einem Miniweltkrieg gewandelt hat, steht heute für alles oder nichts. Die sinnlosen künstlichen sunnitischen Grenzen, die vor hundert Jahren gezogen wurden, zerfallen nacheinander. So, wie die Hizbollah in Syrien wirkt, so kämpfen heute Kurden aus dem Norden für Kobanê in Syrien. Skyes-Picot hat nicht nur die Kurden auf die Türkei, Syrien, Irak und Iran verteilt, sondern auch die schiitischen und die sunnitischen Araber gespalten.

Als die Legitimität des kemalistischen Regimes und anderer ihm ähnelnder Regime im Mittleren Osten, wie die Baath-Regimes, immer stärker zur Diskussion gestellt wurden, begannen auch die Debatten um Misak-ı Milli. Genau an diesem Punkt kam die Erklärung von Präsident Erdoğan, dass das Abkommen von Lausanne eine pure Niederlage sei. Wird die Anwesenheit der Türkei in Cerablus ähnlich wie in Beshiqa eine Besatzung werden? Wird die Türkei im Dreieck Cerablus, Azaz und Helep (Aleppo) Ansprüche anmelden oder eher in Mûsil (Mosul) und Kerkûk (Kirkuk)?

Es steht zu erwarten, dass sie die nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches entstandenen Grenzen in Frage zu stellen beginnen wird, um in Aleppo und Mûsil Ansprüche zu stellen.

Nach dem Putsch gab es zwei verschiedene Erklärungen der Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Zacharova während der Phase der Unterstützung für die AKP: »Die Welt hat jetzt besser verstanden, was der Putsch ist« und »Wir haben nicht die AKP, sondern das internationale Recht, d. h. die legitim gewählte Regierung unterstützt«. Trotzdem hat Russland der AKP die militärische Kontrolle über den Abschnitt Cerablus-Azaz erlaubt.

Das ist nicht schwer nachzuvollziehen. Für Russland ist das eigentliche Ziel nicht Cerablus und Azaz, sondern vielmehr die Bestandsgarantie für Assad und Syrien. Daher wollte es nach seiner einjährigen Militärintervention die PYD zur Genf-III-Konferenz einladen (trotz US-Widerstand) und mit einem Teilzugeständnis der Föderation/Autonomie an die PYD/YPG am einfachsten und kostengünstigsten aus dem Syrienkrieg herauskommen. Mit seiner Politik von Zuckerbrot und Peitsche schreckt Russland seine Feinde und zähmt die anderen.

Nach der militärischen Intervention Russlands haben die »oppositionellen« Kräfte begonnen, noch klarer ihre Grenzen zu ziehen. Die FSA wurde aufgerufen, sich entweder an die Seite al-Qaidas zu stellen oder gemeinsam mit Russland/Assad am Verhandlungstisch Platz zu nehmen. Die annähernd 700 Waffenstillstandsabkommen in der Region sind wie ein Beweis dafür.

Im Endeffekt hat Russland vielleicht über die Anwesenheit der Türkei in Syrien hinweggesehen, dafür aber im Süden Syriens die Assad-Gegner liquidiert, was auch das eigentliche Ziel war.

War das Verhalten Russlands klar ersichtlich und nachvollziehbar, war es umso schwieriger, die Haltung der Amerikaner und Deutschlands zu verstehen. Die USA und Russland hatten die Türkei dazu gedrängt, den 98 km langen Grenzabschnitt zwischen Azaz und Cerablus auf türkischer Seite zu kontrollieren und zu sichern. Die Türkei aber wollte diese Grenzsicherung nicht auf ihrer, sondern wie einen schmalen Streifen auf der syrischen Seite, was sie mit ihrer Intervention in Cerablus auch erreicht hat.

Als aber die Bedrohung der Kurden durch diese Unternehmung, die als Operation gegen den IS ausgegeben worden war, Gestalt anzunehmen begann, hingen die USA ihre eigene Flagge an YPG-Stützpunkte. Sie hatten der Türkei kein grünes Licht für Al-Bab und Minbic gegeben. Den Einheiten der türkischen Armee und FSA war es nur gestattet, 20–25 km von der Grenze entfernt zu operieren. Kurz bevor das Vorhaben der Türkei, den kurdischen Korridor zu verhindern, vor dem Scheitern stand, fiel am 3. Oktober 2016 Arima. Arima ist die letzte Wohnsiedlung vor Al-Bab und die YPG standen bereits 20 km vor Al-Bab.

Vor all diesen Entwicklungen war Barzanî nach Irak gereist und die PDK-Iran hatte ihre Waffen niedergelegt. Und es bedeutet, dass die USA noch nicht bereit sind für die Revision von Skyes-Picot. Der Grund dafür, dass bislang kein Unabhängigkeitsreferendum in Südkurdistan abgehalten worden ist, obwohl es Barzanî seit 2014 fast jeden Monat ankündigt, ist das fehlende Einverständnis der USA. Die Einheit Syriens soll wie in Irak erhalten werden. Das hat zwei Kräfte ins Leere laufen lassen: die PDK und die AKP.

Dass der Friedensprozess von heute auf morgen beendet wurde, lag daran, dass sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Kurden entwickelte. Während die AKP als Player in Irak, Syrien und der Türkei agieren und ihr Territorium erweitern wollte, standen die Kurden kurz davor, ihre von der Türkei im Vertrag von Sèvres zugesprochenen Rechte zu erhalten. Deshalb kommt eine Diskussion von Lausanne auch einer Diskussion um Sèvres gleich. Lausanne hatte auf der Verleugnung von Kurden und der Teilung nach schiitischer und sunnitischer Konfession gefußt. Sèvres hingegen war an die natürlichen nationalen und konfessionellen Grenzen angelehnt gewesen.

Genau zu dieser Zeit ereignete sich am 15. Juli der Putschversuch. Die Türkei bewegte sich aufgrund der Flut von Dschihadisten, der Diskriminierung und Ausgrenzung sowie ihrer Probleme in der Regierungsfähigkeit auf eine Spaltung zu. Die Selbstverwaltungsdeklarationen von Cizîr (Cizre), Sûr und Nisêbîn (Nusaybin) und die Zerstörung der kurdischen Städte beschleunigten diesen Prozess. Diese Spaltungsgefahr war einer der Gründe, warum die Putschisten »Frieden im Land, Frieden in der Welt« propagierten. Sie präsentierten sich im staatlichen Fernsehen TRT als Verfolger einer mit den USA, Russland, der EU und der NATO koordinierten Politik.

Sollte sich die Türkei über Azaz/Cerablus hinaus bewegen und die YPG bzw. Rojava angreifen, wird sie auf die Situation vor dem 15. Juli zurückgeworfen werden. Auch wenn es heißt, sie habe sich nach dem 15. Juli sehr verändert, so gilt das nicht für ihre Außenpolitik. Das, was sich verändert hat, ist der Umstand, dass der bis dahin vom IS kontrollierte Grenzstreifen von 98 km nun von FSA-Legionären überwacht wird.

Von einer AKP, die ihre ganze Innen- und Außenpolitik auf Diskriminierung und Erniedrigung stützt, zu erwarten, sich zu einer demokratischen Kraft zu entwickeln, wie es bis ins Jahr 2010 von der EU und den USA gefordert wurde, wäre naiv. Sie hat eine feindselige Politik gegen CHP, Ergenekon, MHP, Gülen-Gemeinde und später gegen HDP und Kurden verfolgt. Auch außenpolitisch hatte sie keine Probleme, Feinde zu finden. Ihr gelang es immer, jemanden zu finden, sei es Sarkozy, Merkel, Putin, Assad, Sisi ... Staatschefs zum Erniedrigen oder Anfeinden waren nicht schwer zu finden.

Die angeführten Punkte beweisen, weshalb die AKP nicht, wie von den USA und der EU gefordert, zu ihrer Haltung von vor 2010 und den festgelegten Bedingungen von Sykes-Picot zurückkehren wird. Die Türkei hat die Phase, sich mit den Kurden an einen Tisch zu setzen, hinter sich gelassen. Sie kann mit dieser Diskriminierungs- und Ausgrenzungspolitik mit den Demokraten und mit dem islamisierten Bildungssystem mit den Aleviten, mit der Zerstörungspolitik in den kurdischen Städten mit den Kurden und mit der Beschlagnahme der Gülen-Unternehmen mit der Gülen-Gemeinde keinen Frieden mehr schließen.

Frei nach Karl Marx – »Sie können jetzt den kapitalistischen Staat frei von all seinen Illusionen in seiner nackten Form sehen« – wird der 15.-Juli-Putschversuch sowie der »Geist von Yenikapı« nur die innenpolitischen Konflikte aufschieben. Alle Machtcliquen, die Teil der staatlichen Existenzberechtigung sind, werden in dieser Phase aktiv werden. Während die AKP die Türkei in eine Ruine verwandelt und in den Bürgerkrieg treibt, werden andere Kräfte wie Nationalisten, Ergenekon, Islamisten, Faschisten dem nicht stillschweigend zusehen.

Der 15. Juli endete nicht mit einem Putsch, sondern verschaffte der AKP einen Zeitgewinn, der eigentliche Kampf wurde lediglich verschoben. Dieser Kampf wird früher oder später geführt werden. CHP und MHP haben in dieser Phase die AKP unterstützt, damit kein Machtvakuum entsteht. Alle Machthaber wissen genau, dass ein solches Vakuum die Türkei in ein Syrien verwandeln könnte. Sollten die notwendigen Bedingungen gereift und die Unterstützung von außen gesichert sein, so wird sich die Türkei vor einem zweiten Putsch wiederfinden.

Entgegen unseren Erwartungen, nach dem 15. Juli einer ganz anderen türkischen Außenpolitik zu begegnen, stehen wir heute einer noch viel aggressiveren (Außen-)Politik gegenüber. Während die AKP die Türkei wegen Mûsil/Beshiqa und Aleppo/Cerablus in Gefahr bringt, erhält sie sowohl von der MHP als auch von der CHP volle Rückendeckung für diese aggressive Außenpolitik. Infolge dieser Unterstützung sind wir jetzt so weit, dass die Türkei Ansprüche sowohl im Falle Mûsils als auch Aleppos stellt und Irak und Syrien offen bedroht: »Wir werden uns weder aus Cerablus noch aus Beshiqa zurückziehen.« Die Äußerungen gegenüber dem irakischen Ministerpräsidenten Haider al-Abadi und das Ignorieren der US-Aufforderung sowie das Beharren darauf, in Beshiqa zu bleiben, haben die Türkei noch weiter isoliert, als sie es vor dem 15. Juli schon war.

Während sich der mit Zustimmung der USA und Russlands 20–25 km weit innerhalb Syriens entstandene Grenzsicherungsstreifen in ein Besatzungsgebiet der Türkei verwandelt hat und sie bei der Mûsil-Operation den internationalen Mächten keine Beachtung schenkt, durchkreuzt sie als »Player« die Pläne etlicher anderer Kräfte.

Die warmen Botschaften Putins an Erdoğan auf dem Weltenergiekongress und das Zurücktreten der Türkei im Hinblick auf Aleppo ist ein Anzeichen dafür, dass die Türkei in ihrer Außenpolitik zumindest keine antirussische Politik verfolgen wird. Der Einmarsch in Cerablus war nur möglich, weil Russland sein Luftverteidigungssystem deaktiviert hat. Eine russlandnahe oder zumindest nicht gegen Russland gerichtete Politik wird zwar der Türkei Freiraum verschaffen, aber das Problem ist, dass ihr Ziel ein antikurdisches ist.

Es hat den Anschein, als werde diese kurdenfeindliche Politik der Türkei in Mûsil/Beshiqa und auf der Aleppo-Cerablus-Azaz-Linie in naher Zukunft einiges abverlangen. Auch wenn die Mûsil-Operation noch nicht feststeht, so ist die Türkei schon jetzt gewissermaßen aus Irak ausgeschlossen. Und in Cerablus ist sie mit der klaren Linie konfrontiert, die YPG nicht angreifen zu dürfen.

Das Problem ist weniger die kurzfristige Positionierung der Türkei, sondern vielmehr die Strategie der USA und Russlands für den Mittleren Osten in den nächsten dreißig Jahren. Die Fakten sind noch nicht eindeutig, ob diese Gleichung über die Weiterführung von Skyes-Picot oder über neue Grenzziehungen gelöst werden wird. Die Lösung eines dreigeteilten Irak (arabisch-schiitisch, arabisch-sunnitisch und kurdisch) und eines zweigeteilten Syrien scheint immer wahrscheinlicher und der zunehmende Druck auf die Türkei, zum Friedenstisch zurückzukehren, rückt sie immer mehr an den Tisch mit der PKK. Die Dolmabahçe-Deklaration oder das Gesetz über Autonomie für lokale Verwaltung werden der Türkei aufgezwungen.

Diese Fakten deuten darauf hin, dass in naher Zukunft in Irak, Syrien und der Türkei ein System kurdischer autonomer Regionen entstehen wird, genau das, was die Türkei mit aller Kraft zu verhindern sucht: die kurdische Realität. Die militärische Anwesenheit der Türkei in Mûsil und Cerablus/Azaz ist zur Verhinderung dieser Realität gedacht.

Die Gefahr, auf die Obamas Sonderbeauftragter Brett McGurk hinwies (»Die Kurden sind kurz davor, einen historischen Moment zu verpassen«), bezieht sich darauf, dass die Kurden erneut von bestimmten Mächten (vier Mal durch die USA und ein Mal durch die UDSSR) »verkauft« werden [wie zuvor schon in der Geschichte erst unterstützt und dann fallengelassen], wenn sie keine Einheit untereinander bilden.

Die Politik im Mittleren Osten ändert sich mit jedem Augenblick, so dass es notwendig ist, sich auf die Region und die sich verändernden Grenzen zu konzentrieren. Die Kurden können diese Entwicklungen nicht nur als Zuschauer verfolgen. Sie müssen ihre Einheit herstellen, sei es mit der PDK oder ohne sie.