Über Ursachen und Auswirkungen des Putschversuchs

Ohne die Lösung der kurdischen Frage wird der Putschmechanismus immer aktuell sein

Interview mit Cemil Bayık

Cemil Bayık, Co-Vorsitzender der Gemeinschaft der Gesellschaften in Kurdistan (KCK), hat in einem langen, am 7. und 8. August in ANF und Yeni Özgür Politika erschienenen Interview wichtige Erklärungen und Einschätzungen über die Entwicklungen in der Türkei und Kurdistan gegeben. Darin geht es sowohl um die Ursachen des erfolglosen Putschversuchs als auch um dessen mögliche Auswirkungen auf die gesamte Türkei und Kurdistan. Auch die Frage der Sorge um Abdullah Öcalan sowie die Frage, wie sich die Türkei zu Rojava verhalten wird, sind Grundlagen des Interviews. Wir haben es redaktionell überarbeitet und gekürzt.

Cemil Bayık, Co-Vorsitzender der Gemeinschaft der Gesellschaften in Kurdistan (KCK) | Foto: hawarnewsWelcher Zusammenhang besteht zwischen dem AKP-internen Personalwechsel und dem Kampf der Kurden?

Alle politischen Entwicklungen seit Gründung der türkischen Republik werden bestimmt von der kurdischen Frage und dem Kampf des kurdischen Volkes. Auch in den Zeiten, in denen dessen Freiheits- und Demokratiekampf nicht sehr aktiv erscheint und der Eindruck erweckt werden kann, ihr Einfluss auf die Politik sei in den Hintergrund getreten, auch in diesen Zeiten ist die Politik der Regierungen auf die kurdische Frage ausgerichtet. Aber in den Zeiten des starken Freiheitskampfes bestimmt sie die Politik des türkischen Staates absolut. Denn dessen Hauptpolitik, dessen Hauptstrategie besteht darin, die Kurden innerhalb des Nationalstaates zu vernichten und zu verschmelzen. Alle politischen Entwicklungen der jüngsten Zeit sollten im Zusammenhang des Freiheitskampfes der Kurden gesehen werden. Denn der türkische Staat hat seine Innen- wie auch seine Außenpolitik darauf ausgerichtet, die kurdische Befreiungsbewegung zu liquidieren. Das führt zwangsläufig dazu, dass seine Innen- und Außenpolitik immer wieder mit Problemen konfrontiert ist. Die Tatsache, dass die Türkei ihre Außenpolitik ausschließlich auf ihre Kurdenfeindlichkeit ausgerichtet hat, ist Ausdruck ihrer Erfolglosigkeit.

Früher konnte sie mit Iran, Irak und Syrien auf der Grundlage der Kurdenfeindlichkeit Bündnisse schließen und pflegen. Aber auch damals war das mit Problemen verbunden. So führte ihre Beziehung z. B. mit Iran oder mit Syrien zu Problemen mit den anderen Bündnispartnern. Denn sie hatte ihre Hauptpolitik an die USA, EU und NATO angelehnt. Aber als sie ihre Beziehungen nicht entsprechend praktizieren konnte, kam es immer wieder zu Problemen. Der Mittlere Osten ist die Region, wo das Kräftegleichgewicht der Welt gebildet wird. Vor diesem Hintergrund führt kurdenfeindliche Politik hier immer zu Widersprüchen mit der Politik anderer Staaten und das wiederum zu Widersprüchen und Auseinandersetzungen innerhalb der Türkei. Die enge Beziehung zum Islamischen Staat (IS) ist der Grund, warum die Türkei als ein Land wahrgenommen wird, das mit ihm zusammenarbeitet. Diese Tatsache hat dazu geführt, dass die Außenpolitik der Türkei sehr problematisch und krisenhaft ist. Wenn diese Art der Außenpolitik nicht das gewünschte Resultat bringt, wird sie innenpolitisch hinterfragt.

Die Türkei wollte in Zusammenarbeit mit dem Islamischen Staat (IS) und anderen ihrer Verbündeten die Revolution in Rojava zerschlagen, die Freiheitsbewegung liquidieren und im Mittleren Osten ihren Einfluss und ihre Wirkung verstärken. Das traf nicht ein und führte dazu, dass auch die Innenpolitik immer weiter in die Krise rutschte. Der Wechsel in der AKP-Führung und die Revision des Kabinetts haben unmittelbar mit der Erfolglosigkeit der Außen- und der Innenpolitik zu tun, die auf die Bekämpfung der kurdischen Bewegung ausgerichtet waren. Als Folge mussten auch Änderungen in ihrer Außenpolitik und ihren Bündnissen vorgenommen werden. Das wiederum hat dazu geführt, dass sich innenpolitisch die Kräfteverhältnisse ändern.

Verbal hegte die AKP den Anspruch, Reformen durchzuführen und demokratische Schritte zu unternehmen. Aber weil sie keine Lösungspolitik für die kurdische Frage hatte, fuhr sie eine harte Politik gegen die Kurden. Diese repressive Politik ließ sich nicht nur auf die Kurden begrenzen und wirkte sich als antidemokratische Autorität auf das gesamte Land aus. Das wiederum führte zu inneren Konflikten und Widersprüchen. Um die eigene Position zu stärken, suchte sie die Nähe der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), von Ergenekon [Teil des tiefen Staates] und anderen antidemokratischen Kräften in der Türkei. Die Partei musste entsprechend diesen antidemokratischen Bündnissen neu gestaltet werden. Das hatte automatisch Auswirkungen auf die innerparteilichen Verhältnisse in der AKP.

Im letzen Jahr wurden mehrere Kräfte und Kreise ausgeschlossen, so auch Ahmet Davutoğlu, der ein Jahr zuvor Ministerpräsident geworden war. Das alles hat unmittelbar mit dem kurdischen Freiheitskampf zu tun. Wäre alles nach Plan verlaufen und Erdoğan und der Palast hätten ihre Herrschaft in Kurdistan errichtet, wäre es nicht zu dieser Trennung gekommen und Davutoğlu noch auf seinem Posten. Davutoğlu war Erdoğans Liebling, als er dessen Berater oder Außenminister war. Daher wurde er zum Ministerpräsidenten aufgewertet. Warum wurde er trotzdem aus der Politik gedrängt? Weil ihr Erfolg ausblieb. Denn Kabinett und politische Haltung Davutoğlus standen nicht im Einklang mit dem Bündnis. Und das war das Ergebnis seiner antikurdischen Politik.

Kurz nachdem Davutoğlu hatte gehen müssen, fand ein misslungener Putschversuch statt. Welche Beziehung hat diese Entwicklung zur kurdischen Frage und zum Widerstand?

Dieser Putschversuch hat unmittelbar mit der kurdischen Frage zu tun. In der Geschichte der türkischen Republik hat die ungelöste kurdische Frage immer dazu geführt, dass Kräfte mit dem Anspruch, das Problem lösen zu können, meinten, die Türkei regieren zu müssen, und den Putsch vollzogen. Die Demokratisierung in der Türkei entwickelt sich nicht und die Politik normalisiert sich nicht, solange die kurdische Frage nicht gelöst wird. Und solange die Türkei sich nicht demokratisiert, weil sie die kurdische Frage nicht löst, nimmt die Politik auch keine normale Wende. Die Politik wird nicht auf demokratischem Wege betrieben, sondern wer sich als stark erachtet, entwickelt immer bestimmte Vorwände für die Machtergreifung.

Weil die ungelöste kurdische Frage die Türkei daran hindert, Stabilität und Frieden zu entfalten, und sie ständig in Konflikte und Auseinandersetzungen verwickelt, gibt es immer welche, die im Namen des Vaterlandes und der Nation eine gewaltsame Machtübernahme anstreben. Der Vorsitzende Abdullah Öcalan hat diesen Zusammenhang als »Putschmechanismus« definiert. Er hat immer gemahnt, dass dieser Putschmechanismus, solange die kurdische Frage nicht gelöst ist, greifen könnte. Dieser Realität sollten sich alle politischen Kräfte in der Türkei bewusst werden. Das bedeutet zugleich, dass diejenigen Regierungen, die in der Kurdenpolitik des Staates erfolglos sind, jederzeit innerhalb des Staates von anderen Kräften weggeputscht werden. Denn die Unterdrückung und Liquidierung der Kurden ist die Hauptpolitik, die Hauptstrategie des türkischen Staates. Wer sich als eigentliche den Staat vertretende Kraft sieht (Armee, Polizei oder andere), wird gegen diejenigen, die mit dieser Politik keinen Erfolg haben, einen Putsch versuchen. Bis heute war das in der Türkei die Armee. Jetzt wird die Polizei gestärkt, und sie kann morgen einen Putschversuch unternehmen. Solange die Hauptparadigmen des Staates sich nicht ändern, die Türkei sich nicht demokratisiert, wird die ausbleibende Lösung der kurdischen Frage Instabilität und Krise produzieren. Andere werden unter dem Vorwand, Krise und Instabilität zu bekämpfen, Anspruch auf die Machtübernahme anmelden. Es ist ein Teufelskreis. Der jüngste Putschversuch verlief ebenfalls nach diesem Muster.

Es herrschte Unmut wegen der Außenpolitik. Es kam zu Problemen in den internationalen Beziehungen und in der Regionalpolitik. Die Streitigkeiten und Probleme mit unterschiedlichen Staaten nach außen hatten zu innenpolitischen Problemen geführt. Dieser Unmut war in allen gesellschaftlichen und politischen Kreisen zu spüren. Ergänzt wurde dies durch die starke Polarisierung und Auseinandersetzungen im Inland. Eine gesellschaftliche Realität, ständig in Streit und Konflikt. Bürgerkriegsähnliche Verhältnisse bestimmten den Alltag in der Türkei. Auch wenn dieser Kampf nicht auf allen Ebenen mit Waffengewalt geführt wurde, so doch sehr stark psychologisch, politisch und gesellschaftlich. Das führte dazu, dass ein bestimmter Kreis innerhalb der Armee die Existenz dieser Konflikte als gesellschaftliche Legitimierung für einen Putschversuch benutzte. In ihrer Deklaration sprachen sie sich für die Verbesserung der Beziehungen mit der Außenwelt und die Lösung der inneren Probleme aus. Sie hätten geputscht, um Stabilität und Frieden zu bringen.

In dieser Deklaration wurde auf alle von der Gesellschaft thematisierten Fragen eingegangen, mit dem Ziel, die gesellschaftliche Unterstützung zu erreichen und die Macht zu ergreifen.
Wenn all diese Probleme Resultat der ungelösten kurdischen Frage sind, so ist der Putschversuch ebenfalls ein Ergebnis der ungelösten kurdischen Frage im Allgemeinen und aber auch das Ergebnis des erfolglosen Krieges des türkischen Staates in Kurdistan.

Weil die Staatsdoktrin noch immer unverändert ist, ist die Regel, um an die Macht zu kommen, noch immer Kurdenfeindlichkeit. Wer an die Macht will, muss äußerste Kurden- und Apo-Feindseligkeit zeigen. Sowohl Machtergreifung als auch Machtverlust hängen sehr eng mit der kurdischen Frage zusammen. Der jüngste Putschversuch mag erfolglos geblieben sein, aber solange die kurdische Frage nicht gelöst ist, wird sie den Weg für neue Putsche ebnen. Doch wer die kurdische Frage löst, wird auch diese Grundlage für den Putschmechanismus beseitigen.

Der Putschversuch ist gescheitert und die AKP-Regierung geht mit neuen Einheiten ihren Weg. Wird es der AKP gelingen, ihre Macht und ihre Politik, kurzum ihre Hegemonie zu festigen und ihr Ziel zu erreichen?

Dieses jüngste Putschvorhaben stellt einen Wendepunkt in der Geschichte der Türkei dar. Es scheint so, als werde sich vieles ändern. Es werden neue Kräfteverhältnisse entstehen. Wir werden über die Türkei sprechen als »vor dem Putsch« und »nach dem Putsch«.

Auch wenn die AKP-Regierung versucht, den gesellschaftlichen Gegenwind zum Putsch hinter sich zu sammeln, die gesamte Opposition zum Schweigen zu bringen, alle dazu zwingen will, sich neben sie zu stellen, um den Eindruck zu erwecken, alle Entwicklungen bestimmen zu können, so ist offensichtlich, dass auch in Zukunft die Politik in der Türkei äußerst angespannt und konfliktreich verlaufen wird. Denn es bestehen politische und historische Realitäten, die Konflikte produzieren. Dies nicht zu sehen und sich nur mit den Ergebnissen zu befassen, wird zu keinem Erfolg führen.

Die AKP-Regierung bezweckt gemeinsam mit ihren faschistischen Bündnispartnern, die Kurden und die demokratischen Kräfte zu zerschlagen, um eine neue Türkei zu errichten, die ihrer Vorstellung von kurdischer Verleugnung und Genozid entspricht. Ist das überhaupt möglich? Die Entwicklungen außerhalb wie innerhalb werden nicht zulassen, dass eine solche Türkei entsteht.

Die Türkei wird sich zwangsläufig verändern, es ist nicht möglich, dass sie wie früher weiterexistiert. Wer also wird diese nötige Veränderung vorantreiben? Wird sie radikal vollzogen werden oder begrenzt, werden die Verhältnisse nur restauriert werden? Werden die Probleme vollständig gelöst werden oder nur teilweise, so dass einige Probleme weiterhin bestehen? Werden sie grundlegend gelöst werden, so dass sich die Türkei wirklich in ein freies und demokratisches Land verwandelt, in dem Stabilität und Frieden gewährleistet sind, das auch seine Rolle bei der Entwicklung von Frieden, Stabilität und Demokratie für die gesamte Region übernehmen wird? All das werden wir in Zukunft sehen. Vor diesem Hintergrund kann gesagt werden, dass der Kampf in der Türkei nicht beendet ist und weiter andauern wird. Genau diese Probleme wurden von den Putschisten als Vorwand genommen, um die Machtergreifung zu versuchen. Das Vorhaben ist zwar abgewehrt, aber die historischen, politischen und sozialen Ursachen für diesen Putschversuch sind nicht verschwunden.

Werden diese Realitäten berücksichtigt, wird sich die Türkei aufgrund inneren und äußeren Zwangs reorganisieren müssen. Wer welchen Kampf führt, wird in dieser Reorganisierungsphase den Ausgang bestimmen. Die AKP-Regierung könnte sich nach dem misslungenen Putsch als Demokratiebefürworterin darstellen und den Anspruch formulieren, diese neue Türkei gestalten zu wollen. Erdoğan war bis zum Putschversuch bemüht, durch die Einführung des Präsidialsystems und einen hegemonialen Machtaufbau die neue Türkei zu formen. Die Putschisten haben interveniert: »Nicht du, wir werden es machen.« Jetzt, wo sie gescheitert sind, wird es Erdoğan da gelingen, das allein durchzuführen, ohne dass sich auf dem Weg neue Hindernisse auftun? Das ist unrealistisch. Denn mit der Mentalität, dem Verständnis und der Politik Erdoğans und folglich der AKP-Regierung können in der Türkei nicht Frieden und Demokratie geschaffen und folglich keine Stabilität erreicht werden. Eine AKP-Regierung, die für die Demokratisierung keine ernsthaften Schritte unternimmt und ihre Hegemonie anstrebt, wird ruinös enden ...

Was können Sie zur Stellung der Armee, der Polizei sowie der sich bildenden »zivilen Wächter« sagen?

Die Armee hat ihr Prestige verloren. Die Armee, die seit Gründung der türkischen Republik eine große Rolle bei der Entwicklung der türkischen Gesellschaft und Politik spielt, ist verwundet. Das ging so weit, dass sogar die Generäle von der Polizei befreit wurden. Das wird sich auf ihre bisherige Rolle negativ auswirken, sie wird sie einbüßen. Früher wurde die Polizei sehr ausgenutzt, jetzt scheint es, als habe ein Teil ihr Prestige aufpoliert, aber wir dürfen ihre antigesellschaftliche Haltung nicht vergessen. Die Aufgabe der Polizei ist eine antigesellschaftliche Position. Weil sie bei allen gesellschaftlichen Problemen eingesetzt wird, steht sie ständig in der Konfrontation mit der Gesellschaft. Folglich können wir sagen, dass die Armee- und Polizeieinheiten, die von den Hegemonialkräften eingesetzt und benutzt werden, ihre schwächste Stellung innehaben.

Die AKP versucht diesen Putschversuch dafür zu nutzen, für sich eine gesellschaftliche Stärke aufzubauen. Der Grund dafür, dass sie über Wochen die Bevölkerung auf die Straßen ruft, die Plätze füllt und permanent Ansprachen hält, ist das Bestreben, eine Gesellschaft entsprechend ihrer Mentalität zu organisieren. So ist ihr ein chauvinistisch-nationalistischer Wandel in der Gesellschaft gelungen. Sie hat in der Gegenputschatmosphäre den Nationalismus und den religiösen Fanatismus vereint, um eine neue gesellschaftliche Sicht zu organisieren, die kurdenfeindlich und zugleich auch anderen ethnischen und religiösen Identitäten feindlich gesonnen ist. Früher war die MHP um den Aufbau einer solchen Kraft bemüht gewesen, ohne großen Erfolg. Die AKP versucht jetzt unter ihrer Demokratiemaske, Nationalismus, religiösen Fanatismus und Konfessionalismus vereinend, eine neue gesellschaftliche Struktur zu schaffen. Das stellt eine große Gefahr für die Völker der Türkei dar. Denn sollte es ihr gelingen, würden alle verschiedenen ethnischen und religiösen Identitäten ständig durch diese gesellschaftliche Sicht bedroht werden. Denn diese neue Sicht ist monistischer, sunnitischer und chauvinistischer türkischer Nationalismus. Folglich sind alle, die keine Türken und Sunniten sind, Angriffsziele dieser Gruppe.

Wir müssen den Charakter dieser religiös-fanatischen und nationalistischen »zivilen Wächter« sehen, die Erdoğan mit seiner feindseligen Sprache und Haltung entwickelt hat. Welche Gefahr sie für die Gesellschaft darstellen, dessen sollte sich jeder bewusst werden. Noch wird es nicht ausreichend gesehen. Vielmehr werden sie als einem Militärputsch abgeneigte Massen wahrgenommen. Zu Beginn waren sie tatsächlich gegen den Putsch auf der Straße. Sicherlich waren unter ihnen Gruppen, die vom MIT oder anderen Spezialkriegskräften organsiert und mobilisiert worden waren. Ein anderer Teil war sowieso Unterstützer der AKP. Aber ein weiterer Teil wiederum war auf der Straße, um seine Haltung gegen den Putsch kundzutun.

Die Gegenputschkultur war von den Revolutionären, Sozialisten und der kurdischen Freiheitsbewegung entwickelt worden. Sie waren die in der Vergangenheit am meisten von Putsch Betroffenen gewesen. Diese Kultur wurde von der AKP genutzt. Die anfänglich gegen den Putsch auf die Straße gegangenen Massen haben mit der Zeit einen Wandel vollzogen. Eine Menschenmenge, die durch nationalistischen und religiösen Fanatismus motiviert ist. Sie entwickelt sich zunehmend zu einer gefährlichen politisierten Masse gegen die Kurden und die demokratischen Kräfte, gegen unterschiedliche ethnische und religiöse Gruppen.

Alle faschistischen Kräfte schaffen solche Gesellschaften. Auch Erdoğan ist in seinem Sprachgebrauch und seiner Haltung eine Führungskraft mit faschistischem Charakter. Er hat jetzt entsprechend seiner Mentalität eine Masse geschaffen, die er dementsprechend mobilisieren kann.

Der Ausnahmezustand wurde von der türkischen Bevölkerung stillschweigend hingenommen. Wie wird die AKP das nutzen, um den Staat neu zu gestalten?

Es ist in gewisser Weise verständlich, dass sie den Ausnahmezustand (OHAL) ohne Gegenreaktion hingenommen haben. Erdoğan hat den OHAL eingeführt, als sei er eine Gegenmaßnahme, um die Putschisten zu bekämpfen. Diejenigen, die kein Geschichtsbewusstsein darüber haben, was mit dem OHAL in der Vergangenheit angerichtet wurde und was in Zukunft angerichtet werden könnte, haben es stillschweigend hingenommen. OHAL bedeutet Antidemokratie und Antigesellschaft. Er bedeutet den Eingriff in alle Lebensbereiche der Gesellschaft. Es ist eine Maßnahme, mit welcher der Staat die Gesellschaft und das Individuum negiert und ein politisches Regime führt, das die Gesellschaft neutralisiert. Folglich haben wir es mit dem Schweigen einer Gesellschaft zur Beschränkung ihrer eigenen Freiheiten, ihrer demokratischen Lebensformen zu tun. Erdoğan betreibt Demagogie, indem er den OHAL in der Türkei mit dem Ausnahmezustand in Frankreich und anderen Ländern vergleicht, als wäre die Türkei ein demokratisches Land.

Der OHAL wird nicht von langer Dauer sein. Sie werden darauf achten, nicht die Reaktionen der Bevölkerung zu provozieren. Wenn sie im Westen des Landes den OHAL, das Unterdrückungssystem und die Repression ähnlich wie in Kurdistan anwenden würden, würde das zu Reaktionen in der Bevölkerung führen, die sich dann mit dem Demokratiekampf des kurdischen Volkes vereinen und gegen das Regime wenden könnte.

Manche emotionalen Reaktionen aufseiten der Kurden, wie z. B. »Wir leben seit Jahren unter dem OHAL, jetzt sollen sie mal sehen, wie das ist, um uns zu verstehen!«, ist eine falsche und emotionale Annäherungsweise. Das würde sowohl den OHAL in Kurdistan legitimieren als auch den Kampf dagegen schwächen.

Der Staat wird versuchen, diesen landesweiten OHAL zu benutzen, um den Freiheitskampf in Kurdistan zu hemmen, indem das Volk noch mehr eingeschüchtert werden soll. Die Angriffe seit dem 24. Juli letzten Jahres haben das Ziel, die Kurden einzuschüchtern, zu unterdrücken, um ihr Genozidsystem in Kurdistan zu vervollständigen. Vor diesem Hintergrund sind die Angriffe vom 24. Juli 2015 genozidale Angriffe. Der landesweite OHAL bedeutet, dass die Angriffe vom 24. Juli noch forciert werden. Die Dosis der Angriffe in Kurdistan wird erhöht werden.

Mit dem jetzigen landesweiten OHAL werden alle wenn auch formaljuristischen Regeln und Normen in Kurdistan beiseitegeschoben. Sie werden ein System errichten, in dem jegliche Repression und Unterdrückungsmaßnahme zur Normalität erklärt wird. Ein totales Willkürregime wird herrschen. Folglich sollte jeder, der sich Demokrat nennt, jeder Kurde gegen den OHAL ankämpfen und also auch gegen die AKP, die diesen OHAL eingeführt hat.

Können Sie etwas über den gegenwärtigen Zustand des türkischen Staates, den Verlauf seiner internen Auseinandersetzungen, die Positionierung der militärischen und politischen Kraft der Kurden sowie über die Kriegs- und Friedensstrategie sagen?

Der türkische Staat ist infolge der auf Kurdenfeindlichkeit aufgebauten Innen- und Außenpolitik der AKP-Regierung in eine Sackgasse geraten. Sie zwingt diese Animosität jedem auf. Sie ist darum bemüht, alle politischen Kräfte und Gemeinschaften im In- wie auch im Ausland an ihrem Kurdengenozid zu beteiligen. Das wiederum führt zu falscher Innen- und Außenpolitik, mit deren schwierigen Resultaten die Völker der Türkei konfrontiert werden. Die Entwicklungen allein des letzten Jahres reichen aus, um zu verdeutlichen, in was für eine Lage die AKP-Regierung die Türkei manövriert hat. Die Resultate einer Politik, mit der, anstatt die kurdische Frage auf demokratisch-politischem Wege zu lösen, der kurdische Befreiungskampf mit Gewalt bekämpft werden soll, sind offensichtlich. Die Untaten des türkischen Staates, seine Angriffe auf die Kurden, die demokratischen Kräfte, die Intellektuellen und Journalisten sind nicht zu verheimlichen.

Es gab einen erfolglosen Putschversuch. Anstatt ihn zum Anlass zu nehmen, mit ernsthaften Demokratisierungsschritten Putschen endgültig den Boden zu entziehen, wurde er benutzt, um jede Art von Opposition gegen sich selbst zum Schweigen zu bringen. Alle, die sich der eigenen Politik widersetzen, werden zu Verrätern und Feinden erklärt, die sich der eigenen Politik widersetzen. Die Gesundheit der Türkei ist auf allen Ebenen angeschlagen. Sie erinnert an den »kranken Mann am Bosporus« vom 19. Jahrhundert. Das ist nicht wie behauptet durch Angriffe von außen passiert, sondern allein die Hegemonialbestrebungen der monistischen AKP, die alle zum Schweigen zu bringen versucht, um die eigene Macht zu festigen, haben das Land in diesen Zustand versetzt.

Nach dem misslungenen Putsch versucht Erdoğan die Haltung gegen ihn zur Notwendigkeit für die Demokratie zu erklären, und alle, die sich nicht öffentlich gegen den Putsch positionieren, und diejenigen, die nicht an seiner Seite stehen, als dessen Befürworter abzustempeln. Auf diese Weise versucht er alle Oppositionellen auf seine Seite zu ziehen. Die AKP versucht sogar die Republikanische Volkspartei (CHP) für die eigenen Interessen einzuspannen. Die MHP hat sie so weit. Kann dieser Zustand lange anhalten? Nein, kann er nicht. Die vor dem Putschversuch herrschenden bürgerkriegsähnlichen Zustände in Politik und Gesellschaft werden erneut auf die Tagesordnung kommen. Es sieht nicht danach aus, als sei die AKP, die vorher die Türkei polarisiert und gespalten hat, durch den Putsch zur Besinnung gekommen. Ihre Reaktionen auf den Putsch verdeutlichen, dass diese Besinnung nicht eingetreten ist. Daher ist mit weiteren gesellschaftlichen und politischen Konflikten zu rechnen.

Vor allem, dass Erdoğan die Bevölkerung aufgerufen hat, auf die Straße zu gehen, um sie nach seiner eigenen Mentalität zu formen, ist Anzeichen dafür, dass die Polarisierung und der Bürgerkriegszustand aus der Zeit vor dem Putsch noch weiter zugespitzt werden sollen. Sie werden extreme Formen annehmen. Diese Realität sollten sowohl die Demokratische Partei der Völker (HDP) als auch alle anderen demokratischen und linken, sozialistischen Kräfte sehen. Sogar die CHP ist aufgefordert, diese Gefahr zu erkennen. Auch wenn die gegenwärtige Atmosphäre den Anschein einer entschärften Bürgerkriegssituation erweckt, so entspricht das nicht der Realität. Die Politik der AKP hat nicht die Qualität, die Polarisierung in der Türkei aufzuheben, damit alle unterschiedlichen Gemeinschaften frei und demokratisch leben können. Vielmehr sehen wir, dass die AKP-Regierung die politische und gesellschaftliche Atmosphäre nach dem Putsch dazu nutzt, ihr autoritäres, hegemoniales System zu errichten.

Alle werden als Fethullah-Mitglieder hingestellt und folglich als Putschbefürworter abgestempelt, um alle Institutionen auf den Kopf stellen und die eigenen Kader und Gefolgsleute in diese Institutionen platzieren zu können mit dem Ziel, Staat und Gesellschaft unter Kontrolle zu bringen. Auch wenn die AKP an bestimmten Punkten Bündnisse mit CHP oder MHP eingeht, zu dem einen Thema mit der MHP, zu dem anderen mit der CHP, so ist dennoch erkennbar, dass keine Schritte in Richtung Demokratisierung der Türkei unternommen werden. Sie wird vielmehr oberflächliche, unfruchtbare Gesetze verabschieden, um – die Opposition an sich bindend – ihr monistisch-hegemoniales System noch weiter zu institutionalisieren.

Es steht zu erwarten, dass sich die AKP der CHP und MHP punktuell zurückhaltend annähert, um ihre durch den Putschversuch erfahrene Erschütterung zu überwinden. Eine Konfrontation könnte ihr schaden. Sie wird ihren Ton und ihre Haltung ihnen gegenüber mäßigen, um die Opposition ruhig zu halten, und sich im Gegenzug auf allen Ebenen regenerieren. Vor diesem Hintergrund sollte sich niemand täuschen lassen, weder die CHP noch deren Basis. Sobald sich die AKP gefangen hat, wird sie sich auch gegen die CHP richten, um sie einzuschränken. Die AKP versucht seit Längerem, um ihre Macht zu festigen, die MHP immer mehr zu vereinnahmen. Mit ihren nationalistisch-chauvinistischen Praktiken und ihrer kurdenfeindlichen Politik versucht sie die MHP überflüssig zu machen.

Die Situation der Kurden ist etwas anders. Die AKP-Regierung wird den Krieg gegen die Kurden fortsetzen. Denn sie hat keine Lösung für die kurdische Frage. Trotz all der Mühen unseres Vorsitzenden und unserer Bewegung ist es uns nicht gelungen, die AKP zu einer Lösung zu bewegen. Einige oberflächliche und auf Hinhalten ausgerichtete Maßnahmen dienten dem Zeitgewinn und einer Stabilisierung der eigenen Position. Als Übereinkünfte wie die von Dolmabahçe die AKP, die Regierung und den Staat zu konkreten Schritten zwangen, wurden der Prozess und die Ergebnisse einseitig abgelehnt. Das bedeutet, dass die AKP-Regierung weder mental noch politisch eine Annäherung an eine Lösung zeigt. Von einer AKP, die sogar vor der Zeit des Bündnisses mit der MHP und den »Ulusalçi«-Nationalisten auftretende Lösungschancen für die kurdische Frage nicht genutzt hat, kann jetzt, wo sie in einem Bündnis mit der MHP, den Ergenekon- und chauvinistischen Kräften steht, in dieser Richtung nichts erwartet werden.

Solange die AKP-Regierung nicht klar und deutlich erklärt, dass sie die kurdische Frage lösen will, und ohne dass sie entsprechende Schritte unternimmt, wird die kurdische Befreiungsbewegung taktischen Annäherungen der AKP kein grünes Licht geben. Die Bewegung wird weder sich selbst noch die Bevölkerung betrügen. Selbstverständlich wird jeder demokratisch-politische Lösungsansatz von uns beantwortet werden. Wir haben sogar nach dem Putschversuch diskutiert, ob wir nicht an die AKP appellieren sollten, die kurdische Frage auf demokratisch-politischem Wege zu lösen, diese Polarisierung und Spannungserzeugung zu beenden, Schritte zur Demokratisierung der Türkei zu unternehmen, damit wir im Gegenzug ebenfalls unserer Verantwortung für Demokratisierung, Normalisierung, Frieden und Stabilität nachkommen könnten.

Aber weil sie den OHAL verhängt hat und gegen die Befreiungsbewegung eine äußerst feindselige Politik an den Tag gelegt hat, haben wir die Sinnlosigkeit eines solchen Appells erkannt. Der würde in der gegenwärtigen Situation sogar die Bestrebungen der AKP zu ihrer monistischen Hegemonialpolitik gegenüber allen demokratischen Kräften und dem kurdischen Volk stützen, daher haben wir davon Abstand genommen.

Eine Politik gegen den Putsch wäre es, statt den OHAL zu erklären, Schritte in Richtung Demokratisierung zu machen. Nur so könnte die Unterstützung aller Gesellschaftsbereiche erreicht werden und wir hätten eine politische Atmosphäre geschaffen, in der die Putschisten keinen Putsch mehr wagen würden. Weder hat die AKP eine solche Mentalität, noch lassen die aktuellen Bündnisse und politischen Annäherungen einen solchen Schritt zu. Im Gegenteil, die gegenwärtigen Bündnisse, die politische Ausrichtung und Mentalität sind von Kurdenfeindlichkeit geprägt. Sie bezweckt mit dem OHAL, das System der genozidalkolonialistischen Politik gegen die Kurden noch weiter zu vertiefen. Folglich sind wir momentan darauf bedacht, gegen die faschistische AKP-Regierung und ihre Bündnisse Widerstand zu leisten und zu verhindern, dass sie mit ihrem OHAL-System die Unterdrückung des kurdischen Volkes forciert; wir wollen das kurdische Volk gegen die Angriffe der kolonialfaschistischen Kräfte organisieren, damit es Widerstand leisten kann.

Wir sind der Auffassung, dass im Falle fehlender demokratisch-politischer Wege zur Lösung der kurdischen Frage das kurdische Volk richtig beraten ist, unter Inanspruchnahme der Selbstverwaltung das Problem aus eigener demokratisch-gesellschaftlicher Kraft zu lösen.

Ohne Widerstand ist es in der Türkei nicht möglich, die Demokratisierung des Landes und die Lösung der kurdischen Frage zu erreichen. Letztere kann nicht ohne demokratische Mentalität gelöst werden, daher sind es die demokratischen Kräfte, die das tun werden. Regierungen, die sich demokratisiert haben, werden imstande sein, sie zu lösen.

Aber die regulären Parteien in der Türkei sind ein Teil der Strategie und Politik, mit denen die Kurden unter kolonialen Verhältnissen gehalten werden sollen. Nur unter dieser Voraussetzung werden sie geduldet.

Wir sind der Auffassung, dass Strategien für den Frieden und Stabilität nur über den gemeinsamen Kampf der demokratischen Kräfte entwickelt werden können. Wenn sie sich alle zu einem Block vereinen und demokratische Politik in allen Lebensbereichen praktiziert wird, auf der Straße, am Arbeitsplatz, im Stadtteil, dann kann die Demokratisierung der Türkei gelingen. Wir haben unsere Strategie, Taktik und Politik darauf ausgerichtet. Eine Demokratisierung der Türkei und die Lösung der kurdischen Frage von den Herrschenden zu erwarten ist nur Selbstbetrug.

Die Sorge um Öcalan ist mit dem Putschversuch gewachsen. Mit dem OHAL wurde die Isolation auf Imralı legalisiert.

Wenn der Hauptgrund für die politischen Krisen in der Türkei aus der ungelösten kurdischen Frage resultiert, dann sollten die Gesundheit, Sicherheit und Freiheit unseres Vorsitzenden Abdullah Öcalan von allen als wichtig erachtet werden. So wie sich die Lösungslosigkeit in der kurdischen Frage in Form von Krieg gegen das kurdische Volk auswirkt, wenn sogar Städte und Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht werden, so wird die Frage nach der Gesundheit und Sicherheit von Öcalan immer einen hohen Stellenwert haben. In einer Zeit gewaltsam ausgetragener Machtkämpfe und gegenseitigen Tötens ist es nur natürlich, dass das kurdische Volk höchst sensibel ist und besorgt um die Sicherheit und Gesundheit ihres Repräsentanten, weil die politische Atmosphäre kurdenfeindlich ist. In der Türkei herrscht absolute AKP-Willkür. Alle Gesetze und Regeln sind außer Kraft, die AKP regiert eigenmächtig. Wenn wir uns die Geschichte anschauen, sind es immer solche verworrenen Situationen, die äußerst gefährlich sind. Zeiten, in denen nicht klar ist, wer zu wem gehört, in denen die Machtkämpfe sehr heftig und komplex sind. In solchen Zeiten werden die gefährlichsten Komplotte vorbereitet und politische Morde verübt.

Wir haben gesehen, dass die Putschisten in allen Bereichen des Militärs organisiert und wozu sie fähig sind. Daher reicht es nicht aus, wenn die Regierung erklärt, unserem Vorsitzenden Öcalan ginge es gut. Die Sorge des kurdischen Volkes wird nicht enden, solange seine Anwälte oder Familienangehörige ihn nicht gesehen und sich nicht seines Gesundheitszustands versichert haben.

Die AKP ist nicht sauber, auf sie ist kein Verlass, sie lügt ununterbrochen. Daher werden wir Regierungserklärungen nicht glauben. Mit der OHAL-Anwendung wurde die gesamte Kommunikation auf Imralı verboten. Jeder Gefangene hat das Recht, unter bestimmten Umständen Anwälte oder Familienangehörige zu sehen. Öcalan werden diese Rechte willkürlich beschnitten. Seit dem 27. Juli 2011 dürfen seine Anwälte nicht mehr zu ihm. Seit dem 5. April 2015 darf niemand mehr zu ihm, weder die Familie noch die HDP-Delegation. Angesichts dieser feindseligen Politik ist es nur natürlich, dass die Sorge groß ist.

Die AKP-nahen Medien behaupten, hinter diesem Putschversuch steckten die USA und Ihre Bewegung habe ebenfalls vorher Kenntnis gehabt. Was sagen Sie dazu?

Diese Behauptungen dienen der Verschleierung des wahren Gesichts der AKP. Wie bereits gesagt, Politik und Mentalität der AKP haben diesem Putschversuch Tür und Tor geöffnet. Die Putschisten waren von Erdoğan und AKP persönlich in der Armee gestärkt und in Schlüsselpositionen gebracht worden. Sie wurden im Krieg gegen das kurdische Volk benutzt, dafür erhielten sie die Initiative. Aus dieser Initiative und Stärkung haben sie die Möglichkeiten erhalten, sich für diesen Putsch zu organisieren. Hätte Erdoğan ihnen nicht diese grenzenlose Initiative erteilt, ihnen Immunität verliehen für all ihre Taten, hätte er für sie keine Sonderregeln erlassen, dann hätten sie nicht diese Möglichkeiten, sich so zu organisieren.

War es nicht Erdoğan selbst, der von den USA und der EU die Unterstützung erhielt, um die oppositionellen Kräfte zu beseitigen? Wurden nicht im Gegenzug den USA und der EU nahestehende Offiziere und Generäle innerhalb der Armee befördert? Wurden die Putschisten nicht in der AKP-Regierungszeit bestärkt? Diese Realität liegt auf der Hand. Diese Regierung war es, die mit der Fethullah-Gemeinde ein Bündnis einging, um gemeinsam die Opposition zu bekämpfen. Wurden der Fethullah-Gemeinde nicht viele Zugeständnisse gemacht, u. a. dass sie sich innerhalb der Armee stärken? Erdoğan persönlich trägt Verantwortung dafür, dass die Fethullah-Anhänger innerhalb der Armee derart befördert wurden.

Wir betrachten nicht alle am Putsch Beteiligten als Fethullah-Anhänger. Dass die AKP sie alle so darstellt, hat damit zu tun, dass sie ihr wahres Gesicht und ihre Verantwortung für diesen Putschversuch verschleiern will. Wie gesagt, die falsche Außen- und Innenpolitik der AKP sowie die kurdenfeindliche Politik haben diesen Putsch befördert. Wir denken auch, dass die Fethullah-Gemeinde involviert war. Aber auch AKP-Gegner haben teilgenommen. Es wird klar, dass es ebenfalls ein Bündnis gab.

Es waren auch US-nahe Generäle und Offiziere involviert. Vielleicht haben sie angenommen, ihr Vorhaben würde von den USA unterstützt werden. Die Differenzen zwischen den USA und der AKP sowie die US- und EU-Kritik an der AKP könnten diese Kreise ermutigt haben. Inwieweit die USA hinter diesem Putschversuch standen, können wir nicht sagen. Eines ist jedoch klar. Die türkische Armee ist eine NATO-Armee. Sie partizipiert an der NATO-Kultur, die Werte der NATO bestehen in gewisser Weise. Es ist unvorstellbar, dass eine so weit mit der NATO verquickte Armee sich nicht von dieser beeinflussen lässt. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die Putschisten auch die NATO angetestet haben. Obwohl sich gewisse Kommandanten innerhalb der Befehlskette nicht am Putsch beteiligt haben, dennoch eine Entschlossenheit zur Durchführung bestand, kann als Signal gedeutet werden, dass sie auf externe Unterstützung gesetzt haben. Wenn der Putsch nicht zur Frühgeburt gezwungen wurde und wenn sie nicht infiltriert worden wären, wären vielleicht heute die Putschisten an der Macht. Weil sie keine Minderheit darstellen, kann es sein, dass sie zu den USA und der NATO gewisse Kontakte geknüpft und vielleicht sogar Zustimmung von ihnen erfahren haben. Über unterschiedliche Kanäle mögen sie die US- und EU-Haltung zur AKP in Erfahrung gebracht haben. Vor allem in der letzten Zeit waren die USA und die EU äußerst unzufrieden mit der AKP-Politik. Aber auch dieser Unmut ist auf die AKP selbst zurückzuführen.

Die Behauptung, wir hätten im Vorfeld Kenntnis gehabt über den konkreten Putschversuch, entspricht nicht der Wahrheit. Wir haben oftmals die Möglichkeit solcher Entwicklungen zur Sprache gebracht. Der Vorsitzende hatte schon vor Jahren immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass die ungelöste kurdische Frage den Putschmechanismus in Gang setzen werde. Das hat aber nichts mit Prophezeiung oder vorheriger Information zu tun, sondern ist das Ergebnis logischer Analyse und politischer Vorausschau.

Welche Verbindung kann dieser Putschversuch mit uns haben? Sowohl die Fethullah-Gemeinde als auch die kemalistischen Nationalisten oder andere ihrer Bündnisse sind alle kurdenfeindlich. Es geht um Kräfte, die im Bestreben, die Befreiungsbewegung zu liquidieren, miteinander konkurrieren. Ist es nicht Erdoğan, der immer wieder erklärt, dass hinter den Festnahmen der KCK-Operationen die Fethullah-Gemeinde steht? Es handelt sich um Kräfte, die sich durch ihre antikurdische Politik in Bürokratie und Militär gestärkt haben. Vor diesem Hintergrund ist diese Behauptung nicht haltbar.

Wir wiederholen: Wenn die AKP-Regierung sich nicht demokratisiert und auf dieser Grundlage nicht die kurdische Frage löst, wird sie immer wieder den Putschmechanismus in Gang setzen. Unabhängig von der AKP, die Dialektik der türkischen Politik ist darauf aufgebaut. Solange die Demokratisierung nicht vollzogen und die kurdische Frage nicht gelöst ist, werden immer irgendwelche Kräfte unter dem Vorwand, die Einheit und Unteilbarkeit der Türkei verteidigen zu wollen, die Macht an sich zu reißen versuchen.

Wie werden sich die jüngsten Entwicklungen in der Türkei auf Rojava auswirken?

Wie bereits gesagt, die AKP-Regierung hat nach dem Putschversuch nicht den Weg der Demokratisierung eingeschlagen. Im Gegenteil, die Türkei ist noch undemokratischer geworden. Sie ist noch kurdenfeindlicher geworden und ihre Beziehungen zu faschistischen, chauvinistischen und nationalistischen Kräften haben sich intensiviert. Vor diesem Hintergrund wird die Aggression des türkischen Staates gegen Rojava nicht reduziert werden, sondern zunehmen. Faschistische Regime lenken die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von inneren Problemen immer nach außen. Ständig wurden die Partei der Demokratischen Einheit (PYD) und die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) als Feinde und Terroristen dargestellt, immer wieder wurde erklärt, es werde nicht zugelassen, dass die Kurden an ihrer Grenze etwas aufbauen. Auf diese Weise wurde ein äußerer Feind produziert, um die Wut und Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf Rojava zu lenken. Folglich wird der türkische Staat auch jetzt, um von inneren Problemen abzulenken, seine Feindseligkeit gegen Rojava steigern. Er wird mit allen Mitteln zu verhindern suchen, dass die Kurden den Status eines freien und demokratischen Lebens in Rojava erlangen. Er erhält auch nach dem Putschversuch seine Beziehungen zum IS aufrecht.

Zeitweilige Erklärungen gegen den IS werden nur abgegeben, um die Verbindung zu ihm zu verschleiern. In der Praxis ist der ein Bündnispartner der Türkei und umgekehrt. Der IS findet in der Region keinen verlässlicheren Partner als die Türkei. Daher sind sie aufeinander angewiesen. Die Türkei hat ihre ganze Außenpolitik darauf ausgerichtet, die Revolution in Rojava zu zerschlagen. Ihre Bündnisse in der Region dienen einzig diesem Zweck. Sie lässt den IS die Revolution in Rojava angreifen, unterstützt ihn in Minbic.

Auch der jüngste Angriff in Qamişlo wurde von der AKP angeleitet. Sie verfolgt die Strategie, Rojava mit solchen Angriffen zu schwächen, die Revolution mit inneren Problemen zu beschäftigen, um ihren Einfluss auf Syrien zu reduzieren. Die AKP setzt den IS noch immer als Instrument gegen die Revolution in Rojava ein.

Sie setzt die USA mit der Behauptung unter Druck, sie würden hinter dem Putschversuch stecken, um im Gegenzug Unterstützung für die Rojava-Politik zu bekommen. Das ist der eigentliche Grund, warum Erdoğan ständig die USA und die EU der Putschbeteiligung beschuldigt, nämlich um die Differenzen in der Rojava-Politik zu seinen Gunsten zu verändern. Des Weiteren handelt er nach der Devise »Angriff ist die beste Verteidigung«, um so von seiner Schuld und Verantwortung abzulenken.

Kurzum: Die AKP versucht, um sich auf den Beinen zu halten, mit faschistisch-chauvinistischen Kräften im Inland Bündnisse zu schließen und nach außen immer ein Feindbild zu bewahren, um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung nach draußen zu lenken. Die Türkei, wo der Chauvinismus nach dem Putsch hochgepeitscht wurde, ist nicht nur für Rojava, sondern für das gesamte kurdische Volk eine Gefahr, denn sie will über die Kurdenfeindschaft vom Unmut im Inneren und von außen ablenken. Sie denkt, über die Kurdenfeindschaft kann sie ihre Macht noch weiter festigen. Daher ist die Zunahme ihrer Angriffe auf die Kurden sowohl in Rojava als auch in der Türkei zu erwarten.