Putsch und Gegenputsch in der Türkei

Eine Säuberungswelle folgt auf die nächste ...

Michael Knapp und Elke Dangeleit

Der Putschversuch von Fraktionen des türkischen Militärs beherrscht seit Wochen die internationale Medienlandschaft. Schnell waren sich Bundesregierung und US-Regierung einig, dass die »Demokratie« gegen die Putschisten verteidigt werden müsse. Doch wer steht in der Türkei noch für Demokratie? Ist es nicht vielmehr so, dass eine autoritäre Macht versucht hat, den autoritären Machthaber vom Thron zu stürzen?

Panzer rollen in Ankara und Istanbul, Redaktionen werden besetzt, Häuser werden bombardiert. Über Nacht gelang es Erdoğan, Hunderttausende gegen die Militärs auf die Straßen zu mobilisieren. Republikpräsident Erdoğan findet sich in der »von Gott geschenkten« Rolle eines Führers der Massen gegen einen Putsch gegen die Demokratie wieder. Zwar kritisieren die internationalen Medien sachte, dass Erdoğan ebenfalls kein lupenreiner Demokrat sei. Aber es wird darüber hinweggesehen, dass die Machtkonzentration um die AKP-Regierung der letzten 13 Monate selbst die Kriterien eines Putsches zu erfüllen scheint.

Der Putsch des Regimes begann im Juni 2015

Schon vor den Wahlen im Juni 2015 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Befugnisse der unter AKP-Kontrolle stehenden Polizeikräfte enorm erweiterte. Nach den Wahlen am 7. Juni 2015 sorgte Erdoğan dafür, dass keine Regierungskoalition zustande kam. Stattdessen wurde der noch im März erfolgversprechende Friedensprozess mit der PKK durch Bombardierungen der Kandil-Berge im Nordirak vollständig beendet und auf militärische Eskalation gesetzt. Die Zeit bis zu den Neuwahlen im November war von Angriffen des Militärs, Anschlägen durch Dschihadisten auf Gegner des AKP-Staates und Festnahmekampagnen geprägt. Gleichzeitig wurde die Pressefreiheit massiv eingeschränkt. Schon während der Wahlkämpfe war zu beobachten, dass die Regierung Erdoğan auf die Unterstützung der konservativen und islamistischen Bevölkerungsteile setzt und diese zu Angriffen auf Gegner mobilisieren kann. So wurden hunderte Büros der linken, oppositionellen Demokratischen Partei der Völker (HDP) wie auch Zeitungen, die nicht im Sinne Erdoğans berichteten, von seinen Anhängern belagert und verwüstet, Oppositionelle auf offener Straße angegriffen. Die Polizei, die sonst jegliche Kundgebung mit Tränengas aufzulösen weiß, hielt sich weitgehend zurück. Dass solche Pogrome geduldet werden und die Regierung sich auf einen jederzeit mobilisierbaren Lynchmob stützt, der den Willen des Führers antizipiert und exekutiert, stellt ein Charakteristikum eines diktatorischen Regimes mit faschistischen Zügen dar.Türkische Panzer besetzen die kurdischen Ortschaften| Foto: DIHA

Dieses System begann ab Sommer 2015 dutzende Ausgangssperren über die kurdischen Regionen zu verhängen. Diese Ausgangssperren waren nach türkischer Verfassung vollkommen illegal, da das Regime diese über die Provinzgouverneure ausführen ließ, die dazu nicht befugt waren. Die Provinzgouverneure sind Verwaltungsbeamte des Staates, die von der AKP-Regierung eingesetzt werden. Der nationale Gerichtshof und die Verfassungsgerichte, die zu solchen Maßnahmen berechtigt sind, wurden von der AKP-Regierung nicht in die Entscheidung einbezogen. Den Ausgangssperren und Konflikten in den Regionen folgten systematische Stadtzerstörungen und Massaker wie wir sie in Cizîr (Cizre), Nisêbîn (Nusaybin), Sûr/Amed (Sur/Diyarbakır) und vielen anderen Orten erleben mussten. Dass im Osten des Landes schwerste Kriegsverbrechen an der Bevölkerung begangen wurden, haben die türkischen Massenmedien, die zu einem großen Teil der AKP und Erdoğan gehören, verschwiegen. Wir können mittlerweile von fast einer Million Binnenflüchtlingen aus der kurdischen Region der Türkei sprechen. Weiterhin wurde der Konflikt paramilitarisiert, indem dschihadistische oder als Dschihadisten auftretende Einheiten Verbrechen im Stil des sogenannten Islamischen Staats (IS) an der kurdischen Bevölkerung begingen. Zuletzt deutlich wurde dies, als vermutlich Söldner der der AKP nahestehenden »Sicherheitsfirma« SADAT A.Ş. mehr als 34 Dorfbewohner bei Licê hinrichten und verbrennen wollten. Dies wurde allein durch das Eingreifen eines Militärs verhindert.1

Journalisten, Anwälten oder Forensiker, die zu diesen Themen arbeiteten, wurden bedroht, angeklagt und inhaftiert. Die Immunität von mehr als hundert Abgeordneten insbesondere der HDP wurde aufgehoben, bei den Beratungen im Parlament kam es zu massiven gewalttätigen Angriffen und Einschüchterungsversuchen gegenüber Abgeordneten der HDP.

Es kam zum Einsatz von Kriegsflugzeugen, Panzern, Artillerie und Soldaten gegen Teile der eigenen Bevölkerung. Wir können hier konstatieren, dass das Erdoğan-Regime schon vor dem Putschversuch und seinem Gegenputsch bis auf die absolute Macht im Staat alle Elemente einer faschistischen Diktatur besaß.

Schon seit längerem Unmut im Militär

Im Militär herrschte schon zuvor große Unruhe und Unmut über den sinnlosen Krieg, den die Armee in Kurdistan führt. Eine kaum zu beziffernde Anzahl von Soldaten wurde in Auseinandersetzungen mit der kurdischen Guerilla getötet. Die Mehrzahl dieser Soldaten wird auf anonymen Friedhöfen bestattet und deren Familien höchstens finanziell abgefunden. Berufssoldaten müssen eine Erklärung unterschreiben, dass ihr Tod geheim gehalten werden kann. Die angeblich so erfolgreichen Operationen gegen die Guerilla werden von dutzenden Videos erfolgreicher Guerillaangriffe auf Militärbasen, Konvoys u. ä. Lügen gestraft. Der Krieg, der die PKK vernichten sollte, ist zu einem blutigen Abnutzungskrieg geworden, in dem monatlich hunderte Soldaten ihr Leben lassen.

Bereits Anfang Januar berichtete die kurdische Nachrichtenagentur ANF unter Angabe von Namen, dass in Şirnex (Şırnak) 23 Soldaten, darunter 12 Offiziere der Spezialeinheiten, wegen der Menschenrechtsverletzungen gegen die kurdische Bevölkerung desertiert seien. Über ihr Schicksal gibt es keine weiteren Informationen. Auch die von der Regierung eingesetzten »Dorfschützer«, die dem Çakırsögüt-Polizeiregiment in Şirnex in der Provinz Cizîr unterstellt waren, hatten ihre Waffen niedergelegt, um nicht weiter Bestandteil der Aggressionen gegen kurdische Zivilisten zu sein.2

Laut der Informationsstelle Kurdistan, ISKU, die sich auf die Nachrichtenagentur ANF beruft, wandte sich im Januar 2016 ein Polizist aus dem Altstadtviertel Sûr/Amed anonym an die Medien.3

Während türkische Medien von Erfolgen gegen »PKK-Terroristen« berichteten, bei denen Polizei und Militär »Hand in Hand« zusammenarbeiten würden, spricht der Polizist von einer enormen Demoralisierung bei den Polizeikräften und den Militärs. Viele Soldaten und Polizisten würden Befehle verweigern, was von den Vorgesetzten nicht akzeptiert werde.

Er berichtet weiter, dass das türkische Militär und die Polizei große Verluste in Sûr/Amed erlitten hätten, dies aber von der Regierung verheimlicht werde. »Die Leichenhäuser sind voll von getöteten Polizisten und Soldaten«, so der Beamte. Auch das Volksverteidigungszentrum HSM spricht in einer Jahresbilanz vom 26.07.2016 von mehr als 2 982 getöteten Polizisten und Soldaten und etwa 1 146 Verletzten.4

Der Polizist bezeichnet die neben den Polizeikräften und dem Militär im Auftrag der Regierung operierenden Esadullah-Einheiten als eine Einheit von IS-Kämpfern, die keiner kenne und die unabhängig operierten: Diese Mannschaft bestehe aus Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen und deren verstorbene Mitglieder keine offizielle Bestattung erhalten. Dies gelte offiziell ebenfalls für die große Zahl von Berufssoldaten, die systematisch heimlich bestattet würden.

Der Unmut im Militär könnte einer der Gründe für den Putschversuch sein. Für die kurdische Bevölkerung ist das, was die Bevölkerung in Ankara und Istanbul in dieser Nacht erlebte, nichts als Alltag. Ein Putsch bedeutet für viele nur den Austausch eines Regimes durch das nächste. Der Dilettantismus in der Durchführung des Putschversuchs, mit wenigen Soldaten und Flugzeugen die zweitgrößte NATO-Armee schlagen zu wollen, wirft jedoch die Frage auf, ob der Putsch nicht auch von Regierungsseite wenn nicht initiiert, so doch toleriert war. Diese Frage wird sich nicht klar beantworten lassen. Deniz Yücel formulierte denn auch in der Welt, dass nun der eigentliche Putsch beginne.5 Möglicherweise wäre es aber treffender festzustellen, dass der Putsch des AKP-Regimes am 7. Juni 2015 mit der Sabotage der Wahlen begann.

Erdoğan ermächtigt seine Anhänger zur Selbstjustiz

Erdoğan reagierte auf die Aktionen von Teilen des Militärs mit einem Aufruf zum Widerstand. Seine Anhänger wurden unter anderem über die Lautsprecher der Moscheen auf die Straßen mobilisiert und blockierten die wenigen putschenden Militäreinheiten. Die AKP scheint über ein gut funktionierendes Mobilisierungsnetz zu verfügen. Anders ist es nicht zu erklären, dass binnen kürzester Zeit Zehntausende zum Flughafen gekommen waren, um den Auftritt Erdoğans zu begrüßen. Sie riefen ihm in frenetischer Begeisterung zu: »Hier die Armee, hier der Kommandant.« Oder: »Sag es und wir töten, sag es und wir sterben«, »Allahu akbar!« – »Gott ist groß!«6

Immer wieder kam es zu den unter Dschihadisten beliebten »Tekbir«-Rufen – was so viel wie »Ein einziger [Gott]« bedeutet. Es ist der Schlachtruf, unter dem der IS immer wieder Massaker an Êzîden, Aleviten, Christen oder Muslimen begeht. Durch die enge Zusammenarbeit mit dschihadistischen Gruppen ist die Türkei durchsetzt von IS und anderen Zellen. Das Vorgehen gegen einige der Putschisten erinnert eben an diese Gruppen. So wurde nach Angaben der linken Zeitung Birgün ein Soldat von einer großen Menschengruppe unter Jubelrufen von einer der Bosporus-Brücken hinuntergeworfen.7 Weiterhin gibt es in türkischen Medien Berichte darüber, dass ebenfalls auf einer der Bosporus-Brücken ein Soldat, der sich der Masse ergeben hatte, enthauptet worden sei. Die dazu als Beleg im Netz verbreiteten Bilder sollen aber angeblich Männer zeigen, die versuchten, einen verletzten Soldaten vor dem Mob zu schützen.8

Ein deutsch-türkischer Journalist postete auf facebook, wie ein Soldat vom Mob ausgepeitscht, andere zusammengeschlagen wurden.9

In Ankara war eine der ersten Handlungen der »Demonstranten für die Demokratie«, das Denkmal für die über 100 durch den IS im Oktober 2015 in Ankara ermordeten Friedensaktivisten zu zerstören.
Auch in Städten wie Meletî (Malatya), Dîlok (Antep) und in anderen Orten kam es zu schweren Angriffen durch Anhänger der AKP und MHP. So plünderten diese in Meletî als oppositionell geltende Buchhandlungen und stachelten zu Angriffen auf Aleviten und Armenier auf, die ebenfalls für den Putsch verantwortlich gemacht wurden. So erklärte der AKP-Vorsitzende des Kreises Albistan (Elbistan) die Anhänger Fethullah Gülens unter »Allahu akbar«-Rufen zu Armeniern: »Wir werden denen, die den Namen des Islam benutzen, aber in Wirklichkeit Armenier sind und die Religion verkaufen, keine Gelegenheit bieten.«10 Gerade in den alevitisch geprägten Regionen Albistan, Gurgum (Maraş) und Meletî wecken die Demonstrationen große Befürchtungen. Bei sektiererischen Angriffen von islamistischen Nationalisten wurden in Gurgum 1978 hunderte alevitische Männer, Frauen und Kinder ermordet, weitere Massaker folgten in Albistan, Çorum und Sêwas (Sivas), wo 1993 ein Mob von 5 000 ein Hotel in Brand steckte und unter »Allahu akbar«-Rufen 38 alevitische Intellektuelle verbrannte. Die Polizei griff damals nicht ein. Die Verfolgung insbesondere kurdischer Alevitinnen und Aleviten durch den türkischen Staat, Nationalisten und Islamisten hat sich tief ins Gedächtnis der Region eingebrannt. 2007 schnitten in Meletî Islamisten und Nationalisten, die dem in Berlin als gemeinnützig anerkannten Verein »Alperen Ocaklari« nahestehen, drei christlichen Missionaren die Kehlen durch. Dieses nationalistisch, religiös-extremistische Potential stellt in der gesamten Grenzregion der kurdischen Gebiete in der Türkei eine enorme Bedrohung dar, die sich immer wieder auch auf das gesamte Land mit ihrer sunnitischen Vorherrschaft auswirkt.

Der Putschversuch angeblicher Gülenisten ermöglichte dem AKP-Regime nun, seine Machtbasis nahezu absolut auszubauen. Während vorher Unzufriedenheit im kriegsmüden Militär herrschte und das Regime auch durch das Fehlen einer absoluten Mehrheit im Parlament und seine systematischen Verfassungsbrüche politisch, militärisch und juristisch angreifbar wurde, fand mit der Verhängung des Ausnahmezustands eine Gleichschaltung in allen Bereichen der Gesellschaft statt. Dass das Vorhaben Militär und Justiz zu »säubern« schon länger geplant war, belegen unter anderem Erklärungen, die Erdoğan bereits vor dem Putsch abgeben hatte.

Regime konsolidiert Präsidialdiktatur durch Ausnahmezustand

Durch einen noch sicherer und unangefochtener agierenden Erdoğan zeichnet sich eine weitere Eskalation in der Türkei ab. Eine Säuberungswelle folgt auf die nächste. Insbesondere das in Kurdistan eingesetzte Militär ist von dieser Kampagne betroffen, obwohl sich die Putschisten im Militär überwiegend in Istanbul und Ankara befanden. Eine Hegemonie im öffentlichen Diskurs lässt eine faschistische Dialektik zwischen Erdoğan und den von ihm mobilisierten Massen entstehen. Die Massen fordern die von Erdoğan gewünschte Todesstrafe und Erdoğan gibt sich demokratisch, indem er sich als Anwalt dieses »Volkswillens«, der eigentlich sein eigener ist, geriert. Ebenfalls ein typisches Moment faschistischer Herrschaft.

Der Generalsekretär der AKP forderte ebenfalls die Wiedereinführung der Todesstrafe.11 Auch die europäische Menschenrechtskonvention hat die Türkei ausgesetzt.12

Die kurdische Freiheitsbewegung ruft im Zusammenhang mit dem Putsch und Gegenputsch dazu auf, eine demokratische Volksfront gegen das Regime des zivilen Putsches (AKP) und des Gegenputsches (Teile des Militärs) zu bilden.

Doch wer wird es noch wagen, nachdem der Mob losgelassen ist, sich offen gegen das Regime zu stellen? Die Gefahr ist groß, dass nun die islamistischen und faschistischen Kräfte in der türkischen Gesellschaft ermutigt worden sind, offen gegen Minderheiten und Regimekritiker vorzugehen. Es ist zu befürchten, dass sich Übergriffe wie der Überfall auf einen Plattenladen im Mai in Istanbul mehren. Jugendliche hatten sich in dem Musikgeschäft getroffen, um die Neuerscheinung einer Band zu feiern. Ihr Vergehen: Sie haben während des Ramadans geraucht und Bier getrunken. Die Täter: aufgebrachte Bürger aus der Nachbarschaft.13

Ausnahmezustand – Präsidialdiktatur – abgesegnet von Parlamentsmehrheit

Am 21. Juli wurde der Ausnahmezustand von einer Parlamentsmehrheit von 356 Stimmen beschlossen. Wie zu erwarten war, unterstützten die AKP und die rechtsextreme MHP den Ausnahmezustand, doch schlossen sich dem Lager der Unterstützer auch einige Abgeordnete der kemalistischen CHP an. Trotz verbaler Verurteilung des Ausnahmezustands als militärische Umsetzung des Präsidialsystems kam die CHP-Fraktion der AKP entgegen, indem sie den Fraktionszwang für die Abstimmung aufhob. Begründet wurde diese Haltung mit innerparteilicher Demokratie, sicherlich spielte dabei aber auch Selbstschutz eine Rolle, da die CHP selbst fürchtet, ins Lager der Putschisten gerückt zu werden.14 Allein die Fraktion der Demokratischen Partei der Völker (HDP) stellte sich geschlossen gegen den Ausnahmezustand und die Ausschaltung des Parlaments. Diese durch Notstandsmaßnahmen faktisch umgesetzte Präsidialdiktatur, das Regieren per Dekret, verleiht dem Republikpräsidenten eine weit höhere Macht, als sie durch die Umsetzung eines Präsidialsystems möglich gewesen wäre. Was in den kurdischen Regionen schon längst auch nach türkischen Rechtsnormen illegale Staatspraxis war, wurde nun legalisiert – Gouverneure können nun über Ausgangssperren, Versammlungen, Enteignungen etc. entscheiden – die Frist für Inhaftierungen ohne Kontakt zur Außenwelt wurde von 48 Stunden auf 30 Tage verlängert. Tausende von Einrichtungen, Schulen etc., die der Gülen-Bewegung nahestehen sollen, wurden geschlossen.15

Die Legalisierung dieser Praxis kündigt einerseits ihre erweiterte Anwendung an, andererseits die juristische Absicherung des Vorgehens in den kurdischen Gebieten und im ganzen Land. Denn die Regierung ist nicht nur militärisch, sondern auch verfassungsrechtlich wegen ihrer Praxis der Ausgangssperren und Stadtzerstörungen in den kurdischen Regionen angreifbar. Auch wenn eine Klageerhebung von Seiten der türkischen Justiz gegenüber Erdoğan in den letzten Monaten unwahrscheinlich erschien, wurde nun anscheinend die Justiz von den letzten Verdächtigen »gesäubert« und die Justiz gleichgeschaltet – mehr als 3 000 Richter aller Ebenen wurden entlassen, 800 Richter, Staatsanwälte festgenommen. In anderen Sektoren sieht es ähnlich aus. Die Zahl der Inhaftierten und Entlassenen schlüsselte sich für die Süddeutsche am 21. Juli folgendermaßen auf:

  • 30 der 81 Gouverneure
  • 8 777 Beamte des Innenministeriums, darunter 7899 Polizisten
  • 2 745 Justizbeamte, darunter Richter, Staatsanwälte und Mitglieder des Hohen Rates der Justiz
  • 100 Mitarbeiter des Geheimdienstes MIT
  • 21 700 Lehrer oder andere Bedienstete des Bildungsministeriums
  • 1 500 Beamte des Finanzministeriums
  • 393 Mitarbeiter des Familienministeriums
  • fast 200 Mitarbeiter der höchsten Gerichte
  • 100 Mitarbeiter des Nachrichtendienstes
  • 21 000 Privatlehrern wurde die Arbeitserlaubnis entzogen
  • 1 577 Dekane und die Rektoren aller Universitäten wurden von der Hochschulverwaltung am Dienstag aufgerufen, ihren Rücktritt einzureichen. Einem Medienbericht zufolge wurde allen Akademikern bis auf Weiteres die Ausreise verboten.
  • 492 Geistliche und Religionslehrer der staatlichen Behörde für religiöse Angelegenheiten (Diyanet)
  • 257 Mitarbeiter der Staatskanzlei von Ministerpräsident Binali Yıldırım16

Die Zahlen erhöhen sich täglich. Der Journalist Kerem Schamberger gab am 4. August, also eine gute Woche später, folgende Zahlen auf facebook bekannt:

  • 25 917 Menschen befinden sich in Untersuchungshaft
  • 13 419 Menschen befinden sich in Haft (dies ist ein Unterschied zur Untersuchungshaft)

Damit sitzen nun fast 40 000 Menschen in türkischen Gefängnissen.

Von mehreren hundert Gefangenen gibt es seit dem 16. Juli keinerlei Informationen über ihren Verbleib. Die Familien haben keinerlei Kontakt. Insgesamt wurden bisher 74 562 Reisepässe annulliert.17

Ein derartig massiver Austausch von Funktionären auf allen Ebenen des Staates charakterisiert Putschregime auf dem Weg zu konsolidierten Diktaturen und lässt weitere Eskalationen erwarten. Man muss allerdings feststellen, dass es die Erdoğan-Regierung mit massiver Gewalt geschafft hat, die linke und kurdische Opposition zu isolieren. Die kurdische Bewegung und die HDP sind im Moment die einzigen, zwar starken, aber isolierten Pole des Widerstands. Gegen diese Isolierung rufen kurdische Abgeordnete, zivilgesellschaftliche Organisationen, die HDP, wie auch die PKK, zur Bildung eines Demokratieblocks gegen jede Form des Putschismus auf.

Historische Parallelen zum italienischen Faschismus

Nachd em Erdoğan bereits Anfang 2016 Hitler-Deutschland als Beispiel für ein funktionierendes Präsidialsystem genannt hatte,18 drängen sich Vergleiche zum Faschismus auf. Allerdings liegt – auch wenn Parallelen zur Strategie Hitlers zu Beginn seiner Macht offensichtlich erscheinen – der Vergleich mit Mussolinis Faschismus näher. Mussolini wurde durch den Aufmarsch seiner 20 000 »Schwarzhemden« an die Macht gebracht. Der König ließ ihn gewähren, während die »Schwarzhemden« Rom terrorisierten. Ähnlich wie bei Mussolinis Marsch auf Rom 1922, bei dem Mussolini die Macht der faschistischen Partei durchzusetzen suchte, nutzte Erdoğan die von ihm einberufenen Massenversammlungen, um seine Machtposition zu stärken, und regiert seitdem legitimiert und gestützt auf seine Massenbewegung. Die Ähnlichkeit mit dem Mussolini-Faschismus lässt sich an folgenden Beispielen deutlich zeigen: Mussolini änderte das Wahlgesetz, brachte seine Partei an die Macht und setzte auf Förderung der Ökonomie durch Großprojekte. Während Mussolini den römischen Imperialismus glorifizierte, ließ sich Erdoğan einen osmanischen Palast errichten und verfolgt eine neoosmanische Restaurationspolitik. Um seine Macht zu konsolidieren, verschaffte sich Mussolini die sofortige Kontrolle über Medien und Polizei – Erdoğan konzentrierte nach dem Putschversuch alle Macht auf sich und sein Amt und ließ dutzende Zeitungen verbieten und zensieren, ganze Redaktionen austauschen, während das Medienimperium der AKP floriert. Ähnlich wie die faschistischen Medien in Italien die Niederlagen Mussolinis 1923 in Korfu zu Siegen umdeuteten, glorifizieren die Medien das angeblich erfolgreiche Vorgehen gegen die PKK und verkünden immer neue offensichtliche Lügen. Aufgrund der Diskurshoheit der Medien des AKP-Regimes zweifeln jedoch die wenigsten diese Unwahrheiten an. Anders als die AKP-Medien zu berichten, wird als Verbrechen gegen den Staat und als Unterstützung des Terrorismus verfolgt, was zur Folge hat, dass dutzende Journalisten in der Türkei inhaftiert sind. Während sich Mussolini auf die katholische Kirche stützte, stützt sich Erdoğan auf den politischen Islam. Beide Diktatoren führten zwangsweisen Religionsunterricht ein und verfolgten eine frauenfeindliche, religiös-konservative Politik. So wird beispielsweise der Ausschank von Alkohol immer weiter sanktioniert, die Frau zur Gebärmaschine degradiert, Schwangerschaftsabbruch und sogar die Geburt per Kaiserschnitt verboten bzw. radikal eingeschränkt.

Es können viele weitere Parallelen zum Faschismus genannt werden – allerdings besteht eine Volksfront gegen den Faschismus erst in den Anfängen. Vermeintliche Oppositionsparteien, wie CHP und MHP, verdingen sich als Erdoğans Steigbügelhalter. Die einzige reale Opposition in der Türkei stellen im Moment die HDP und die kurdische Freiheitsbewegung, aber auch militante Zusammenschlüsse wie die HBDH (Halklarin Birlesik Devrimci Hareketi, Vereinigte Revolutionsbewegung der Völker, bestehend aus neun revolutionären Organisationen) dar.

Außenpolitischer Wechsel und Annäherung an Russland, Iran und Syrien

Widersprüchlich erscheint zunächst die Annäherung der Türkei an das syrische Regime, den Iran und schließlich nun auch an Russland. Sicherlich spielt für Russland sowie für die Türkei die Neuauflage des gescheiterten South-Stream-Pipeline-Projekts, das die Ukraine umgehen soll, eine wichtige Rolle. Aber auch die Lockerung der NATO-Bindung der Türkei ist nicht unwichtig. Die Türkei sieht sich durch eine stärkere Anbindung an Russland im Verhältnis zur NATO gestärkt und meint damit die eigene, auf Erpressung basierende Politik fortsetzen zu können und neue Druckmittel neben dem als »Flüchtlingsdeal« charakterisierten Menschenhandel aufbauen zu können. Damit möchte die Türkei weiter ein Schweigen zur Machtkonzentration um Erdoğan und den Aufbau eines faschistischen Regimes um die AKP erzwingen. Andererseits stellt die kurdische Frage hier einen zentralen Faktor dar. Denn regionalpolitisch stellt – sowohl für das Assad-Regime als auch für die Türkei – die Selbstverwaltung in Rojava eines der größten Probleme dar. Die Nabucco-Pipeline sollte die Türkei zum zentralen Transitland für Erdgas und Erdöl aus Aserbaidschan, Turkmenistan, dem Iran und dem Irak machen und damit der EU eine Alternative zu Russlands Gasversorgung bieten. Das Nabucco-Projekt scheiterte nicht zuletzt auch am Krieg in Nordkurdistan und dem zu erwartenden Widerstand in der Region. Das South-Stream-Pipeline-Projekt würde nun die Türkei weiter an Russland anbinden und die ökonomische Position Russlands gegenüber der EU stärken. Darüber hinaus umgeht es die kurdischen Regionen, denn die Pipeline soll direkt durch das Schwarze Meer über die Westtürkei in die EU führen. Wir sehen also, dass hier die kurdische Frage einen wichtigen Einfluss hat.

Der Schwerpunkt in der Neuorientierung der türkischen Außenpolitik liegt allerdings in der Bekämpfung der Selbstverwaltung von Rojava. Alle Versuche der Türkei, die Ausweitung der Demokratischen Autonomie in Rojava militärisch und politisch zu verhindern, sind bisher gescheitert. Weder die Verbindung der Kantone Cizîrê und Kobanê noch die Befreiung von Kobanê noch das Übertreten der »Roten Linie Euphrat« konnten von der Türkei verhindert werden. Während die USA nicht umhinkamen, die Verteidigungskräfte der SDF als stärkste gegen den IS kämpfende Kräfte zu unterstützen, hatte die Türkei auf ein Bündnis mit dschihadistischen Terrorgruppen, den IS eingeschlossen, und das weitgehend irrelevante Oppositionsbündnis ETILAF (2012 in Qatar gegründet) mit seiner Nähe zum Dschihadismus gesetzt. Insbesondere die logistische Versorgung von Terrorgruppen durch die Türkei, die lange vom Westen geduldet wurde, scheint die AKP außenpolitisch wie auch innenpolitisch gegenüber Fraktionen im Militär und der Justiz diskreditiert zu haben. Dies zeigen die ebenfalls von Vertretern aus Staatsanwaltschaft und Jandarma aufgedeckten Waffenlieferungen des Geheimdienstes MIT an Dschihadisten in Syrien deutlich. Die Türkei setzte ihr ganzes Gewicht ein, um die Teilnahme einer Delegation aus Rojava an den Genf-III-Friedensgesprächen zu verhindern, und war damit in doppelter Hinsicht erfolgreich, Deutschland setzte durch, dass der türkeinahe Al-Qaida-Verbündete Ahrar Ash-Sham an den Friedensgesprächen teilnimmt, Rojava jedoch ausgeschlossen bleibt. Als Reaktion darauf kündigte Rojava am 17. März den Aufbau einer Demokratischen Föderation Nordsyriens an. Das syrische Außenministerium antwortete auf diese Erklärung mit einer Warnung gegen »jeden, der es wagt, die Einheit des Landes und der Menschen von Syrien, gleich unter welchem Titel, zu unterminieren ... ein föderales System aufzubauen, widerspricht der syrischen Verfassung und allen nationalen Konzepten und internationalen Resolutionen«.

Schon im Februar hatte das Assad-Regime mit russischer Unterstützung seinen Vormarsch auf Aleppo und den Korridor zwischen Kobanê und Afrîn begonnen. Eine Offensive der SDF (Demokratischen Kräfte Syriens) auf das westlich von Afrîn gelegenen Arfet (Tall Rifaat) am 16.02.2016 hatte jedoch den Vormarsch des Regimes gestoppt. Gleichzeitig erfolgten immer wieder Angriffe aus der Türkei auf die Kleinstadt.

Aufgrund der Drohungen und der Nichtanerkennung der Demokratischen Föderation Nordsyriens boykottierten die Kantone Rojavas die syrischen Parlamentswahlen. Interessant ist, dass die gleiche Position wie die syrische Regierung die von der Türkei kontrollierte Syrische Nationale Koalition der Oppositionskräfte (ETILAF) an den Tag legte. Diese unterstellte, dass mit der Ausrufung der Demokratischen Föderation Nordsyriens der »Wille des syrischen Volkes [Anm. d. A.: von der Selbstverwaltung Rojavas] beschlagnahmt würde«.

Sowohl bezüglich Arfet als auch bezüglich Aleppo scheint es nach Angaben der algerischen Zeitung Al Watan auf einem Treffen in Algerien am 08.04.2016 zu einer Einigung zwischen der Türkei und Assad gekommen zu sein, mit dem Ziel, die Demokratische Föderation Nordsyrien zu bekämpfen.

Algerien spielt eine zentrale Rolle als Vermittler zwischen Syrien und der Welt. Seit 2011 fanden dort Treffen zwischen syrischen Staatsfunktionären und der Türkei bzw. der Arabischen Liga statt. Bei Reuters zitierte Tülay Karadeniz einen hochrangigen AKP-Politiker zu diesem Thema: »Vor allem ist Assad ein Mörder. Er unterdrückt sein eigenes Volk. In dieser Hinsicht hat sich unsere Perspektive nicht verändert. Aber dennoch unterstützt er gleichzeitig eben nicht die Autonomie der Kurden. Auch wenn nicht in den anderen Bereichen, so haben wir in dieser Hinsicht eine ähnliche politische Ausrichtung.«19 Des Weiteren sollen die Türkei und Syrien über die Errichtung eines Grenzzaunes übereingekommen sein.

In diesem Sinne ist die türkische Annäherung an Russland zu verstehen: Die kurdische Bewegung soll in Rojava ausgeschaltet werden. Ob sich Russland auf dieses Spiel einlassen wird, bleibt ebenso abzuwarten wie die Reaktionen der dschihadistischen Verbündeten in der Türkei. Der IS-Anschlag auf den Flughafen von Istanbul mag in diesem Sinne als eine Warnung an die AKP gesehen werden.

Ein Modell wie Rojava, welches das Selbstbewusstsein und das internationale Ansehen der Kurdinnen und Kurden auch in der Türkei und im Iran stärkt, soll um jeden Preis verhindert werden. Das Vorgehen des syrischen Regimes spricht allerdings dafür, dass eine solche Einigung stattgefunden hat. Die Regime im Iran, in der Türkei wie auch in Syrien stehen, wenn auch gegeneinander positioniert, für den alten, zentralistischen, monistischen Ansatz des Nationalstaats und damit diametral dem Modell der Demokratischen Autonomie gegenüber.

Fußnoten:
1  http://www.heise.de/tp/news/Tuerkei-Eine-Geheimarmee-fuer-Erdoğan-3274132.html
2  https://isku.blackblogs.org/986/23-soldaten-der-tuerkische-armee-desertieren-in-sirnex/
3  https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=959861684091521&id=860515587359465&fref=nf&pnref=story
4  http://anfturkce.net/kurdistan/hsm-1-yillik-savas-bilancosunu-acikladi-2982-asker-ve-polis-olduruldu
5  http://www.welt.de/politik/ausland/article157090810/Der-eigentliche-Putsch-beginnt-jetzt-erst.html
6  http://www.welt.de/politik/ausland/article157090810/Der-eigentliche-Putsch-beginnt-jetzt-erst.html
7  http://www.birgun.net/haber-detay/bogazici-koprusu-nde-asagi-atin-nidalariyla-bir-asker-linc-edildi-120179.html
8  http://www.habervaktim.com/haber/477202/cuntanin-darbe-girisimine-katilan-askerin-basi-kesildi.html
9  https://www.facebook.com/photo.php?fbid=10207032654680194&set=pcb.10207032666560491&type=3&theater
10  http://www.elbistankaynarca.com/elbistan-demokrasi-mitinginde-tek-yurek-oldu-21166h.htm
11  http://de.sputniknews.com/politik/20160721/311633818/Erdoğan-eu-wiederaufnahme-todesstrafe-respektieren.html
12  http://www.focus.de/politik/ausland/nach-verkuendung-des-ausnahmezustands-tuerkei-will-europaeische-menschenrechtskonvention-aussetzen_id_5750796.html
13  http://www.welt.de/politik/ausland/article156327089/Alkohol-im-Ramadan-Wir-fackeln-euch-ab.html
14  https://www.chp.org.tr/Haberler/4/tum-ohal-fiili-bir-baskanlik-provasina-donusmemelidir-25621.aspx
15  http://www.donaukurier.de/nachrichten/topnews/Tuerkei-Umsturz-Streitkraefte-Justiz-Tuerkische-Regierung-schliesst-tausende-mutmassliche-Guelen-Einrichtungen;art154776,3246695
16  http://www.sueddeutsche.de/politik/nach-putschversuch-festnahmen-in-der-tuerkei-zehntausende-entlassungen-inhaftierte-ohne-rechte-1.3085149
17  https://www.facebook.com/kerem.schamberger?fref=pb&hc_location=friends_tab&pnref=friends.all
18  http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-recep-tayyip-Erdoğan-nennt-hitler-deutschland-als-beispiel-fuer-praesidialsystem-a-1070162.html
19  http://odatv.com/turkiye-bagimsiz-kurt-devletine-razi-mi-oldu-2106161200.html