Syrische Geflüchtete in der Türkei

Das vergessene Thema nach dem Putschversuch in der Türkei

Sezin Öney, Kolumnistin

Die Türkei macht sehr schwere Zeiten durch. Es sind die schwersten Tage für die gesamte Bevölkerung der Türkei seit der Gründung der Republik. Es ist natürlich schwierig, in einem Land, in dem die Menschenrechte nie hochgehalten wurden, eine Phase mit der anderen zu vergleichen oder gar die repressiven Akte des Staates in der Vergangenheit darzulegen und isoliert voneinander zu betrachten. Dieses Mal jedoch ist ein traumatisches Ereignis im Gange, das die Zukunft der ganzen Bevölkerung betrifft. Anders als in den traumatischen Phasen in der Vergangenheit wurde zum ersten Mal seit dem Putsch 1980 der Ausnahmezustand über die gesamte Türkei verhängt. Das hat strukturell gesehen zwei Folgen:

  1. Die bestehenden und in dieser Phase entstandenen Selbstverteidigungsmechanismen zur Wahrung der Menschenrechte werden vernichtet werden.
  2. Eines der grundlegenden Probleme der Türkei ist die extreme Zentralisierung der Entscheidungsprozesse, die jetzt noch weiter verschärft wurde und nur zu vergleichen ist mit dem Putsch 1980.

Diese zwei Punkte haben Auswirkungen auf viele Bereiche, vor allem auf die »kurdische Frage«.

Die Thematik der Geflüchteten aus Syrien ist davon vordergründig ebenso betroffen. Nach offiziellen Zahlen ist die Türkei ein Land, in dem über drei Millionen geflüchtete Menschen aus Syrien leben. In anderen Ländern würden angesichts dieser immensen Anzahl von Geflüchteten und der zu bewerkstelligenden Aufgaben unterschiedliche Meinungen, Ansichten und Expertisen in Betracht gezogen werden, um eine gesellschaftliche Lösung zu finden.

Aufgrund der zunehmenden Polarisierung der Politik wurde eine Annäherung auf diese Art und Weise in der Türkei nicht erwogen. Kurz vor dem Putschversuch wurde das Thema der Erteilung türkischer Staatsbürgerschaften an syrische Geflüchtete öffentlich thematisiert. Bevor jedoch dieses äußerst wichtige Thema diskutiert werden konnte, das die gesamte Bevölkerung betrifft, begann der Putsch und der Ausnahmezustand (OHAL) wurde ausgerufen. Somit wurde ein Klima geschaffen, in dem Erdoğan jeden Schritt dieser in der Öffentlichkeit diskutierten Frage ohne Beratung beschließen kann.Militäraggression der Türkei gegen Rojava/Nordsyrien | YPG Press Office September 2016

Syrische Geflüchtete in der Türkei: woher, wohin?

Von den 22,5 Millionen syrischen Staatsbürger_innen sind allein drei Millionen Flüchtlinge geworden, die nun in der Türkei ihr Leben zu führen versuchen. Laut der Katastrophen- und Notfallmanagement-Behörde (AFAD) lebten im Juli 2016 knapp 253 000 Menschen in Flüchtlingslagern. Die Behörde, die zum Beispiel im Falle eines Erdbebens das Krisenmanagement übernimmt, hat große Teile ihrer Kapazitäten seit dem Krieg in Syrien für die Flüchtlingshilfe bereitgestellt; ein Bereich, in dem sie keinerlei Erfahrung hat. Für alle 25 staatlich verwalteten Flüchtlingslager, in denen Syrer_innen leben, ist die AFAD zuständig.

Dass eine Behörde, die für Katastrophen- und Erdbebenhilfe zuständig ist, Flüchtlingshilfe in Hatay, Riha (Urfa), Dîlok (Antep), Maraş, Osmaniye, Semsûr (Adıyaman), Adana und Kilis betreibt und die alleinige Verantwortung dafür hat, ist etwas Skandalöses, das öffentlich debattiert werden müsste. Speziell in Istanbul, wo ein Erdbeben der Stärke 7 jederzeit zu erwarten ist, und in der Türkei, die in einer Erdbebenregion liegt, muss sich die AFAD jederzeit bereithalten. Auf der anderen Seite hat sie jedoch die enorm große Aufgabe der Flüchtlingsversorgung, die es unmöglich macht, sich in Bereitschaft zu halten. Des Weiteren wird die AFAD die ihr obliegenden umfassenden Aufgaben (Informationsbeschaffung, Schutzvorkehrungen, Aussprechen von Warnungen, Katastrophenschutzübungen u. v. m.) im Katastrophenfall wegen der großen Belastung nicht erfüllen können.

Und das, obwohl in der Türkei diverse Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mit Geflüchteten arbeiten, die hierbei auch im internationalen Kontext bereits Erfahrungen gesammelt haben. Als Journalistin in Ankara habe ich seit einiger Zeit Folgendes beobachtet: NGOs, die erfolgreiche Arbeit leisten, werden während der Zeit der Gesetzgebung von Politiker_innen wahrgenommen, zu anderen Zeiten jedoch nicht. Dasselbe ist auch in den Behörden zu beobachten. Geflüchtetenvereine berichten, dass ihnen manchmal Respekt entgegengebracht wird, sie aber auch immer wieder mit dem Widerstand von Beamt_innen auf der niedrigsten Ebene konfrontiert werden. Dies zeigt die Willkür. Dass es in der Türkei keine international geachtete NGO gibt, die sich mit den Rechten der Geflüchteten auseinandersetzt, birgt viele Schwierigkeiten. Vor allem wurde in der Türkei das Thema der Rechte von Geflüchteten wenig diskutiert.

In diesem Text verwende ich die Terminologie »Geflüchtete«. Meiner Meinung nach haben Syrer_innen weder den Status von »Geflüchteten« noch von »Asylbewerber_innen«. Denn Geflüchtete aus Syrien kommen über die »grüne« Grenze in die Türkei, also ohne Grenzübergänge und ohne Kontakt zu den Behörden. Während der Großteil der Menschen, die auf diesem Wege aus Syrien kommen, die Türkei als Fluchtort sieht, an dem sie Schutz vor dem Krieg suchen, verstehen andere sie als Rückzugsgebiet, um sich gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt wieder nach Syrien zu begeben. Der türkische Staat jedoch akzeptiert die Menschen nicht als Geflüchtete, sondern als Gäste, die temporär Schutz in der Türkei suchen. Die Türkei, die nicht nur aufgrund der Lage in Syrien Bekanntschaft mit dem Thema macht, sondern schon in der Vergangenheit damit konfrontiert war, schafft erst jetzt einen gesetzlichen Rahmen für diese Frage.

Die Vereinten Nationen verabschiedeten 1951 die Genfer Konvention, die 1961 auch von der Türkei unterzeichnet und ratifiziert wurde. Nach dieser Konvention, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, galten Menschen als Geflüchtete, die infolge des Krieges ihre Heimat in Europa vor 1951 verlassen hatten. 1967 wurde in einem Zusatzprotokoll die geografische und zeitliche Begrenzung für den Geflüchtetenstatus aufgehoben. Dieses Zusatzprotokoll wurde von nur wenigen Staaten nicht unterzeichnet, unter anderem der Türkei. Infolgedessen leben in der Türkei nur 40 anerkannte Flüchtlinge.

Wenn wir die Lage wohlwollend betrachten, wurden in diesem Jahr auf der Verwaltungs- sowie Gesetzesebene einige wichtige Veränderungen durchgeführt. NGOs, die sich mit dem Thema der Geflüchteten beschäftigen, haben Unterstützung in ihrer Arbeit erhalten. In derselben Phase hat die Generaldirektion Migrationsverwaltung (GİGM) in dieser Angelegenheit eine Schlüsselrolle gespielt und die Weichen für eine politische und praktische Umsetzung gestellt. In Wirklichkeit aber bekommen Geflüchtete den Status »temporär Schutzsuchende« und der Begriff »Geflüchtete« wurde gesetzlich immer noch nicht anerkannt. Dadurch können auch auf juristischer Ebene keine Rechte eingefordert oder eingeklagt werden. Erdoğan versprach Anfang Juli bei einem Treffen mit Geflüchteten nun, sie würden als Staatsbürger_innen aufgenommen werden:

»Ich weiß, dass es unter unseren Geschwistern solche gibt, welche die türkische Staatsangehörigkeit annehmen möchten. Mit dieser Thematik beschäftigt sich das Innenministerium und hat bestimmte Schritte eingeleitet. Wir werden tun, was wir können, um unseren Geschwistern dies zu ermöglichen.«

An sich ist dieses Thema äußert umstritten in der türkischen Bevölkerung. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts »Metropoll« vom April dieses Jahres hat ergeben, dass 82,9 % der Befragten gegen eine Einbürgerung der syrischen Geflüchteten sind. Lediglich 9 % waren dafür. Wenn es ein Thema gibt, bei dem sich alle Wähler_innen der verschiedenen Parteien einig sind, dann ist es dieses. Ironischerweise ist die Gruppe der Wähler_innen der Demokratischen Partei der Völker (HDP) mit 68 % Gegenstimmen diejenige, die sich am wenigsten gegen die Einbürgerung stellt.

In derselben Umfrage hat sich auch ergeben, dass 31,1 % der befragten Menschen denken, die syrischen Geflüchteten würden die Zahl der Arbeitslosen im Land weiter ansteigen lassen.

Wenn wir uns vor Augen führen, dass 20 % der Jugendlichen arbeitslos sind, ist es nicht verwunderlich, dass große Sorge in diesem Bereich besteht. Weitere 13,4 % gaben an, dass sie aufgrund der Geflüchteten ein geringeres Einkommen befürchten. Wenn wir diese beiden Werte verbinden, ergibt sich daraus, dass 45 % der Bevölkerung befürchten, ökonomisch bedroht zu werden.

Während bei den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 das Thema Wirtschaft und Arbeitslosigkeit dominierte, verschob sich dies aufgrund des wieder begonnenen Krieges nach den Wahlen hin zum Thema Sicherheit und »Terrorbekämpfung«. Während dieses Zeitraums wurde dann das Thema der Staatsangehörigkeit für Syrer_innen stark in den Vordergrund gerückt und positionierte sich zwischen den beiden zuvor meistdiskutierten und ausschlaggebendsten, somit zwischen der Wirtschaft und der Sicherheit. 71 % der Befragten stimmten der extremen Ansicht zu, Grenzen zu öffnen, um die Geflüchteten in die Europäische Union zu lassen.

Das Abkommen mit der Europäischen Union

Als im März 2016 der damalige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu mit den Vertreter_innen der Europäischen Union das Abkommen aushandelte und Visa-Erleichterungen Teil davon waren, wollte er dies im Juni verkünden. Im Mai 2016 wurde er jedoch bereits aus seinem Amt verdrängt.

Seit diesem Tag regt sich auf beiden Seiten immer mehr Widerstand. Allerdings ist das Abkommen nach wie vor nicht komplett vom Tisch. Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu verkündete, das Geflüchtetenabkommen sei für die Türkei nichtig, wenn die Visa-Erleichterungen nicht bis Oktober kämen. Die Türkei sehe sich dann nicht mehr zur Aushandlung und Umsetzung des Abkommens verpflichtet.

Kurdische Frage und syrische Geflüchtete

Im Zuge der Verhandlungen über das Abkommen verständigten sich beide Seiten darauf, dass die Menschenrechtslage in der Türkei verbessert werden solle. Doch im neunten Punkt des Abkommens erfolgte der »Vorstoß«, dass besonders die Grenzgebiete der Türkei noch sicherer werden sollten und der Transfer der örtlichen Bevölkerung und der Geflüchteten aus diesen Gebieten erfolgen solle.

Was die Türkei unter diesem »Vorstoß« verstand, zeigt sich mit den seit Monaten erträumten »Sicherheitsgebieten«. Aber es ist auch unklar, was die Vertreter_innen der Europäischen Union verstanden haben, als sie sich auf diesen Punkt einigten. Dieser Artikel des Abkommens beinhaltet neben dem Begriff »Flüchtlinge« auch sehr zu denken gebende Passagen wie »Transfer der lokalen Bevölkerung«. Wenn wir heute an den Südosten der Türkei denken, dann beunruhigt uns der Ruf nach »Austausch«. Es gibt Indizien dafür, dass in der Phase des Abschlusses des Abkommens bereits die absurden Pläne beim türkischen Staat präsent waren, die Bevölkerungsstruktur grundlegend zu verändern. Bereits im Juli 2015 gab es Gefechte zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften. Als sich jedoch im November die türkische Armee in die Auseinandersetzungen in den Städten einmischte, entwickelte sich eine bis dato beispiellose Härte bei der militärischen Intervention. In dieser Phase wurden das Weltkulturerbe Sûr – die Innenstadt von Amed (Diyarbakır) – als auch die Städte Cizîr (Cizre), Nisêbîn (Nusaybin) und Gever (Yüksekova) vom türkischen Staat unter Anwendung militärischer Gewalt dem Erdboden gleichgemacht. Im April dieses Jahres wurde der »Masterplan zur Terrorbekämpfung« durch Ahmet Davutoğlu verkündet. Im Zuge dessen wurden die zerstörten Gebiete durch den Staat enteignet und es wurde beschlossen, sie erneut zu bevölkern. Dass die vorrangig von Kurd_innen bewohnten Gebiete in der Türkei im Zuge der schweren Militäroperation vom November unbewohnbar gemacht und 500 000 Menschen zur Flucht gezwungen wurden, lässt stark vermuten, dass es eine staatliche Politik der bewussten Vertreibung ist.

Ob es sich dabei um den »Masterplan der Terrorbekämpfung« handelt oder angesichts der Gesamtsituation um die Geflüchteten aus Syrien und den Plan der Staatsangehörigkeitsübergabe, lässt starke Zweifel aufkommen. Die Neubauten in den zerstörten Gebieten, die durch das staatliche Bauunternehmen TOKI errichtet werden, sollen mit günstigen Krediten an syrisch-türkische Staatsangehörige verkauft werden. Dieses Verhalten zeigt, was für einen hinterhältigen Plan die TOKI in kurdischen Städten verfolgt.

Aber durch den Putschversuch und den anschließend verhängten Ausnahmezustand scheint eine Beruhigung unerreichbar. Aufrichtiger und ehrlicher Journalismus ist ebenso nicht mehr möglich.
In einer Situation, in der die Klarheit verloren geht, wird genauso wie die Debatte um die syrischen Geflüchteten die Wahrheit wie eine »geschlossene Schatztruhe« behandelt und die Lage noch erschwert.

Die Türkei spricht von zehn Milliarden Dollar, die sie angeblich staatlicherseits in Flüchtlingscamps und damit verknüpfte Organisationen investiert habe. In dieser Summe ist beispielsweise Weizen nicht einbezogen. Das bedeutet, dass die detaillierten Ausgaben nur ein paar bestimmte Staatsvertreter_innen kennen.

Die Syrer_innen in der Türkei, die eine breite Vertretung und Basis der AKP stellen, spielen eine wichtige Rolle bei der aktuellen kurdischen Frage. Sie haben, ebenfalls wie der Staat, einen negativen Blick auf die Kurd_innen.

In meinem Text gibt es einen wichtigen Punkt, den ich bisher nicht gut ausführen konnte: Die Menschenrechte der Syrer_innen in der Türkei. Die Kinderarbeit, die bei den syrischen Kindern in der Türkei verbreitet ist, oder die Kinder und Jugendlichen, die zwangsverheiratet werden, sind nur ein Beispiel für die Menschenrechtsverletzungen. Leider kann diese Tatsache von den Betroffenen nicht in die Öffentlichkeit getragen werden.

Es gibt ein offenes gesellschaftliches Problem: Es sollte eingestanden werden, dass auch Syrer_innen eine wichtige Säule der Gesellschaft bilden. Sie sind intelligente Menschen, gutmütig, die zur gesellschaftlichen Finanzierung und sehr bewusst zur Partizipation beitragen. Leider wird genau das Gegenteil deklariert.