Êzîden erzählen:

Sie haben sogar die Verrückten verbrannt!

Mustafa İlhan, Yeni Özgür Politika, 30.05.2016

In unserem Dorf gab es eine alte verrückte Frau. Sie hatte außerhalb des Dorfes eine kleine Hütte. Sie hat jahrelang in dieser Hütte gelebt. Sie hat auch niemanden besucht. Der IS kam und hat die Hütte mitsamt der Frau verbrannt. Sie haben sogar unsere Verrückten verbrannt, getötet!

Es ist halb acht abends. Ich komme im Flüchtlingscamp in Aachen an, um einen neuen Arbeitstag zu beginnen. Das Erste, das ins Auge fällt, sind Menschen, die aus dem Bürgerkrieg in Syrien und Irak sowie aus dem Chaos in Afghanistan geflüchtet sind ... Jeder begrüßt den Eintreffenden in seiner Sprache ...

Es sind kaum zehn Minuten vergangen, dass ich das Büro betreten habe, da kommt der êzîdische Kurde Barkat aus der Stadt Xana Sor [in Şengal/Sindschar] herein. Nach einer kurzen Begrüßung ein Tee. Auf die Frage »Was hast du heute gemacht, Barkat?« kommt dieselbe Antwort wie seit Monaten: »Was soll ich tun, habe wie immer auf die Antwort auf meinen Asylantrag gewartet.«

Ab hier beginnt die Geschichte von Barkat. Er beginnt zu erzählen, woher er kommt, wie er hergekommen ist, was er erlebt hat ...Flucht tausender Êziden vor dem sogenannten islamischen Staat

»Wir waren glücklich, nicht bedürftig«

»Bevor der Islamische Staat in unsere Stadt gekommen ist, betrieben wir Landwirtschaft und Viehzucht. Wir hatten Tomaten- und Gurkengärten und besaßen Rinder. So finanzierten wir uns. Wir waren glücklich, nicht bedürftig. Das dauerte bis zum 3. August 2014 bis fast drei Uhr nachmittags an. Der IS drang in Şengal und in unsere Stadt Xana Sor ein. Unser glückliches und harmonisches Heim verwandelte sich im Nu in Finsternis, und Hölle. Gegen uns wurde ein weiterer Ferman1 verhängt. Den haben wir gemeinsam mit unseren Kindern am 3. August 2014 erlebt.

Sie haben ermordet und vergewaltigt

Sie waren angeblich Moslems, aber sie hatten gar nichts, was an einen Menschen erinnern würde. Sie kamen und sagten unseren Jugendlichen: ›Kommt zum Glauben, wendet euch eurer wahren Religion zu, beteiligt euch an der Islamischen Armee. Wenn ihr das tut, werden wir euch nichts tun.‹

Wer das nicht akzeptierte, sich ihnen widersetzte, wurde erschossen, sie nahmen die Jugendlichen unter Zwang mit, ältere Männer und Frauen köpften sie. Sie verschleppten unsere jungen Mädchen im Alter von neun bis zwanzig. Sie verkauften unsere Töchter auf Sklavenmärkten, schlachteten unsere Babys unter Felsen, schlugen Babys noch im Schoße ihrer Mutter auf dem Boden tot, vergewaltigten unsere Frauen. Sie machten sogar kleine Mädchen im Alter von neun Jahren zu ihren Frauen. Wie gesagt, gegen unser Volk war erneut ein Ferman erlassen worden. Dieser Tag ist für uns als schwarzer Tag in die Geschichte eingegangen.«

Wir aßen Feigenblätter, saugten das Wasser aus der Erde

Barkat fährt fort mit dem Tag, an dem der IS kam: »An dem Abend, als der IS kam, verschwanden die Peschmerga. Wir rannten Richtung Şengal-Berge. Wir haben hungrig und durstig vierzehn Tage lang auf diesem Berg ausgeharrt. Wir haben uns von Feigenblättern ernährt. Unsere Kinder wurden krank, weil sie nichts zu essen und zu trinken hatten. Die Brüste unserer Frauen gaben keine Milch mehr, sie trockneten aus, so dass die Kinder nicht gestillt werden konnten. Wir haben die Kühe, die wir mitgenommen hatten, gemolken und die Milch unseren Kindern gegeben. Wir hatten nichts zum Schneiden dabei, so dass wir unsere Schafe mit geschliffenen Steinen schlachten mussten. Wir haben sie damit in Stücke geschnitten und auf Steinen gekocht und ungesalzen gegessen. Wir versuchten zu überleben.

Wie haben den Boden einen Meter tief aufgegraben, um aus der feuchten Erde das Wasser abtropfen zu lassen und anschließend trinken zu können. An unserem zwölften Tag auf dem Berg ging das Gerücht um, die Amerikaner seien in Şengal einmarschiert, andere wiederum sagten, die Peschmerga seien eingetroffen. Aber wir haben weder Amerikaner noch die Peschmerga gesehen, die uns zurückgelassen hatten. Es verging nicht viel Zeit, bis die YPG [Volksverteidigungseinheiten aus dem nordsyrischen Rojava] zu uns gelangten. Sie haben uns umarmt, sagten, dass wir nicht allein seien und dass sie gekommen seien, um uns zu helfen. Sie teilten ihr Brot und Wasser mit uns. Wir machten uns auf den Weg von den Şengal-Bergen Richtung Rojava. Die YPG hatten für uns einen Korridor freigekämpft. Während sie uns auf der einen Seite durch diesen Korridor begleiteten, lieferten sie sich auf der anderen Seite Gefechte mit dem IS. Wir waren ca. 15 000 Menschen, die auf dem Berg verstreut gewesen waren.«

»Erst als die YPG kamen, konnten wir aufatmen«

Während Barkat fortfährt, treten seine Freunde Mahmud und Samir in den Raum, ich schenke auch ihnen Tee ein, und wir hören Barkat bei seinem Bericht zu:

»Wir hatten einen Grundbesitz von 120 dönüm2. Wir wissen nicht, wer heute auf unserem Grundstück ist. Wir haben alles zurückgelassen. Wir hatten mit großer Mühe unser Haus gebaut. Grundstück, Tiere ... Alles haben wir dort zurückgelassen.

Bevor der IS in Şengal einfiel, hatten die Peschmerga Waffen aus Deutschland bekommen. Sie gaben uns stattdessen ihre alten Waffen. Viele funktionierten gar nicht richtig. Das machten sie nur, weil wir Êzîden sind. Als der IS kam, suchten sie nach einem Loch, in das sie flüchten konnten, und haben uns verraten. Als wir in die Berge flüchteten, war niemand bei uns. Erst als die YPG kamen, konnten wir aufatmen. Wir haben weder die USA noch Russen noch die Peschmerga gesehen. Was wir gehen haben, waren die YPG-Kämpfer, die uns auf dem Şengal-Berg umarmten.«

Haben wir geköpft, haben wir gestohlen?

An dieser Stelle fällt ihm Mahmud ins Wort. Seine Augen sprühen Funken: »Angeblich sind sie Moslems. Sie sagen, dass die Êzîden Ungläubige seien; wem haben wir etwas getan? Haben wir je einen Menschen enthauptet, misshandeln wir unsere Tiere, stehlen wir, vergewaltigen wir? Nichts davon. Wir weichen aus, wenn wir am Boden eine Ameise sehen, um sie nicht zu töten. Ich will euch etwas fragen. Warum treffen die Fermane immer uns?

Mein Nachbar war ein arabischer Moslem, kein Tag, ohne dass er mich besuchen kam, vielleicht hat er tausendmal mein Essen gegessen, von meinem Tee getrunken. Als der IS in Şengal und Xana Sor einfiel, fingen sie auch an, uns zu quälen. Wenn wir doch Ungläubige waren, warum habt ihr bis zu dem Tag unser Essen gegessen, unser Wasser getrunken? Was war passiert, dass die Menschen, denen wir unser Brot und Wasser gaben, auf einmal unser Leben wollten?

Wir hatten weder die PKK noch die YPG oder Peschmerga unterstützt. Als der IS unsere Gebiete besetzte, flüchteten die Peschmerga und ließen uns schutzlos zurück. Wir flüchteten auf die Şengal-Berge. Wir hungerten, wir dursteten, bis die YPG zu uns vordrangen, uns umarmten und uns schützten. Sie gaben uns Brot und Wasser, sie brachten uns nach Rojava.«

Wir haben die wahren Freunde und Feinde gesehen

Nun ergreift Samir das Wort: »Wir haben dort gesehen, wer unsere wahren Freunde und Feinde sind. Wir hatten vorher viel von Apo gehört, ihn im Fernsehen gesehen. Mit dem Eintreffen der YPG haben wir unsere Sicherheit gewonnen und begriffen: Wenn ein Volk ohne Führung ist, ist es schwierig, eine Einheit unter diesem Volk herzustellen. Wir kannten die YPG und PKK zuvor nicht besonders. Wir verstehen Apos Einschätzungen von uns Êzîden jetzt besser. Wir sind ein Volk von annähernd einer Million, aber über die ganze Welt verteilt. Wir hatten einen kleinen Landstreifen, der wurde auch geplündert. Wenn es auf dieser Welt eine Führung für uns geben sollte, dann sind es Apo und seine Bewegung.«

Auch ein dreijähriges Kind ruft »bijî Apo, bijî YPG!«

Barkat beginnt erneut, er erzählt lange und ausführlich: »Wir können das nicht bestreiten, was die YPG gemacht haben. Während wir auf dem Şengal mit dem Tod kämpften, unsere Kinder, Frauen vergewaltigt wurden, war unser Mele [religiöser Gelehrter] hier und ließ es sich gut gehen. Als wir fragten, wo unsere Meles sind, hieß es ›er ist krank, er wird in Deutschland behandelt‹. So kann eine Führung nicht aussehen, die Welt ist Zeuge, uns haben die YPG und PKK gerettet. Heute rufen in Şengal Menschen zwischen drei und siebzig Jahren ›bijî Apo, bijî YPG!‹ [»Hoch/Es lebe Apo, ... die YPG«]

»Die Welt war blind und taub«

Die Welt war blind und taub gegenüber dem Ferman, dem wir ausgesetzt waren. Ich kann nicht vergessen, was wir erlebt und gesehen haben. So geht mir das Bild von der toten Frau und ihrem Kind auf dem Şengal-Berg, wie sie auf dem Boden liegt, nicht aus dem Kopf. Die Frau war tot, aber ihr fünf oder sechs Monate altes Baby lebte noch und saugte an der Brust seiner toten Mutter. Wir sind Zeugen davon. Außer uns hat niemand diese Bilder gesehen und erlebt. Die Welt war blind, die Menschheit taub.

Meine Nichte war in ihrer Gefangenschaft

Meine 19-jährige Nichte war drei Monate lang in der Gefangenschaft des IS, jetzt lebt sie in Hannover. Der IS hat unsere Mädchen aus Şengal entführt, zuerst nach Til Afer, dann Musil [Mossul] und später Raqqa. Sie konnte fliehen und sich retten. Sie wurde monatelang psychologisch behandelt, sie musste Beruhigungsmittel nehmen. Mein Vater sagte vor vier Jahren zu uns: ›Baut kein Haus, eure Mühe wird zunichtegemacht werden, ein weiterer Ferman wird uns Êzîden heimsuchen.‹ Mein Bruder und ich dachten, mein Vater tickt nicht mehr ganz richtig. Wir lachten über ihn. Er hat es vorhergesehen. Ein weiterer schrecklicher Ferman hat uns heimgesucht, uns von unserem Land, unserer Erde und unseren Familien getrennt. Wir haben ein großes Grundstück, wir hatten ein Haus, jetzt leben wir mit sechs Personen in einem Zwanzigquadratmeterraum in einem Flüchtlingscamp.«

Was benötigen die Êzîden?

In einem Moment, als niemand spricht und keine Frage gestellt wird, sagt Mahmud: »Wir brauchen Waffen, Land und Staat. Ansonsten werden uns neue Gräueltaten, neue Massaker treffen und wir werden vernichtet werden.«

Barkat widerspricht und beginnt erneut zu sprechen: »Nein, wir brauchen in erster Linie keine Waffen, sondern eine Führung. Eine Führung, die alle Kurden vereint. Ohne eine Einheit der Kurden – welche Bedeutung hätten da Waffen? Wir sind von Feinden umzingelt, sie würden erneut Fermane ausführen. Können Êzîden allein auf sich gestellt sich davon befreien?

In unserem Dorf gab es eine alte verrückte Frau. Sie hatte außerhalb des Dorfes eine kleine Hütte. Sie hat jahrelang in dieser Hütte gelebt. Sie hat auch niemanden besucht. Der IS kam und hat die Hütte mitsamt der Frau verbrannt. Sie haben sogar unsere Verrückten verbrannt, getötet. Wir benötigen in erster Linie eine Einheit, eine stabile Führung.

Wir dachten, Barzanî wäre unsere Führung, aber wir haben uns geirrt ...

Bis zum letzten Ferman dachten wir, unser Vorsitzender sei Barzanî. Wir haben uns geirrt. Er hat uns nicht geschützt, er ist uns in den Rücken gefallen. Als er gehört hat, dass der IS eingefallen ist, hat er uns fallenlassen. Jetzt behauptet er, sie hätten uns Êzîden gerettet. Die Welt ist Zeuge, dass wir von den YPG gerettet wurden. Solange ich lebe, werde ich das nicht vergessen. Kein Êzîde sollte das je vergessen.«

»Ohne Einheit der Kurden ...«

Samir ergreift erneut das Wort; er fängt an zu sprechen, als wolle er einen Zwischenweg finden, zwischen den unterschiedlichen Sichtweisen Barkats und Mahmuds schlichten: »Wir brauchen sowohl eine richtige Führung als auch einen Staat. Wir brauchen Selbstverwaltung. Glaubt mir, wenn morgen der IS in Peschmerga-Gebiete eindringen sollte, würden diese Peschmarga auch Kurden im Stich lassen. Aber Apo wird im Volk als die wahre Führung betrachtet.«

Mahmud scheint mit diesem Zwischenweg einverstanden zu sein: »Wir Êzîden sind wie eine Herde ohne Schäfer. Sogar unsere Meles haben uns verlassen und sind nach Europa geflüchtet. Wir wissen, dass wir mit unserer Bevölkerungszahl nicht die Welt werden beherrschen können, aber wir benötigen ein Territorium, auf dem wir uns selbst verwalten und regieren.«

Das letze Wort ergreift erneut Barkat: »Ohne die Einheit der Kurden kann kein Kurdistan gegründet werden. Und ohne das werden die Êzîden auf dieser Erde keinen Platz finden ...«


Fußnoten:

1 Ferman (auch Firman): Erlass/Dekret/Vollmacht/Verordnung eines Souveräns in islamischen Ländern; die Glaubensgemeinschaft der Êzîden spricht von 72 Fermanen –Völkermorden –, denen sie in ihrer langen Geschichte bis August 2014 ausgesetzt gewesen waren.

2 Flächenmaß in der Größe von ca. 8–10 Ar (je nach Region), allerdings auch schon mal weit abweichend.