Unterwegs in Nordkurdistan

»... alles sei in Ordnung und wir sollten uns keine Sorgen machen«

Ein Reisebericht von Hinrich Schultze

Hinrich Schultze ist ein Hamburger Fotograf. Im März/April war er längere Zeit in Nordkurdistan unterwegs. Bilder von seinem Aufenthalt findet ihr in dieser Ausgabe. Weitere Fotografien u. a. aus Lateinamerika, Griechenland, aus St. Pauli oder über den Widerstand gegen die Atomindustrie findet ihr hier: http://www.dokumentarfoto.de

15.03.2016 | Wieder sind die ganze Nacht über Schüsse und schwere Explosionen zu hören. Irgendwann muss ich mal schlafen, aber wie kann man ruhig schlafen, wenn wenige hundert Meter entfernt Menschen sterben müssen.

Cizîr: Das Stadtviertel Cudi ist fast vollständig zerstört | Foto: H. SchultzeAm Morgen steht fest, der Gefechtslärm kam nicht aus der Altstadt sondern aus dem Stadtteil Bağlar. Dort ist eine neue Ausgangssperre verhängt worden. Der Stadtteil ist umstellt, noch immer sind Schüsse zu hören. Es brennt, Rauchsäulen stehen am Himmel. Vor dem Gästehaus der Stadtverwaltung haben sich einige Jugendliche in Solidarität mit den eingeschlossenen Menschen in Bağlar versammelt. Schon nach wenigen Minuten hält ein schwarzes Panzerfahrzeug auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Aus dem Fahrzeuginneren und aus dem Geschützturm heraus werden die Jugendlichen mit Tränengasgranaten beschossen und auseinandergetrieben. Während ich etwas abseits an eine Fassadensäule gelehnt die Situation filme, sehe ich, wie sich der Beamte im Geschützturm in meine Richtung wendet. Auf dem Video ist das Mündungsfeuer zu sehen, 0,2 Sekunden später zündet die Tränengasladung mit einem gelben Feuerschein, eine kleine Rauchwolke verlässt den Geschützturm und nach 1,3 Sekunden knallt das Projektil neben meinen Kopf gegen die Säule. Bei einer Entfernung von 70 Metern ergibt sich eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 194 Stundenkilometern.

Immer wieder kommt es durch den Einsatz von Tränengasgranaten zu schweren, bisweilen tödlichen Verletzungen.

Da ich anscheinend so aussehe, als würde ich mich nicht richtig auskennen, erklärt mir einer der jungen Leute was man zum Überleben in ähnlichen Situationen wissen muss:

Schwarze Panzerfahrzeuge sind ungefährlich. Sie verschießen nur Tränengasgranaten.

Weiße Fahrzeuge sind gefährlich. Aus ihnen wird mit scharfer Munition geschossen.

Große Landrover sind noch gefährlicher. Sie sind zusätzlich mit einem schweren Maschinengewehr ausgestattet, damit werden große Löcher in Häuserwände geschossen.

Wenn man einem Polizisten oder Soldaten begegnet, muss man so tun, als sei er gar nicht vorhanden. Wenn man ihm versehentlich in die Augen schaut, ist die Gefahr groß, dass man sofort verhaftet wird.

Auf keinen Fall Atemfilter oder Gasschutzbrille verwenden. Damit werde ich zum Magnet für Kugeln aus allen Himmelsrichtungen. Für Polizei und Militär gelte ich automatisch als aktiver Kämpfer und begebe mich in schwere Lebensgefahr. Bei den Freunden von der anderen Seite mache ich mich als getarnter Zivilpolizist verdächtig.

19.03.2016 | Freitag waren wir zur Newroz-Feier in Êlih (Batman).

Das Fest war verboten, es kamen nur so viele wie bei einer Durchschnittsdemo in Hamburg.

Viele haben hier Angst und sagen, dieses Mal würden sie nicht teilnehmen.

Die Feier wurde immer wieder durch Wasserwerfer und mit unterschiedlichen Tränengasgeschossen angegriffen, die Menschen durch Zivilpolizei und Robocops eingeschüchtert.

Der durch die Kämpfe zerstörte Teil Sûrs ist noch immer hermetisch abgeriegelt.

Weiße Planen verbergen den Blick ins Innere des Viertels.

Die Mütter der Verschwundenen bemühen sich bisher vergebens, in dem aus der Stadt heraustransportierten Bauschutt nach den Überresten ihrer Verwandten suchen zu dürfen.

Einige der in den Kellern eingeschlossenen Menschen waren wahrscheinlich durch den Einsatz von Planierraupen verschüttet worden.

Morgens hatten sie sich noch per Handy gemeldet und um Hilfe gerufen, weil die Planierraupen immer näher kamen. Abends wurden dann wieder »deaktivierte«, also tote Terroristen präsentiert (rendered ineffective).

21.03.2016 | Gestern wollten wir zur Newroz-Feier nach Cizîr (Cizre).

50 Kilometer vor der Stadt ging es nicht mehr weiter. 25 Soldaten mit Heckler&Koch-G3-Gewehren versperrten die Straße und verursachten einen 5 Kilometer langen Verkehrsstau. Von den Seiten richteten 8 Maschinengewehrschützen die Mündungen ihrer Waffen auf uns. So ist leider kein Durchkommen.

Die Newroz-Feier in Amed (Diyarbakır) konnte wie geplant stattfinden.

Frühmorgens waren noch einige verunsichert, aber gegen Mittag sprach es sich wohl herum, dass es ein schönes Fest werden würde.

Es kamen fast so viele wie in den letzten Jahren.

Die Menschen, die monatelang nur den staatlichen Terror durchlebt hatten, konnten endlich einmal bei sonnigem Wetter für wenige Stunden neue Kraft tanken.

24.03.2016 | Nach einem Stadtbummel werde ich schon wieder angehalten. Ich habe ein verbotenes Foto gemacht. Der Zivilpolizist erklärt mir, dass auf einem meiner Bilder im Hintergrund ein Haus zu sehen sei, in welchem ein Polizist wohnt. Und dass man Polizisten oder Häuser von Polizisten nicht fotografieren darf. Da dieser Staat voller Polizisten ist, kann man eigentlich das Fotografieren komplett einstellen. Weil immer irgendwo ein Polizist wohnt. Oder ein Polizist herumsteht. Erschwerend kommt hinzu, dass man überhaupt nicht weiß, ob man einen Polizisten fotografiert hat oder nicht. Weil, es handelt sich um Geheimpolizisten, die man gar nicht erkennen kann oder soll. Und damit nicht genug. Im Fernsehen wurde gestern verkündet, dass noch 15 000 neue Geheimpolizisten zur Gefahrenabwehr zusätzlich eingestellt werden sollen.

26.03.2016 | Ich denke, es sei doch mal an der Zeit, dass mal ein Tag ohne negative Nachrichten vergeht. Aber dieser Staat hält täglich neue boshafte Überraschungen parat.

Ich versuche noch immer in die teilweise zerstörte Stadt Cizîr zu kommen. Online wird die Nachricht verbreitet, eine Amnesty-Delegation sei gestern in Cizîr festgenommen worden und einige Mitglieder seien auf Grund der Behandlung durch die Polizei in Tränen ausgebrochen.

Auch eine Delegation aus Spanien wurde am Rande der Stadt von der Polizei aufgehalten. Nach mehreren Stunden Verhör wurden sie aufgefordert, ein Taxi für 100 Euro zu buchen und in die nächstgelegene Stadt zurückzufahren. Da sie nicht genügend Geld dabeihatten, wurden sie während der inzwischen begonnenen Ausgangssperre in der Nähe eines Hotels abgesetzt. Die Wahrscheinlichkeit, ohne Vorwarnung erschossen zu werden, wenn man während der Ausgangssperre von der Polizei angetroffen wird, ist hierzulande sehr hoch. Tatsächlich berichteten die Teilnehmer, dass sie von Polizisten auf dem Weg zum Hotel bedroht worden seien, sie hätten ihre Waffen entsichert und anschließend auf sie gerichtet.

Auch politische Ämter sind hierzulande kein Schutz. Der Parteivorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, wurde heute nach Angaben von Nachrichtenagenturen zusammen mit seinen Delegierten in Cizîr von der Polizei angegriffen.

27.03.2016 | Heute war ich mit meinem mexikanischen Freund G. in Bağlar, um auf einem der schönsten Gemüsemärkte der Stadt Tomaten einzukaufen. Nachdem wir uns anschließend in einem netten Café einen Ayran bestellt hatten, füllten sechs schwer bewaffnete Herren das kleine Lokal. Einer der finster blickenden Uniformträger legte seine Kalaschnikov zu dem Ayran auf unseren Tisch und verlangte die Ausweispapiere. Während ein anderes Mitglied der Truppe immer wieder erklärte, es gäbe keine Probleme, alles sei in Ordnung und wir sollten uns keine Sorgen machen, durchsuchte der böse blickende Herr den Inhalt unser Hosentaschen, fotografierte diesen und begutachtete die Fotos, die ich mit meiner Kamera auf dem Gemüsemarkt gemacht hatte. Sein Gesicht machte einen immer zornigeren Eindruck, als er erklärte, er habe bei mir Verbindungen zu einer terroristischen Partei festgestellt (die im türkischen Parlament vertretene legale HDP), meine Kamera sei terroristisch, weil auf einem der Fotos im Hintergrund ein staatsfeindliches Graffiti zu sehen sei, und somit würde ich ganz schön tief in der Sch###se stecken und könne alle Hoffnung fahrenlassen, weil ich somit ebenfalls ein Terrorist sei. Nachdem der gute Polizist ein weiteres Mal bestätigt hatte, dass alles in Ordnung sei und wir uns keine Sorgen machen müssten, wurde ich aufgefordert, das Passwort für mein Handy herauszurücken. Daraufhin verwendete ich die Worte Informantenschutz, Zeugnisverweigerungsrecht und Demokratie und erklärte, dass er das Passwort von mir nicht bekomme. Er machte einen noch zornigeren Eindruck, boxte mich in die Seite und drückte mich gegen die Wand des kleinen Cafês. Bei jeder weiteren Verwendung des Wortes »Demokratie« bekam ich einen weiteren Stoß in die Rippen. Es war nicht sehr schmerzhaft. Es schien so, als wolle er mir nur bedeuten, er könne auch ganz anders zuschlagen. Wir schauten uns dann noch eine Weile gegenseitig grimmig an, bis der freundliche Polizist ein weiteres Mal erschien, nochmal erklärte, es sei alles in Ordnung, uns die Ausweispapiere zurückgab und sich verabschiedete.

Die ganze Aktion hatte eine Stunde gedauert. Und ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, ob der eine Herr wirklich so zornig war, wie er aussah, und ob der andere wirklich so nett und freundlich war, wie er tat. Oder ob es nicht vielleicht genau umgekehrt war? Es machte den Eindruck eines bizarren Theaterstücks, an dem wir unfreiwillig teilnehmen durften. Wir konnten es relativ gelassen über uns ergehen lassen. Aber es war deutlich zu bemerken: Die Handlung war Routine. Sie hatten dieses Spiel schon sehr oft gespielt. Und für Menschen ohne deutschen Pass ist dieses Spiel blutiger Ernst.

31.03.2016 | Heute wurde ich von einem jungen kurdischen Studenten angesprochen.

Er hatte schon lange auf den Tag gewartet, an dem er endlich mal mit einem deutschen Touristen diskutieren konnte. Leider war ich bei den Themen Heidegger, Kant, Nietzsche, Hegel, Wittgenstein und Schopenhauer kein gleichwertiger Gesprächspartner.

01.04.2016 | Heute hat der türkische Ministerpräsident Davutoğlu wieder die Altstadt von Amed besucht. Seit seiner Kindheit ist er ein Liebhaber der kurdischen Kultur, wie er betont. Er hat etwas Besonderes für die wenigen geladenen Gäste in der alten Hasan-Paşa-Hanı-Karawanserei mitgebracht. In einer Videoanimation präsentiert er die Zukunft der 5 000 Jahre alten Stadt. Im Fernsehen wird der Film anschließend immer wieder wiederholt. Die Bewohner der Stadt Amed erkennen ihre eigene Stadt nicht wieder. Die engen Gassen, ihre Häuser sind verschwunden. Zu sehen sind breite Alleen, Springbrunnen, Luftballons, neue Moscheen, zwitschernde Vögel, schöne neue Häuser mit eleganten Menschen, Touristen mit Stadtplänen in der Hand.

Tatsächlich hat Präsident Erdoğan verkündet, dass alle Bewohner der Altstadt enteignet werden sollen; Platz machen für Andenkenläden, Moscheen und neue Polizeistationen.

02.04.2016 | Wir versuchen die Stadt Cizîr zu erreichen. Der Fahrer muss mehrere Umwege fahren. Die Passage durch die Städte Nisêbîn (Nusaybin) und Hezex (Idil) ist wegen der dort stattfindenden Kämpfe gesperrt. Vor Cizîr führt die Reise an der türkisch-syrischen Grenze entlang. Stacheldraht, Minenfelder und Wachtürme trennen seit Jahrzehnten die Menschen auf beiden Seiten der Grenze. Jetzt windet sich zusätzlich wie ein riesiger weißer Wurm eine neue Betonmauer durch die Hügelketten. Trennt die Kurden im Norden von denen in Syrien und perfektioniert die Isolation der Menschen in der Selbstverwaltungsregion in Rojava. Sind das die 6 000 000 000 Euro Hilfsgelder aus Europa, die hier verbaut werden?

03.04.2016 | Wir haben es nach Cizîr geschafft.

Nach einem mehrmonatigen Beschuss durch das Militär sind weite Teile der Stadt verwüstet. 50 000 Menschen mussten in den vergangenen Monaten auf Grund der Ausgangssperre ihre Häuser verlassen. Hunderte starben in den Trümmern.

Wer zurückkehren konnte, fand die Wohnungen zerschossen, geplündert, enteignet oder gar nicht mehr vorhanden vor. Der Park, in dem wir all die Jahre unseren Tee getrunken hatten, ist von der Polizei besetzt. Das Drei-Sterne-Grand-Hotel daneben teilweise abgebrannt, Seitenwände herausgeschossen. Die gegenüberliegende Straßenseite ist abgesperrt. Schwer bewaffnete Militärs führen eine Razzia durch. Doch niemand schaut hin.

»Wir können nichts machen, wenn neben uns jemand verhaftet wird, wenn sie die Häuser beschießen, wenn die Kampfflugzeuge mit der tödlichen Last über unsere Köpfe hinwegdonnern«, flüstert einer der Passanten. »Unsere einzige Hoffnung sind die Kämpfer in den Bergen. Nur sie können noch etwas ausrichten. Ohne sie wäre es alles noch viel schlimmer.«

Die Ausgangssperre ist inzwischen gelockert worden, die aktuellen Kämpfe sind vorbei, aber regelmäßig kommt es hier noch zu schweren Explosionen durch Blindgänger. Heute sind dabei zwei Kinder gestorben.

Das Elend, welches der Staat verursacht hat, versuchen die Menschen in Eigenregie zu lindern. In den weniger vom Beschuss betroffenen Nachbarschaften rücken die Menschen zusammen, um Platz für die Vertriebenen zu machen. Die größte Not versucht die privat organisierte Rojava Solidarity and Aid Association abzufangen: 10 000 Menschen, die Haus oder Familienmitglieder in den Kämpfen verloren haben, werden mit gespendeten Lebensmitteln unterstützt. Ihre freiwilligen Baubrigaden versuchen die gröbsten Schäden an den Häusern zu reparieren.

Da die Not größer ist als die vorhandenen Ressourcen, sind Geldspenden gerne gesehen. Auch aktive Mitarbeit beim Verteilen der Hilfsgüter sowie medizinische und handwerkliche Unterstützung vor Ort ist möglich.

Infos: http://www.rojavadernegi.com