Die seit 21 Jahren währende Suche der »Samstagsmütter« nach ihren verschwundenen Angehörigen

Die Verweigerung des Vergessens in Zeiten verordneter Amnesie

Ali Çiçek, Journalist

Samstagsmütter in IstanbulAnlässlich der Jahrtausendwende nahm der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano das »niemals proklamierte Recht zu phantasieren« in Anspruch und richtete seinen Blick auf eine andere, eine gerechte Welt. Eine Welt, »in der in Argentinien die Verrückten von der Plaza de Mayo ein Vorbild für geistige Gesundheit sein werden, weil sie sich weigern zu vergessen in den Zeiten der verordneten Amnesie«. Diese von Galeano als verrückt Bezeichneten sind argentinische Mütter, deren Töchter und Söhne unter der faschistischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 entführt, gefoltert, ermordet wurden und letztlich unter ungeklärten Umständen »verschwanden«. Seit dem 30. April 1977 halten die »Mütter des Platzes der Mairevolution« einmal wöchentlich am Donnerstagnachmittag eine Protestkundgebung ab auf dem zentralen Platz in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires.

So wie fast der gesamte lateinamerikanische Kontinent in den 1970er und 1980er Jahren von durch die USA direkt unterstützten faschistischen Militärinterventionen und -putschen gekennzeichnet war, lassen sich auch in der Türkei und in Nordkurdistan bei einer Betrachtung der letzten fünfzig Jahre systematische Menschenrechtsverletzungen und -verbrechen feststellen. In diesem Kontext sind insbesondere zwei historische Momente von Bedeutung: der Militärputsch vom 12. September 1980 und der von Seiten des türkischen Staates praktizierte »schmutzige Krieg« angesichts der zunehmenden Verankerung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der kurdischen Gesellschaft in den 1990er Jahren.

Das gewaltsame Verschwindenlassen politischer Gegner

Mit dem Ziel einer Restaurierung des kemalistischen Regimes und eines Übergangs in die neoliberale Ordnung hat im Jahr 1980 das türkische Militär den Staatsapparat an sich gerissen und insbesondere gegen die linke Bewegung eine Repressions- und Folterwelle eingeleitet. In dieser Phase wurden tausende Menschen entführt, gefoltert und anschließend ermordet. Die meisten Leichname gelten bis heute als verloren und »verschwunden«. In den Jahren 1980–84, in denen die Türkei de facto von der Militärjunta verwaltet wurde, hat sich der Staat des Terrors und der Gewalt bedient, um eine fügsame, apolitische Gesellschaft zu gestalten. Zu dieser Zeit hat die kurdische Bewegung einen bewaffneten Widerstand begonnen, der in den 1990er Jahren die Unterstützung von Millionen Menschen fand. Insbesondere in den Hochzeiten des schmutzigen Krieges zwischen 1991 und 1996 ließ man tausende Kurdinnen und Kurden unter dem Vorwand der Sympathie mit der kurdischen Bewegung oder der Mitgliedschaft »verschwinden«.

Jede Woche die Geschichte eines Verschwundenen

Mit dem Fortdauern der Menschenrechtsverletzungen und der Entführung von Menschen am helllichten Tag nahmen auch die Stimmen aus der Zivilgesellschaft gegen diese Praktiken zu.
Eine dieser Stimmen war diejenige der anfangs so genannten »Samstagsmenschen«, mehrheitlich Frauen. Die Anwesenheit der Mütter, die nach dem Schicksal ihrer Kinder fragten, führte letztlich dazu, dass an diese Gruppe als »Samstagsmütter« gedacht wurde. Es war kaum vorhersehbar, in welchem Maße in einem politischen Regime, das auf Gewalt und kollektiven Rechtsverletzungen basierte, mit demokratischen Aktionen politische Wirkung zu erzielen sei und Widerhall in der Gesellschaft finden würde. Trotzdem sind am 27. Mai 1995 Familien, die ihre Angehörigen verloren hatten, und Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler am Istanbuler Galatasaray-Platz zusammengekommen und haben eine Gedenkkundgebung abgehalten.

Die Schriftstellerin und Menschenrechtlerin Ayşe Günaysu berichtet über den Beginn des Zusammentreffens: »Als Hasan verschwand, hat die Ocak-Familie mit einer bis dahin unvergleichlichen Entschiedenheit protestiert. Alle Familienmitglieder und die Mutter haben das System buchstäblich wie Tiger angegriffen. Der Vater Ocak eröffnete das Pressetreffen mit den Worten ›Willkommen zur Hochzeit meines Sohnes‹. Die Mutter Nadire erzählte auf dem Pressetreffen so schockiert über das Erlebte, dass niemand seine Tränen zurückhalten konnte. ›Setzen wir uns jeden Samstag zur selben Zeit auf dem Galatasaray-Platz schweigend hin‹, haben wir uns gesagt. Ich erinnere mich nicht genau, wessen Idee es war; vielleicht von Nadire, vielleicht von jedem ein Teil. Eine/r sagte ›lasst uns setzen‹, jemand anderes ›in Galatasaray‹, ›jede Woche‹ und jemand anderes ›schweigend‹. Lautlos, schweigend war unser Prinzip. Nachdem wir eine halbe Stunde gesessen hatten, wurde eine Presseerklärung verlesen. Eines unserer wichtigsten Prinzipien war Unabhängigkeit. Es sollte kein Plakat oder Emblem einer Partei da sein. Keine Parolen sollten gerufen werden. Jede Woche sollte die Geschichte eines Verschwundenen erzählt werden. Ich sehe immer noch die Gesichter von Vater Ocak, Emine Ocak, Hüseyin Ocak und Maside Ocak vor mir, wie sie jeden Samstag bei uns saßen. Die Istanbul-Sektion des Menschenrechtsvereins IHD war von Beginn an an unserer Seite. Die Vereinsfunktionäre, Mitglieder und Aktivisten haben an den Zusammentreffen teilgenommen. Wir haben uns den Namen Samstagsmütter nicht selbst gegeben. Denn es gab nicht nur Mütter. Es gab männliche wie weibliche Angehörige von Verschwundenen. Doch den Menschen, die auf dem Platz saßen, wurde der Name ›Samstagsmütter‹ gegeben und die Öffentlichkeit wurde durch die Bezeichnung ›Mutter‹ emotional ergriffen und hat diesen Namen letztlich angenommen.«

Für ein kollektives historisches Gedächtnis

Wie die »Mütter des Platzes der Mairevolution« haben auch die Samstagsmütter, die jeden Samstag bei ihrer Sitzaktion die Porträts ihrer Angehörigen in ihren Händen halten, zwei Hauptforderungen: erstens die Forderung nach vertrauenswürdigen und klaren Informationen über das, was dem Opfer widerfahren ist. Das bedeutet auf der einen Seite die Forderung nach der Rückgabe ihrer Kinder vom Staat – tot oder lebend – und auf der anderen Seite wird versucht, diese Menschenrechtsverletzungen im kollektiven Gedächtnis lebendig zu halten. Die zweite Forderung betrifft die Feststellung der Täter und die Einleitung eines Prozesses, in dem die Staatspolitik und die unbestraften Täter bestraft werden sollen. Diese Verweigerung des Vergessens durch die Samstagsmütter ist nicht auf Istanbul begrenzt geblieben, sondern hat sich auch auf Städte mit den höchsten »Verschwundenen-Raten« wie Amed (Diyarbakır) und Şirnex (Şırnak) ausgebreitet.

Die am längsten andauernde Aktion zivilen Ungehorsams in der Türkei

Die am längsten andauernde Aktion zivilen Ungehorsams in der Türkei begann am 27. Mai 1995 mit der Sitzaktion der Familie und der Rechtsvertreter des durch Folter ermordeten Lehrers Hasan Ocak auf dem Galatasaray-Platz. Der Familie von Hasan Ocak schloss sich dann die Familie von Rıdvan Karakoç an, dessen Leichnam die Familie erhielt, nachdem er für einige Zeit verschwunden gewesen und zu Tode gefoltert worden war. Die beim ersten Zusammentreffen dreißig Menschen zählende Gruppe wuchs mit jeder folgenden Woche. Später sollten sich Tausende am Galatasaray-Platz versammeln. Die Presse gab der Gruppe, die jeden Samstag auf dem Platz eine Sitzaktion durchführte, den Namen »Samstagsmütter«. Die Gruppe nahm den Namen an und begann sich selbst Samstagsmütter zu nennen.

Die folgenden Entwicklungen beschreibt wieder Ayşe Günaysu: »In den Augen der Öffentlichkeit war für uns Glaubwürdigkeit sehr wichtig. Wir forderten wirklich nur Rechenschaft für die nach der Festnahme verschwundenen Menschen; wir versuchten zu erklären, dass es sich um so schwere Menschenrechtsverletzungen handelt, die sich nicht für politische Zwecke instrumentalisieren ließen. Dann begann der Angriff der Polizei. Die Intervention wurde gestoppt, als das Lied von Sezen Aksu, das sie der Aktion widmete, im Fernsehen ausgestrahlt wurde. In dieser Zeit parkte der Bus des Polizeipräsidiums genau neben uns und machte laute Ansagen. Sie erklärten, dass es so etwas wie ›Verschwindenlassen‹ nicht gebe, dass die Verschwundenen sich illegalen Gruppen angeschlossen hätten, dass der Staat mit den Familien der Verschwundenen in Kontakt stehe; sie riefen dazu auf, mit dem Staat zu kooperieren. Aber später begann die Gewalt. Jede Woche gab es gewalttätige Festnahmen. Sie zogen so viele Polizisten für kaum eine Handvoll Menschen zusammen, die nicht einmal Parolen riefen; es war eine lächerliche und surreale Szene.«

Die Samstagsmütter mussten nicht lange auf Repressionen von Seiten des Staates warten. Im August 1998 begann die Polizei, das Zusammentreffen mit Knüppeln und Tränengas anzugreifen. Diese Angriffe endeten mit Festnahmen und die Angehörigen der Verschwundenen mussten oft eine Samstagnacht auf der Polizeiwache verbringen. Eine der ersten Aktivistinnen war die Frauenrechtlerin Nimet Tanrıkulu. Sie erinnert sich an die beschriebenen Jahre: »Die ersten vier Jahre war mit 200 Wochen unsere am längsten dauernde Aktion. Es gab tausende Namen [von Verschwundenen], die wir gesammelt hatten. Das Verschwindenlassen eines Menschen in einer unter Belagerung stehenden gedächtnislosen Gesellschaft ist der letzte Punkt, der in der Foltergeschichte erreicht werden kann. Mit dem Wissen, dass unser Erlebtes nicht nur auf unser heutiges Leben begrenzt ist, war ein wahrhaftes Zeugnis notwendig angesichts des Versuchs, eine gedächtnislose Gesellschaft zu schaffen, sowie eine Verfolgung der zurückgelassenen Spuren, damit unsere Verschwundenen nicht für immer verschwunden sind und wir uns mit all den Geschehnissen konfrontieren, um Menschen zu bleiben. Die Samstagsmütter waren in gewisser Weise Zeugen. Die schwere und schmerzvolle Seite von Zeugenschaft ist, dass beim Erzählen des Erlebten das Herz alles tausendfach wieder fühlt. Wir haben die Folter, die wir beim Militärputsch am 12. September erlebten, als ›grauenhaftes Menschenverbrechen‹ bewertet. Doch der Schmerz, den wir fühlten, als wir aus dem Gefängnis kamen und erfuhren, dass unsere Freunde, mit denen wir gemeinsam gefoltert worden waren, getötet oder auch in die Liste der Verschwundenen aufgenommen worden waren, war unbeschreiblich. Auch wenn es schwer ist, von der Tragödie des Verschwindenlassens zu erzählen, musste man angesichts der Nichterinnerung der erlebten Grausamkeit immer wieder davon erzählen, um das Vergessen zu verhindern.«

»Ein Teil dieser Frauen sind heute ganz andere Frauen geworden«

Nimet Tanrıkulu berichtet über die Annäherungsweise des Staates in den ersten Jahren der Aktion: »Wir waren nicht viele. (...) Wir wurden bei den Sitzaktionen der Samstagsmütter jeden Samstag um zwölf Uhr von Neuem mit Knüppeln angegriffen, festgenommen und verhaftet. Ich erinnere mich nicht einmal mehr, wie oft ich festgenommen wurde. Auch an die Zahl der Verfahren kann ich mich nicht erinnern. (...) Auch wenn anfangs von den ›Samstagsmenschen‹ gesprochen wurde, waren es Frauen, die aufgrund ihrer Identität als Mutter politisch aktiv wurden, um ihre Angehörigen zu suchen. Ein Teil dieser Frauen sind heute ganz andere Frauen geworden.«

Als die Polizeiangriffe nicht aufhörten, verkündeten die Samstagsmütter am 13. März 1999 beim 203. Zusammentreffen, mit der Sitzaktion vorerst aufzuhören. Am 31. Januar 2009 haben sie wieder mit ihren Aktionen angefangen.

Was passierte nun in dieser »aktionslosen« Zeit? Nimet Tanrıkulu: »Die Verhinderungen, die am 15. August 1998 in der 170. Woche begannen, hielten dreißig Wochen an. Uns wurde verboten, am Galatasaray-Platz zu sitzen. Eine Presseerklärung, in der auf die Verfassung und die von der Türkei unterschriebenen Verträge über grundlegende Rechte und Freiheiten hingewiesen werden sollte, wurde von den Sicherheitskräften mit Gewalt verhindert. Insgesamt 431 Menschen wurden für mehrere Stunden bis zu fünf Tage festgenommen, zusammengeschlagen und beleidigt. Frauen, die nicht lesen und schreiben konnten, wurden verurteilt, weil sie in ihren Zellen auf die Mauern geschrieben hätten. Weil die Mutter Emine Ocak den Baum, der für ihren Sohn Hasan Ocak gepflanzt worden war, streichelte und ›mein Sohn‹ sagte, wurde sie zusammen mit zehn weiteren Menschen festgenommen. Diejenigen, die als Kinder an den Sitzaktionen teilgenommen hatten, waren nun erwachsen, verheiratet und hatten Kinder. Es gab natürlich auch Sterbefälle von älteren Familienangehörigen. Berfo Ana, die ihren Sohn Cemil Kırbayır suchte, hat ihr Leben verloren, bevor sie seine Gebeine fand. Auch Hasan Ocak, einer der ersten Teilnehmer an der Sitzaktion, verlor sein Leben, bevor er sah, wie die Mörder seines Sohnes verurteilt wurden.«

Ayşe Günaysu zu den Ergebnissen der Aktion: »Ich denke heute darüber nach, dass damals unter den Bedingungen der staatlichen Gewalt in den 1990er Jahren nicht tausende Menschen aufgestanden sind. Wären wir zum Beispiel wie bei Gezi zu Tausenden auf die Straße gegangen, hätten die Zusammentreffen am Samstag geschützt werden können? Es wurde eine zehnjährige Pause eingelegt, doch es war interessant und beeindruckend, dass die Kampagnen gegen das Verschwindenlassen nicht schwächer wurden, sondern ganz im Gegenteil Erfolge erzielten und in breiten Kreisen der Gesellschaft Widerhall fanden. Und der Präsident, der die an den Sitzaktionen Teilnehmenden als ›Terroristen‹ beschimpfte, war gezwungen, sich mit Vertretern der Aktion zu treffen und sie anzuhören.«

»Sie sollen mir die Gebeine meines Sohnes geben«

Die Journalistin Müjgan Halis wusste bei ihrem Hausbesuch am 19. Februar 2013 nicht, dass es ihre letzten Worte sein sollten: Zwei Tage später verstarb Berfo Ana, ohne die sterblichen Überreste ihres Sohnes gefunden zu haben. Vor ihrem Abschied sagte sie: »Ich habe sechs Kinder geboren, drei Töchter und drei Söhne. Mein Sohn Cemil war ein Revolutionär. Immer wenn wir den Staat nach seinem Verbleib gefragt haben, wurde uns gesagt, er sei geflohen. Wir haben ihnen geglaubt. Ich habe 27 Jahre lang gedacht, mein Sohn wird eines Tages wiederkommen, bis vor sieben Jahren der ehemalige AKP-Abgeordnete Zafer Üskül erklärte, Cemil Kırbayır sei bei der Folter gestorben. Seitdem suche ich die sterblichen Überreste meines Sohnes. Er war furchtlos. Er hat in Qers (Kars) gearbeitet. Er hat sich gegen die Ausbeutung der Dorfbewohner aufgelehnt. Meinen Sohn haben die Polizisten namens Mehmet Hayta, Selçuk Ayyıldız und Zeki Tunçkolu ermordet. İsmail Kırbayır hat jahrelang ihre Verurteilung gefordert und ist schließlich im Jahr 1991 gestorben. Ich möchte nun sterben, aber ohne die Gebeine meines Sohnes gesehen zu haben und vor seinem Grab ein Gebet gesprochen zu haben, werde ich mit offenen Augen gehen. Der Ministerpräsident hatte mir versprochen, die Stelle zu finden, wo die Gebeine meines Sohnes begraben liegen. Ich erwartete, dass er sein Versprechen hält. Mein Wille ist, mich nicht zu begraben, falls ich sterben sollte, bevor der Ort gefunden wird, wo Cemil begraben liegt, meine Beerdigung nicht durchzuführen; ich will mit meinem Sohn in dasselbe Grab gelegt werden. Ich rufe diejenigen an, die meinen Sohn getötet haben; ich stehe kurz vor dem Tod, ich bitte inständig, sie sollen mir die Gebeine meines Sohnes geben.«

Im Mai 1998 trafen sich die Großmütter von der Plaza de Mayo aus Argentinien in Istanbul mit den Samstagsmüttern, die auf verschiedenen Kontinenten dasselbe Leid teilen. Ich hoffe, dass wir uns würdig erweisen, verrückt genannt zu werden, so wie die Samstagsmütter und die Mütter von der Plaza de Mayo verrückt genannt wurden, weil sie die Verrücktheit besaßen, das Vergessen in Zeiten der Zwangsamnesie zu verweigern.