Zehntausende Flüchtlingskinder sind verschwunden

Menschliches Strandgut?

Reyhan Yalçındağ

Wir erleben die schlimmste Flüchtlingstragödie seit dem 2. Weltkrieg. Die Türkei ist unter dem Einfluss des Krieges in Syrien und der Angriffe des menschenfeindlichen Islamischen Staates (IS) in den letzten Jahren zu einem der Länder geworden, die am meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. Vor allem seit dem Völkermord vom 4. August 2014 an den êzîdischen KurdInnen in Şengal (Sindschar) und aufgrund der Kriege und Rechtsverletzungen im Mittleren Osten ist 2015 ein dramatischer Anstieg der Anzahl von Flüchtlingen zu verzeichnen, die mit Hilfe von SchlepperInnen über die Türkei nach Europa zu gelangen versuchen.

Das unmenschliche Vorgehen radikaler dschihadistisch-islamistischer Organisationen wie Al-Qaida in Afghanistan und Pakistan, IS und Al-Nusra in Rojava und Syrien, Boko Haram in Nigeria, Tschad und Sudan – Massentötungen, Vergewaltigungen, Versklavung etc. – lassen die Flüchtlingszahlen täglich weiter steigen. Die Menschen, die auf der Suche nach Asyl an die Grenzen der Türkei kommen, sind ausnahmslos Opfer von Krieg und gewalttätigen Konflikten.

Die Viertel werden unbewohnbar geschossen, die Bewohner in die Flucht getrieben. | Foto: ANFDie Türkei ist der einzige Staat, der das Flüchtlingsabkommen unterzeichnet hat, die BürgerInnen von Staaten außerhalb des Europarats jedoch als Flüchtlinge nicht anerkennt. Die aus internationalem Recht entstehende Verpflichtung zu medizinischer Versorgung, angemessener Unterbringung sowie dem Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge wird in der Türkei nicht eingehalten. Flüchtlinge, oder vielmehr Asylsuchende ohne Status, geraten aufgrund des Versagens türkischer Behörden bei der Gewährleistung internationalen Schutzes täglich in Lebensgefahr.
Sie verlassen ihre Heimat aufgrund unmenschlicher Angriffe, werden in der Türkei mit anderem unmenschlichen Vorgehen konfrontiert und setzen daher ihre Hoffnung auf Europa. Allein in der ersten Januarwoche sind 33 Flüchtlinge auf dem Weg von der Ägäis nach Griechenland ertrunken, weil ihre Boote kenterten. Während ich diese Zeilen schreibe, berichten die Nachrichtenagenturen von den Leichnamen zweier Kinder und einer Frau, die an den Strand gespült wurden, weil ein Boot »illegaler MigrantInnen« aus Syrien auf dem Weg von Fener Köyü nach Griechenland gesunken war.

Vor drei Tagen wurde berichtet: »Ein Boot mit MigrantInnen, die von Didim nach Griechenland übersetzen wollten, ist gesunken. Bisher wurden die Leichname von vier Flüchtlingen gefunden. Es handelt sich um Vahida Ali (25) und ihre Töchter İvan (6), Lian (4) und Rusi (2).« Es gibt ständig Meldungen über Leichen, die an die Küsten der Türkei gespült werden. Vor wenigen Monaten ging das Bild des fünfjährigen Alan Kurdi um die Welt, dessen Leichnam gemeinsam mit denen seiner Mutter und seines zwei Jahre älteren Bruders am Strand gefunden wurde. Leider sind solche Tragödien inzwischen zu alltäglichen Routinemeldungen geworden.

Warum also begeben sich Menschen, die vor Krieg, Zerstörung oder menschenfeindlichen Organisationen wie dem IS flüchten, in die Hände von SchlepperInnen, obwohl ihnen bewusst ist, dass ihnen der Tod droht? Warum steigen sie in diese Boote? Warum sieht die gesamte Welt gleichgültig dabei zu? Warum nehmen Kinder, Frauen, Kranke, Alte in der Hoffnung auf ein Leben in Europa das Risiko in Kauf, vor den Küsten der Türkei zu ertrinken? Die Antwort ist einfach:

Weil sie in der Türkei, in die sie vor Zerstörung, Vergewaltigung und Tod geflüchtet sind, kein menschenwürdiges Leben führen.

Weil sie erniedrigt werden.

Weil Kinder, die auf der Straße Taschentücher verkaufen oder Schuhe putzen, in aller Öffentlichkeit zusammengeschlagen werden.

Weil ihnen das Recht auf Unterkunft verwehrt wird.

Weil sie keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen können und aus diesem Grund in Grenzprovinzen wie Riha (Urfa), Dîlok (Antep) und Hatay als TagelöhnerInnen auf dem Bau oder in der Landwirtschaft zu Niedriglöhnen arbeiten müssen.

Weil den Kindern das Recht auf Bildung verwehrt wird.

Und weil die gesamte Last auf den Frauen liegt, die versuchen, ihre Kinder am Leben zu erhalten.

Mädchen werden als »Kinderbräute«, als Zweit-, Dritt- oder sogar Viertfrau »verkauft«.

Dieser menschenunwürdige Zustand ist der Tatsache geschuldet, dass die Türkei den Menschen die nach internationalen Bestimmungen geltenden Rechte als Flüchtlinge verwehrt und sie in der Position von »Asylsuchenden ohne Status« belässt. Darüber hinaus muss auch die Frage gestellt werden, wie es sein kann, dass täglich Hunderte Flüchtlinge in die Hände von SchlepperInnen geraten und keine Maßnahmen gegen die allzu oft tödlich verlaufenden Überfahrten auf deren Booten getroffen werden. Menschenhandel ist nach weltweit geltenden rechtlichen Bestimmungen, UN-Abkommen und dem Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wie kann es dann sein, dass die Behörden und die Justiz eines Landes, das als EU-Beitrittskandidat gilt, keine Maßnahmen dagegen ergreifen? Das bedeutet, dass das Recht auf Leben von Kriegsopfern und Menschen, denen die Flucht vor grausamen Banden wie dem IS gelungen ist, für sie keine Bedeutung hat. Menschenhandel gehört zu den Verbrechen, die von Nachrichtendiensten und Sicherheitskräften problemlos verhindert werden können. In der Türkei können sich SchlepperInnen jedoch frei bewegen und die Hoffnung von Flüchtlingen dazu benutzen, sie gegen hohe Geldzahlungen in den Tod zu schicken.

Ein weiteres Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das der Staat nicht verhindert, betrifft êzîdische Frauen und Kinder, die vom IS verschleppt und in einem Büro in Dîlok gegen hohe Summen verkauft werden. Nachdem Anfang Dezember letzten Jahres das deutsche ARD-Fernsehen über das virtuelle Verkaufssystem berichtet hatte, erstatteten das »Kampfbündnis für verschleppte Frauen« und die AnwältInnenkammer Dîlok Strafanzeige bei der Oberstaatsanwaltschaft der Republik.

Durch die Auswertung von Chat-Protokollen, WhatsApp-Botschaften, Dokumenten, Fotos sowie Aussagen von AugenzeugInnen und in den Handel involvierten VermittlerInnen deckten JournalistInnen auf, dass êzîdische Frauen und Kinder mit Fotos im Internet zum Verkauf angeboten und an die Meistbietenden versteigert werden. Bei den Kunden handelt es sich demnach entweder um Angehörige, die die verschleppten Frauen und Kinder retten [»freikaufen«] wollen, oder um IS-Mitglieder, die sie zum Weiterverkauf ersteigern. Der Geldtransfer läuft nach diesen Recherchen über Büros des IS in der Türkei, von denen sich eines in Dîlok befindet. Nach Aussagen eines Vermittlers hat er über dieses Büro innerhalb eines Jahres für über 2,5 Millionen US-Dollar 250 êzîdische Frauen und Kinder vom IS zurückerworben: »Wir nutzen alle Kommunikationskanäle. Ich handele über WhatsApp, so legen wir den Preis fest.«

Wie kann es sein, dass in einer Stadt, die zu den 29 Großstädten der Türkei zählt, ein solches Büro eingerichtet wird, das sogar über eine Geldzählmaschine verfügt, und in dem Vermittler des IS Frauen und Kinder versteigern können, ohne dass der Nachrichtendienst der Türkei (MIT) und die Polizei einschreiten? Bis heute ist trotz erfolgter Strafanzeige keiner der Täter festgenommen worden.

In derselben Stadt wurde am 27. Dezember 2015 der syrische Journalist Naji Jerf, der über den IS recherchierte, auf offener Straße erschossen. In einer Wohnung in Riha wurden der Redakteur Ibrahim Abdulkadir und der Korrespondent Firaz Hamadi der arabischsprachigen Wochenzeitung »Ayn Vatan« ermordet, indem ihnen die Kehlen aufgeschnitten wurden. Die beiden waren aus Syrien geflüchtet, ihre Zeitung hatte gegen den IS berichtet. Die Art und Weise dieser Morde legen die Vermutung nahe, dass sie vom IS begangen worden sind.

Wer im 21. Jahrhundert zu diesem Kriegszustand schweigt, in dem Kinderleichen an die Strände gespült, Mädchen versteigert und Frauen vergewaltigt werden, macht sich mitschuldig. Diese Menschen verlassen ihre Häuser, Gärten und Erinnerungen nicht freiwillig. Sie machen sich weinend auf den Weg, nur um ihre Kinder am Leben zu erhalten. Die einzige Möglichkeit zu verhindern, dass Flüchtlinge ertrinken, Kinder zur Prostitution gezwungen werden, Menschen unter Hunger und Kälte leiden, ist die Beendigung der Kriege. Laut einer Erklärung Europols sind in den vergangenen beiden Jahren über zehntausend Flüchtlingskinder verschwunden. Es liegen Hinweise vor, dass zumindest ein Teil von ihnen als Opfer organisierter Kriminalität versklavt und sexuell ausgebeutet wird. Auch diese Erklärung beweist ein weiteres Mal, dass alle Staaten daran arbeiten müssen, diesen Kindern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.

Die Menschheit wird erst zur Ruhe kommen, wenn wirklich Frieden herrscht.


Reyhan Yalcındağ, Rechtsanwältin und stellvertretende Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD