Warum regt sich kaum Protest in der Westtürkei?

Zwischen Gleichschaltung und Zeug*innenschaft

Oliver Kontny

Dieser Artikel versucht der Frage nachzugehen, warum sich im Westen der Türkei so wenig Protest gegen die Verbrechen gegen die Menschlichkeit regt, die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) und IS (Islamischer Staat) seit letztem Sommer in atemberaubendem Tempo begehen. Er geht von dem Gefühl aus, dass die Gesellschaft der Türkei ein manifestes Problem damit hat, sich zu den furchtbaren Verbrechen zu positionieren. Dieses Gefühl ist insbesondere unter jüngeren Kurd*innen stark verbreitet. Als die Journalistin Semra Pelek im Dezember 2015 Interviews mit Neun- bis Sechzehnjährigen in Amed (Diyarbakır) führte, konnte keines der Kinder verstehen, warum die sie nicht akzeptierten, als gleichberechtigt behandelten und in Frieden leben ließen. Ein Fünfzehnjähriger sagte ihr: »Niemand nimmt uns wahr. Im Westen kümmern sie sich nur um ihre Silvesterparties, und wir wissen nicht, wie wir überleben sollen.« Darauf sagte ein Siebzehnjähriger: »Von den Türk*innen erwarten wir gar nichts mehr.«

Auch für unbeteiligte Beobachter*innen in Deutschland ist es schwer nachzuvollziehen, warum vor weniger als drei Jahren Millionen von Menschen in den urbanen Zentren der Türkei auf die Straßen gingen, um für einen Regimewechsel zu kämpfen (Gezi-Park-Proteste), und heute, wo dieses Regime bewusst und gezielt die Möglichkeit zerstört, in den nächsten Jahrzehnten in Frieden zu leben, alle wieder in ihren kleinen Wohnzellen und digitalen Welten gefangen sind.

Barış - Aşti - FriedenHatip Dicle, der 1991 als erster kurdischer Abgeordneter seinen Amtseid ablegte und nach insgesamt 15-jähriger Haft heute als Co-Vorsitzender des Kongresses für eine Demokratische Gesellschaft (DTK) amtiert, gab Ende Januar 2016 der Cumhuriyet eine klare Warnung ab: Die Jugendlichen, die heute Gräben ausheben und hinter Barrikaden kämpfen, haben in den 90er Jahren erlebt, wie ihre Dörfer vernichtet wurden. Für sie gibt es keine positive Bezugnahme auf ein Zusammenleben mit den Menschen in der Westtürkei, solange sie es nicht jetzt konkret erfahren. Andernfalls könne kein*e kurdische*r Politiker*in sie mehr überzeugen, sich auf einen Friedensprozess einzulassen. Die Gründer*innengeneration der PKK sei die letzte Generation, die noch eine emotionale Verbundenheit mit der Türkei verspüre. Den jungen Menschen in den Städten Kurdistans sei die Notwendigkeit von Frieden und Versöhnung nur noch schwer zu vermitteln.

Anders gewendet: Die Wahrnehmbarkeit von Protest und zivilem Ungehorsam in Teilen der türkischen Mehrheitsgesellschaft mag machtpolitisch wenig relevant sein in der AKP-Diktatur; für die Zukunft einer politischen Lösung aber könnte sie der entscheidende, ausschlaggebende Punkt sein. Auch wenn es wie ein Klischee klingt: Was von Gezi bleibt, ist für die Zukunft des Nahen Ostens von immenser Bedeutung. Wenn aus der Polarisierung ein Krieg der Türk*innen gegen Kurd*innen wird und eine rassifizierte Spaltung der Politik siegt, ist das nicht nur für die Bürger*innen des Landes die schlimmstmögliche Option (vor der Abdullah Öcalan, der Vorsitzende der Arbeiter*innenpartei Kurdistan PKK, seit Jahrzehnten konsistent warnt). Vielmehr würde sich diese Tendenz auch auf das Projekt Rojava (Westkurdistan) auswirken. Zur Verteidigung Rojavas – dessen Geist ja gerade auf dem Miteinander verschiedenster Menschen jenseits von religiösen oder sprachlichen Zugehörigkeiten basiert – ist ein gemeinsames Handeln gegen rassifizierte Polarisierungen unbedingt notwendig. Warum also scheint genau das derzeit so unerträglich schwer?

Im Prinzip sind die Faktoren bekannt: Die Gesellschaft der (West-)Türkei besteht seit längerem aus Bevölkerungsgruppen, die sich spinnefeind sind. Da sind einerseits die Menschen, die das Regime befürworten und sich mehr oder weniger als Profiteur*innen begreifen. Die wirtschaftliche Entwicklung der »anatolische Tiger« genannten Boomtowns sowie das Auswechseln der Eliten brachten vielen Menschen, die sich in konservativ-religiöse Milieus einfügen, unerwartete Chancen. Sie haben oft Angst, dass sie bei einem Machtwechsel wieder von den säkular-nationalistischen Eliten unterjocht und zurückgedrängt werden.

Demgegenüber gibt es die Menschen, die sich als Verlierer*innen der Neuen Türkei begreifen und seit Jahren Ängste vor einer stetigen Verschlimmerung und Islamisierung äußern. Ihnen geht es oft um den Verlust von Privilegien, die die urbane Mittelklasse der westtürkischen Großstädte traditionell innehatte. Im Windschatten der kemalistischen Eliten haben diese Menschen bzw. ihre Eltern meist bequem gelebt. Den Vernichtungskrieg gegen die Kurd*innen in den 90er Jahren haben sie daher überwiegend nicht als solchen wahrgenommen. In den ersten zehn Jahren der AKP-Herrschaft (2002 bis 2012) haben diese Milieus oft nicht den Inhalt von Herrschaft, sondern nur deren Form kritisiert: Islamisierung, Zurückdrängung des bürgerlich-liberalen Lebensstils, nicht aber von den vorherigen Regierungen »übernommene« Gewaltpolitik wie Polizeiwillkür, Folter, politisch motivierte Justiz (wie z. B. in den KCK-Verfahren von 2009 [KCK: Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans]). Im Gegenteil: Ein Teil dieser Milieus hat sich sogar mit der Mehrheit der Republikanischen Volkspartei (CHP) und der gesamten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) gegen einen Friedensprozess mit der PKK ausgesprochen und diesen von Anfang an als Teil des Ausverkaufs aller Werte begriffen. In ihrer Rhetorik galten die von Ministerpräsident Erdoğan angekündigten Verhandlungen mit Apo (Abdullah Öcalan) als ein Indiz für die Gefährlichkeit des politischen Islam. Sie glaubten noch an das Bild, das der Nationale Sicherheitsrat in den 80er und 90er Jahren von den beiden Hauptfeinden der Republik gezeichnet hatte: Die »islamische Reaktion« (irtica) und der »kurdische Separatismus« (bölücülük) waren eine verschwommene Masse von Bösewichten. Kein Wunder, dass sie sich nun miteinander verschworen! Entsprechend fanden CHP und MHP noch im August 2014 in Ekmeleddin İhsanoğlu einen gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten, der die nationale Einheit repräsentieren sollte.

Im Vorfeld der Kommunalwahlen im März 2014 konnte ich erleben, wie ein junger Mann aus der säkularen Ägäis, der in Deutschland als Museumskurator insbesondere zu queeren und postkolonialen Themen in der kritischen Gegenwartskunst arbeitet, auf Facebook gegen den HDP-Kandidaten Sırrı Süreyya Önder wütete, weil der die CHP für ihre unverhohlene Nähe zur MHP kritisiert hatte. Es sei eine Sauerei, an diesem Punkt auszuscheren und kleinliche Kritik zu äußern, schrieb der Kurator, der seinen Lebensunterhalt mit der Ausstellung von Kritik verdiente. Ich widersprach. Plötzlich befand ich mich in einem Shitstorm superkritischer Oppositioneller, die mich Außenstehenden anschrien, jede einzelne Stimme müsse jetzt an die CHP gehen, alles andere sei Spalterei: »Tatava yapma, bas geç.« Übersetzt ungefähr: Quengel nicht rum, gib deine Stimme ab. Das war der Slogan eines nicht zu unterschätzenden Teils der Gezi-Jugend. Eine eigenständige kurdische Politik, ebenso wie jede andere Kritik an der verkalkten Atatürkpartei, galt ihnen nur als nervige Quengelei.

Andererseits haben viele kluge Köpfe aus dem akademischen und kulturellen Feld hervorgehoben, wie Gezi als eine Empathieschule wirkte. Sie berichteten darüber, wie Menschen völlig gegensätzlicher Ansichten bzw. verfeindeter Identitäten plötzlich Hand in Hand vor den Wasserwerfern standen und sich zum gemeinsamen Fastenbrechen auf der Istiklal niedersetzten. Diese Erzählungen spielen auf mehrerlei Entwicklungen an:

  • Menschen sind sich jenseits ihrer üblichen Wir-Gruppen begegnet und haben ihre Politisierung gleichzeitig als Horizonterweiterung erlebt, indem sie ungeahnte positive Erfahrungen mit völlig anderen Menschen machten.
  • Die klassische Parteipolitik der Old-School-Linken konnte sich gegenüber neuen und fluiden Organisationsformen nicht durchsetzen.
  • Teile der alten Elite haben sich radikalisiert, so dass etwa teure Hotels, Privatuniversitäten oder kapitalstarke Medien den Protestierenden konkrete Unterstützung zukommen ließen.

Viele junge Menschen, die sich bisher überhaupt nicht politisch verortet hatten, wurden praktisch über Nacht auf die Straße geworfen. Ece Temelkuran berichtet von einem jungen Mann, der allein auf den Taksim-Platz gekommen war und den ersten Tag seines politischen Lebens mit Wasserwerfern und Gaskanistern verlebte. Er zeigte während einer Straßenschlacht mit dem Arm in Richtung Tarlabaşı [benachbartes Sanierungsviertel] und rief: Wo bleiben sie denn? Laut Temelkuran hatte er eine vage Vorstellung davon, dass dort Kurd*innen lebten und dass sie das Blatt zugunsten der Protestierenden wenden könnten. Für ihn seien die Kurd*innen Istanbuls plötzlich zu einer Art rettender Kavallerie geworden. In der Erwartung, dass sie viel stärker, widerständiger, politisierter, organisierter, mutiger und konfrontationsbereiter seien als man selbst, steckt eine Form von Exotisierung und Orientalismus. Diese Geste, die im Augenblick der Straßenschlacht Solidarität einfordert, affirmiert noch den Blick vom selbst ernannten Zentrum auf die Peripherie und weist schon darauf hin, dass diese Solidaritätserwartung vor allem in eine Richtung funktioniert.

Wenn der Mann aus Temelkurans Anekdote für eine Generation – die sogenannte Generation Gezi – steht, dann stand er vor einer Weggabelung: Würde die Empathie siegen oder das Ressentiment? Würde er verstehen, dass Kurd*innen über vierzig Jahre lang ein Vielfaches an Gewalt und Repression erlebt hatten und kaum darüber gesprochen, geschrieben, protestiert wurde? Wenn er jetzt von höchster Stelle als çapulcu [in etwa: Plünderer/Lump] oder Terrorist gelabelt wurde, bloß weil er sich von der Polizeigewalt nicht einschüchtern lassen wollte, würde er dann den Schluss wagen, dass die Kurd*innen, die seit Republikgründung so bezeichnet werden, eben auch keine Verbrecher*innen sind, sondern im Recht?

Oder würde er schmollen, dass sie jetzt, wo man sie mal braucht, ausgerechnet mit der AKP einen Frieden aushandeln wollen? Würde er sich bestätigt finden, dass diese so anderen Menschen ihr eigenes Ding machen, dem nicht so recht zu trauen ist? In den sozialen Medien und in persönlichen Gesprächen konnte man beide Tendenzen mitverfolgen. Oft blieben Menschen hin und her gerissen zwischen diesen beiden Perspektiven.

In jedem Fall hat Gezi ein weitverbreitetes Misstrauen gegenüber den staatstragenden Medien und eine große Offenheit für alternative Kanäle und soziale Medien gefördert. Dies wiederum hat dazu beigetragen, dass die Nachrichten über die Revolution von Kobanê und den unerwartet kraftvollen, erfolgreichen Widerstand gegen den IS auch in der Türkei große Verbreitung finden konnten. Auch die radikalisierten Teile der alten Elite spielen hier eine wichtige Rolle: Die Cumhuriyet beispielsweise, einst das Hausblatt der Kemalist*innen, berichtet überwiegend positiv über den kurdischen Widerstand in Rojava und die Demokratische Partei der Völker (HDP). Ihr Chefredakteur Can Dündar sitzt eine hohe Haftstrafe ab, weil er Material veröffentlichte, das Waffenlieferungen der Regierung an syrische Islamist*innen dokumentiert.

Somit konnte ein zunehmender Teil der Bevölkerung den IS mit der Erdoğan-AKP identifizieren und den Widerstand der YPG [der Volksverteidigungseinheiten in Rojava] als einen Kampf erkennen, der im eigenen Interesse liegt. Das progressive System von Kobanê mit seiner Geschlechtergleichheit und der diskriminierungsfreien Beteiligung aller religiösen und sprachlichen Bevölkerungsgruppen hatte und hat eine große Strahlkraft. Die jungen Menschen, die im Juli 2015 dem barbarischen Bombenattentat von Pîrsûs (Suruç) zum Opfer fielen, wollten beim Aufbau und bei der zivilen Verteidigung der Errungenschaften mithelfen. Dass ausgerechnet diese Menschen von einer Bombe erwischt wurden, die ohne das Wissen der türkischen Sicherheitsdienste nie hätte explodieren können, sagt viel über das Profil des Staatsterrorismus aus.

Ein anderer Versuch, die Ansätze von Rojava – und letztlich die Konzepte Abdullah Öcalans für demokratischen Konföderalismus – mit friedlichen und legalen Mitteln in der gesamten Türkei umzusetzen, war die türkeiweite Bewegung für Demokratisierung und Dezentralisierung, die mit dem Projekt HDP verbunden wird. Auch dieses Projekt hat bei vielen Menschen in der Westtürkei großen Anklang gefunden, so dass der Wahlerfolg vom Juni 2015 mit 13,7 % der Stimmen und 80 Sitzen im Parlament zu Recht als ein Festtag für die gemeinsame Hoffnung von Kurd*innen, Türk*innen, Roma, Griech*innen und Armenier*innen gefeiert wurde. Diese Euphorie wurde mit dem Anschlag von Pîrsûs/Suruç gedämpft. Mit dem Scheitern der Verhandlungen zwischen der Arbeiter*innenpartei Kurdistan und der Republik Türkei hat die Gewalt gegen Zivilpersonen alptraumhafte Dimensionen angenommen. Damit sind Attraktivität und Machbarkeit des HDP-Projektes drastisch gesunken. Viele junge Kurd*innen sind von Wut, Enttäuschung und dem Wunsch nach Vergeltung getrieben. Für sie scheint die erste Reaktion zu sein, die Errungenschaften von Rojava mit der Besetzung und bewaffneten Verteidigung von autonomen Zonen in urbanen Kerngebieten des kurdischen Widerstands durchsetzen zu wollen.

Auch Menschen, die dieses Vorgehen völlig falsch finden, sind entsetzt über die enthemmte [staatliche] Gewalt gegen Zivilist*innen und Kombattant*innen. Aber der Aufschrei, ja der Aufstand, bleibt aus, obwohl die Informationen durchaus verfügbar und die Rezipient*innen sensibilisiert sind. Für die Konfliktforschung ist diese Situation nicht neu. Idelber Avelar kommt in seiner Arbeit zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Lateinamerika zu einem ähnlichen Ergebnis wie Marc Nichanian in seiner Arbeit zum Genozid an den Armenier*innen: Staatliche Gewaltakte dieser Art richten sich immer auch auf eine Beseitigung von Zeug*innenschaft. Die türkische Konfliktforscherin Özgür Sevgi Göral stellt fest: »Da systematische staatliche Gewaltpraktiken zugleich den/die Zeug*in oder eine potenzielle Zeug*innenschaft zerstören, handelt es sich um Praktiken, über die zu sprechen beinahe aussichtslos und die wiedergutzumachen schlechthin unmöglich scheint.« Diese Beseitigung von Zeug*innenschaft – für die die Bombenattentate von Pîrsûs/Suruç und Ankara als grauenerregende Beispiele dienen – ist als Teil der türkischen Kriegführungsstrategien von 1980 bis heute besonders effektiv und bewusst durchgeführt worden. Sie wirkt nachhaltig auf die Generation Gezi – das heißt auf diejenigen, die unserem Raster nach:

  • überwiegend frisch politisiert sind und vor 2013 keine oder kaum biographische Erfahrungen mit staatlicher Gewalt gemacht haben;
  • ohne großes Hintergrundwissen und Zugänge zu (mündlich oder schriftlich) tradiertem Erfahrungs- und Bewegungswissen in den Raum der Protestpolitik eingetreten sind;
  • die unerwartet hohe Eskalationsstufe von Gewalt seit Juli 2015 aus ihren eigenen Erfahrungen heraus schlicht nicht einzuordnen wissen.

Die Strategie wirkt in zweierlei Hinsicht:

(1) Durch die Beseitigung von Zeug*innenschaft in der Vergangenheit sind sie in dem Glauben aufgewachsen, dass da entweder gar nichts passiert sei oder es sie nichts angehe, und

(2) durch die sehr offensive Beseitigung von Zeug*innenschaft in der Jetztzeit empfangen sie die Botschaft, dass sie an dem Punkt, an dem sie sich selbst für eine Zeug*innenschaft der Verbrechen gegen die Menschlichkeit entscheiden, eben auch beseitigt werden.

Dabei funktioniert die Beseitigung der Zeug*innenschaft nicht nur durch Bomben. Als Ayşe Çelik, eine Lehrerin aus Amed/Diyarbakır, im Januar 2016 bei der beliebten Fernsehshow Beyaz anruft und die schreckliche Situation in der Stadt schildert, wird ihr Appell, dass keine Kinder mehr sterben dürfen, nicht nur als Terrorpropaganda gewertet und sie verfolgt. Vielmehr wird der Moderator Beyazit massiv unter Druck gesetzt und kann seine Karriere nur fortsetzen, indem er eine winselnde Distanzierung veröffentlicht. Seine Schuld war es, sie nicht niedergeschrien oder zensiert zu haben. Vielleicht ist es weniger der Hass, der auf den Moderator niederprasselte, als vielmehr seine charakterlose Reuebekundung, die politisch denkende Menschen vor die schwerwiegende Frage stellt, ob sie mutig und stark genug sind, um sich für eine Zeug*innenschaft zu entscheiden.

Die rund 2 200 Akademiker*innen, die in einer Unterschriftenkampagne für eine Rückkehr an den Verhandlungstisch und ein Ende des Staatsterrors eingetreten sind, müssen trotz Solidarisierung durch viele andere Berufsgruppen mit Entlassungen, Verhaftungen und Lynchkampagnen umgehen – nicht zuletzt durch den Mafia-Paten Sedat Peker, der ausrief, er werde in ihrem Blut baden. Murat Özbank, einer der Unterzeichner, interpretiert die Repressalien gegen die gemeinschaftlich vorgehenden Akademiker*innen als Mittel zur Gleichschaltung (er benutzt den deutschen Begriff). Wo Gleichschaltung gelingt, ist der Preis für jede Form von Dissidenz potenziell der Tod; zumindest der Tod als bürgerliches Subjekt, das einem zivilen Leben nachgehen kann. In anderen Worten: Nur sehr viel Zivilcourage kann jetzt noch abwenden, dass das Leben auch für privilegierte, türkische Bildungsbürger*innen zu der gleichen Hölle wird, aus der die Kurd*innen sich zu befreien versuchen. Die Revolution von Rojava steht für beide Bevölkerungsgruppen als eine Heterotopie am Horizont, die aus den desillusionierenden Erfahrungen der letzten Jahre eine gemeinsame Perspektive formen kann. Die Erfolgschancen stehen nicht gut, aber das war ja für Kobanê ursprünglich auch nicht anders gewesen.


Oliver Kontny übersetzte u. a. »Gilgameschs Erben - Von Sumer zur demokratischen Zivilisation« von Abdullah Öcalan.