Wahlniederlagen für die Linke in Argentinien und Venezuela

Rojava als neuer Hoffnungsschimmer für die weltweite Linke

Can Cicek, Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.

Wenn wir die Zeit Revue passieren lassen und den Kalender um 25 Jahre zurückstellen, blicken wir auf eine Zeit, in der die Linke weltweit in eine Zukunft voller Ungewissheit schaute. Der Realsozialismus war gescheitert. Viele sich auf das Sowjetsystem stützende Staaten, Regierungen und Bewegungen gingen in den Folgejahren einem rapiden Fall entgegen. Auf dem Boden, der jahrzehntelang als Grund sozialistischen Gedankenguts galt, gedieh ein kapitalistisches System, das in der Rasanz der Entwicklung eines derartigen Ausbeutungssystems seinesgleichen sucht. Der bipolare Wettstreit mündete nicht in eine multipolare Suche nach Freiheit und Gerechtigkeit, er endete in einer unipolaren Weltordnung, in der progressiver Abstraktion der Stempel des Reaktionären aufgedrückt wurde. Selbst ProtagonistInnen der weltweiten Linken gaben dem Sozialismus keine Chance mehr.

Inzwischen befinden wir uns in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts. Dem Beginn des Millenniums wird unterdessen das Siegel der Zeit der Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung verliehen. Die zapatistische Bewegung hatte bereits sehr früh gezeigt, dass eine andere Welt, jenseits der nationalstaatlichen Sphären des führenden Weltsystems, möglich ist. Durch die bolivarische Bewegung entstanden Diskussionen über einen »Neuen Sozialismus«. Die ersten linken und sozialistischen Regierungen wurden in etlichen Staaten Lateinamerikas gewählt. Fidel Castro musste nicht mehr länger allein das Zepter des einzigen Widersachers des neoliberalen Weltsystems hochhalten. Die rote Fahne wurde inzwischen über weiten Teilen des südamerikanischen Kontinents gehisst. Die Krise des kapitalistischen Systems wirkt seit 2007 nun auch im Westen. Während die führenden Industriestaaten sich nicht nur von der letzten größeren Finanzkrise erholen, sondern sogar noch Profit daraus schlagen konnten, droht Staaten an der europäischen Peripherie der Bankrott. Allen voran Griechenland. Entgegen der zentraleuropäischen Aufoktroyierung der Austeritätspolitik gewann die Linke in Griechenland an Stärke. Was vor wenigen Jahren niemand auch nur im Rahmen des Möglichen gesehen hatte, wurde wahr. Das Parlament von Athen wurde von einer linken Regierung geführt, die trotz massiven Drucks aus Brüssel weiter standhält. Rojava ist für die weltweite Linke zu einem Hoffnungsschimmer aufgestiegen. Indessen schocken die Ergebnisse der letzten Parlamentswahlen in Argentinien und Venezuela.

Wie ist der Rechtsruck in Argentinien und Venezuela zu erklären?

Die Resultate beider Wahlen sind nicht überraschend. Der Hauptgrund dafür ist in dem Unvermögen zu suchen, eine systemische Veränderung zu verwirklichen. So zeichneten sich in beiden Ländern Entwicklungen ab, die für sämtliche Machteliten von Staaten charakteristisch sind. Vor allem Korruption und Paternalismus ragen dabei hervor. Sowohl in Venezuela als auch in Argentinien bediente sich die Linke des Staates als Apparat zur Umsetzung ihrer Ziele und Wertvorstellungen. Symptomatisch für Oppositionsgruppen, vor allem für linke Bewegungen, ist, dass sie die Reduzierung beziehungsweise Minimierung der staatlichen Einflusssphäre in das gesellschaftliche Leben postulieren. Dieser Forderung folgt nach der Machtübernahme nur sehr selten eine wirkliche Umsetzung. Ähnlich wie Prinzipientreue und Dogmatismus sich mit der Anpassung an die politische Konjunktur und den Möglichkeiten des sich ergebenden Machtterrains mischen.

Selbstverständlich ist die Frage, wie links die Regierung um Cristina Kirchner ist, eine eigenständige Debatte. Die Gründe für den Wahlsieg von Mauricio Macri sind jedoch nicht nur in der Gegenpropaganda privater Medienkonzerne und den wirtschaftlichen Problemen zu suchen. In den letzten Jahren ist zwar die Armut im Lande reduziert worden, doch hat sich aus einem großen Teil derjenigen, die ehemals zur ärmlichen Bevölkerung gehörten, eine neue Mittelschicht geformt.

Fehlende Alternativen

Ein erheblicher Teil dieser neuen Mittelschicht hat bei dieser Wahl für die reaktionären Kräfte gestimmt. Teilweise sogar für PutschistInnen. Dieses soziale Phänomen zeigte sich in mehreren Ländern Lateinamerikas, beispielsweise in Brasilien. »Eine Art Krieg zwischen den ehemals und den noch Armen.« Die Worte Marco Consolos verleihen diesem Umstand die optimale Beschreibung. In diesem Sinne werden zwar quantitativ weniger Menschen gezählt, die unter der Armutsgrenze leben, doch werden die Armen immer ärmer. Die gerechtere Umverteilung der gesellschaftlichen Ressourcen und die damit verbundene positive Wirkung gilt es auch nur temporär zu bewerten. Dem Geschwür der kapitalistischen Moderne eine systemische Alternative entgegenzusetzen, vermochte die Kirchner-Regierung genauso wenig, wie einer/m angemessenen NachfolgerIn den Weg zu bereiten. Wie auch im Nahen und Mittleren Osten genießen Einzelpersonen meistens einen mehr als repräsentativen Charakter in ihrer Partei beziehungsweise in der Bewegung, die sie verkörpern. Der Wegfall dieser charismatischen Führungspersonen führt oftmals zur Schwächung der Gesamtbewegung, da in den meisten Fällen die eigentlich essenzielle Basisarbeit vernachlässigt wird. Wie wir auch in Venezuela am Beispiel Chavez sehen konnten.

Die Partei des verstorbenen Präsidenten erreichte bei der vergangenen Parlamentswahl vom 6. Dezember 2015 nur 40,9 Prozent der Stimmen und hält nur noch 55 Mandate. Das Oppositionsbündnis des Tisches der Demokratischen Einheit – Mesa de la Unidad Democrática (MUD) – erhielt hingegen einen Stimmenanteil von 56,3 Prozent. Mit 112 der 167 Sitze des Parlaments verfügt es nun über eine Zweidrittelmehrheit und kann tief in die Regierungsgeschäfte eingreifen und staatliche Institutionen neu besetzen.

Oppositionelle Mehrheit gefährdet Errungenschaften der bolivarischen Revolution

Nach der heftigen Wahlniederlage der Vereinten Sozialistischen Partei – Partido Socialista Unido de Venezuela (PSUV) –, die erneut mit der Kommunistischen Partei Venezuelas – Partido Comunista de Venezuela (PCV) – ein Wahlbündnis eingegangen war, debattierte die Parteiführung mit der Basis auf landesweiten Versammlungen die Gründe für das schlechte Abschneiden. Bei einem Treffen in Caracas forderten AktivistInnen vom Nachfolger von Chavez und amtierenden Präsidenten, die Erwartungen und Ziele der Basisbewegung von nun an verstärkt umzusetzen. Es wird gefordert, dass Maduro nun gemeinsam mit dem Volk regiert und dass er die Regierungsspitze und das Kabinett austauscht. Bereits kurz nach der Wahl verkündete er die Entlassung der bisherigen Ministerinnen und Minister, des Weiteren gab er bekannt, dass es zu einer Neuwahl der Parteiführung der PSUV kommen werde. Eine ernsthafte und selbstkritische Reflexion ist wichtig und essenziell, um den Rückhalt der Bevölkerung wiederzugewinnen. Denn nur so kann verhindert werden, dass die oppositionelle Mehrheit in der Nationalversammlung die zahlreichen Errungenschaften der bolivarischen Revolution revidiert.
Durch den Wahlausgang stellen sich viele Fragen, die nicht nur die Bevölkerung Venezuelas, sondern die gesamte Linke des Kontinents einschließlich Mittelamerikas betreffen. Unter anderem gilt abzuwarten, wie die Streitkräfte agieren werden. Erinnert sei an die Zeit vor Chavez, als in der sogenannten Vierten Republik zwischen 1958 und 1998 das Militär vor allem mit dem rigiden und brutalen Vorgehen gegen die eigene Zivilbevölkerung assoziiert worden war. Durch die chavistische Formel von der »unión cívico-militar«, der Einheit von Militär und Zivilbevölkerung, wurde das Militär revolutioniert, wandte sich vom Nationalismus ab und erklärte sich dem humanistischen Sozialismus verbunden. Zwar ist es zweifelhaft, dass sich die neue Mehrheit im Parlament ausländischen (in erster Linie US-amerikanischen) Interessen verschreibt, dennoch lässt sich ihre Annäherung an die Solidaritätspolitik der chavistischen Regierung mit Sorge beobachten. Das Wirtschaftsbündnis ALBA scheint genauso bedroht wie der günstige Erdölbezug für Kuba und andere Karibikstaaten.

Quo vadis, Venezuela?

Dieser Zustand belegt die Fragilität halbwegs progressiver Regierungen, die sich auf ein System stützen, das auf der Grundlage der Ausbeutung konstituiert wurde. Vor allem die PSUV um Chavez konnte auf einen großen Rückhalt in der Bevölkerung von Venezuela zurückgreifen. Indessen hätte der Prozess der revolutionären Dynamik anderweitig vollzogen werden können. Auf diese Unterstützung aufbauend hätte die bolivarische Revolution eine Änderung hin zu einem dezen­tralisierten System anstreben können, indem der Staat und seine Einflusssphären hätten reduziert und die Basisdemokratie hätte gestärkt werden können. Stattdessen wurde auf die Neubesetzung der staatlichen Institutionen gesetzt, was leider nur temporäre Verbesserungen mit sich bringen kann. Die Verhinderung einer ausbeuterischen Machtelite kann ohne Transformation des bestehenden Herrschaftssystems nicht vollzogen werden.

Rojava – Hoffnung und Alternative

Ein wesentlicher Grund für das große Interesse der globalen Linken an der Revolution von Rojava und der Schaffung einer basisdemokratischen Struktur ist die Alternative, die sie darstellen, ein System aufzubauen, das sich jenseits der Sphären von Staat, Macht und Herrschaft bewegt. Selbstverständlich ist die Situation in Syrien, wo seit Jahren ein brutaler BürgerInnenkrieg wütet, nicht mit den Umständen in Venezuela und Argentinien zu vergleichen. Doch kämpfen sowohl die Linke in Lateinamerika als auch die kurdische Befreiungsbewegung gegen dasselbe kapitalistische Weltsystem. Der feine Unterschied liegt in den Mitteln und Methoden, derer sich bedient wird.

Die kurdische Freiheitsbewegung setzte in Rojava von Anfang an auf den Dritten Weg. Einen Pfad, der auf die eigene Stärke und völlige Unabhängigkeit setzt. Das pluralistische, geschlechterbefreiende und ökologische Gesellschaftsbild von Rojava ist den führenden Hegemonialkräften des internationalen Weltsystems genauso ein Dorn im Auge wie das faschistoide Weltbild der dschihadistischen Gruppen in Syrien, auch wenn entgegengesetzte Werte vertreten werden. Allerdings bedarf es eines Systems wie der basisdemokratischen Rätestruktur von Rojava, keiner Anerkennung eines neoliberalen Systems, das auf Ausbeutung und Unterdrückung fokussiert ist. Inmitten dieser nahezu totalen Unabhängigkeit forciert der revolutionäre Prozess die gesellschaftliche Transformation. Politische Entscheidungen, die von einer kleinen Gruppe für die große Masse getroffen werden, können genauso gut oder schlecht sein wie Beschlüsse, die von einer kleinen Gruppe für eine kleine Gruppe gefällt werden. Da dies sowieso stets subjektiven Betrachtungsweisen geschuldet ist. Dabei schränkt Letzteres den Spielraum für Ausbeutung und Eigenprofit stark ein. Vor allem, wenn sich das Gebilde jenseits des herrschenden Weltsystems befindet. Rojava zeigt, dass Alternativen zur Nationalstaatenfamilie, samt ihren neoliberalen und kapitalistischen Charakterzügen, möglich sind. In diesem Sinne könnte die Linke von Lateinamerika in ihren Debatten über die Wahlniederlagen und Selbstkritik mit einem Auge gen Rojava schauen und sich von dort das eine oder andere zu eigen machen.


Can CicekCan Cicek hat an der Technischen Universität Darmstadt und der Philipps Universität Marburg Politikwissenschaften studiert. Seit 2012 ist er Mitarbeiter von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.