Zur Lage Rojavas und seiner Rolle in Syrien

Auch der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft braucht Unterstützung

Zuhat Kobanê, Europasprecher der PYD, im Gespräch mit dem Kurdistan Report

Der Beginn des syrischen Aufstands liegt nun mehr als vier Jahre zurück. Eine Lösung scheint weiter entfernt denn je. Welche Gründe gibt es aus kurdischer Sicht für die aktuellen Probleme?

Die derzeitige Problematik betrifft nicht nur die kurdische Bevölkerung, diese fungiert in Syrien allerdings als Avantgarde der syrischen Revolution. Rojava stellt das einzige wirkliche Alternativmodell dar für die Gesamtlösung der Syrienkrise. Sämtliche Versuche der westlichen und regionalen Mächte, ein neues System in Syrien zu installieren bzw. der Bevölkerung aufzuoktroyieren, sind gescheitert. Dieses System unterschied sich strukturell nicht wesentlich vom bestehenden. Dagegen haben wir ein alternatives Projekt gestellt, den sogenannten dritten Weg. Zur Wahl stand der Status quo des Assad-Regimes, das sich auf eine Führungselite aus einer bestimmten Minderheit stützt; dieses System wird vor allem durch seinen extremen Nationalismus charakterisiert. Demgegenüber sollte ein Apparat aufgebaut werden, der daneben auch konfessionell-chauvinistisch ausgerichtet ist. Die Folgen dieser Politik sind Leid und Zerstörung.

Wie verhält es sich mit der gesamtsyrischen Kriegsbilanz im Verhältnis zu Rojava?

Syrien ist zerstört. Es gibt mehr als 300 000 Tote und Vermisste. Zehntausende Menschen sind in Gefangenschaft. 10 Millionen Menschen, also fast die Hälfte der Bevölkerung Syriens, ist auf der Flucht. Sechs Millionen Binnenflüchtlinge und vier Millionen außerhalb Syriens. Über 3 Millionen Häuser sind zerstört. Das Land ist befallen von Islamisten wie denen des sogenannten Islamischen Staats (IS) oder der Al-Nusra-Front. Das skizzierte Bild ist die Folge einer falschen Interventionsstrategie. Natürlich sieht die Situation in Rojava ganz anders aus. Wenn wir die Zahl der Umgekommenen in ganz Syrien auf die kurdische Bevölkerung in Syrien übertragen, die mit 3,5 Millionen etwa 15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, so müssten etwa 50 000 Tote auf kurdischer Seite zu beklagen sein. Doch sind in den letzten vier Jahren insgesamt »nur« 4 000 Menschen auf kurdischer Seite gefallen. Die meisten davon Kämpferinnen und Kämpfer der Verteidigungseinheiten (YPG/YPJ). Natürlich wurde die Stadt Kobanê (Ain al-Arab) weitgehend zerstört. Dagegen bietet Rojava den meisten der Binnenflüchtlinge Syriens Schutz.

Wie spiegeln sich diese Umstände in der Psyche der Gesellschaft Syriens wider?

Selbstverständlich drückt sich diese Disproportion ebenfalls in der gesellschaftlichen Psyche aus. Während die Angst um Leben und Tod, Trauer und Wut, Polarisierung, das Gefühl, nur von Feinden umgeben zu sein, die eine Seite der Gesellschaft prägen, spiegelt die andere Seite Hoffnung und positive Zukunftsperspektiven in ihrem Leben wider. Das Rojava-Modell ist gekennzeichnet von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit. Die Völker Rojavas kämpfen dort nicht gegeneinander, sondern miteinander für eine freie und demokratische Gesellschaft. Rojava ist zum Hoffnungsschimmer der Völker und unterdrückten Menschen des Nahen und Mittleren Ostens geworden.

Wie bewerten Sie die Sicht auf das Rojava-Modell beziehungsweise, wie es angenommen wird?

Zu Beginn wurde dem Rojava-Modell, das auf der Philosophie des demokratischen Konföderalismus und der demokratischen Autonomie Abdullah Öcalans basiert, keine ernst zu nehmende Bedeutung beigemessen. Heute wiederum hat sich Rojava als Vorzeige- und Lösungsmodell für den gesamten Nahen und Mittleren Osten etabliert. So haben die Drusen in as-Suwayda [Provinz und Stadt an der jordanischen Grenze; A. d. Ü.] ebenfalls ihre Autonomie nach dem Kantonalmodell von Rojava erklärt. Gleiches gilt für die militärische Stärke. Niemand hätte gedacht, dass die Frauen- und Volksverteidigungseinheiten (YPJ/YPG) gegen das Regime und die Angriffe der Freien Syrischen Armee (FSA) standhalten könnten. Inzwischen sind sie die einzige Kraft in Syrien, die den IS und andere dschihadistische Kampfverbände bezwingen kann.

Frauenkooperative Innana in Rojava im Kanton Cizîrê | Foto: A. BenderVor Kurzem wurde die Gründung des Militärbündnisses »Demokratische Kräfte Syriens« bekannt gegeben. Welche Rolle kommt den kurdischen Kräften innerhalb dieser Allianz zu?

Natürlich fällt den YPJ und YPG die Funktion der Avantgarde innerhalb der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) zu. In diesem Bündnis sind zahlreiche Gruppierungen involviert. [YPG/YPJ, Quwet al-Sanadid, Militärrat der Suryoye (MFS), Burkan al-Firat, Thuwar al-Raqqa, Schams al-Schamal, Lîwa al-Selcuki, Al-Dschasira-Brigaden, Dschabhat al-Akrad, Dschaisch ath-Thuwar, Lîwai al-Tehrîr und Lîwai 99 Muşat]

Vor allem seit der Intervention Russlands herrscht Unklarheit über die aktuellen Geschehnisse in Syrien. Immer mehr Akteure scheinen sich aktiv am Syrienkrieg zu beteiligen. Wie sehen die Beziehungen der Administration von Rojava bzw. der eben angesprochenen Demokratischen Kräfte Syriens aus?

Unter der Avantgarde der YPJ und YPG handelt es sich beim Bündnis der QSD um die stärkste militärische Bodenkraft im Kampf gegen den IS. Daher versuchen sowohl die USA als auch Russland, Einfluss zu nehmen auf die Kurden und deren Verbündete. Diese sind sich jedoch bewusst, dass beide Mächte nach ihren eigenen Interessen handeln und taktieren. Russland will das Regime am Leben erhalten und braucht dafür die Unterstützung der Kurden. In diesem Sinne gilt es auch die Rhetorik Putins im Hinblick auf die Kurden zu bewerten, die nicht auf der Liebe zu ihnen, sondern auf der derzeitigen Abhängigkeit von ihnen beruht. Im selben Licht ist die Annäherung der USA zu sehen. Während die anfänglich nur auf die arabische Opposition gesetzt hatten, brauchen sie jetzt für die Umsetzung ihrer Interessen die Kurden. Wir sind daher bestrebt, innerhalb Syriens eine Balance zu halten. Vielmehr forcieren wir die Lösung gemeinsam mit syrischen Gruppen. In diesem Zusammenhang sind wir gerade dabei, einen großen Kongress im Kanton Cizîrê vorzubereiten, an dem die gesamte säkulare Opposition teilnehmen soll. Diejenigen Kräfte, die weder nach Wien noch nach Genf eingeladen wurden, sind mittlerweile zu den bedeutendsten Akteuren in Syrien avanciert.Demokratischen Kräfte Syriens (QSD)

Wie bewerten Sie eine mögliche Intervention der Türkei?

Die Intervention Russlands zeigt, dass sich der Krieg weiter verschärfen wird. Eine türkische Intervention mit Bodentruppen ist eher unwahrscheinlich; da es sich um eine NATO-Grenze handelt, bedürfte es einer Entscheidung der NATO. Die AKP wird jedoch über andere Gruppen ihren Stellvertreterkrieg weiterführen.

Die Türkei versucht ihre Bestrebungen permanent mit der turkmenischen Bevölkerung zu legitimieren.

Die Türkei hat mit den Turkmenen in Syrien kaum etwas am Hut. Diejenigen, die von der Türkei militärisch ausgebildet und nach Syrien geschickt wurden, stammen größtenteils nicht aus Syrien. Teilweise soll es sich bei einigen auch um gar keine Turkmenen gehandelt haben. Die meisten Turkmenen in Syrien stehen kritisch zur Türkei, sind in der demokratischen Administration integriert und kämpfen an der Seite der Volksverteidigungseinheiten. Wie beispielsweise der Oberbefehlshaber von Burkan el-Firat, die seit Jahren an der Seite der YPG kämpfen. In den Gebieten, die laut Aussagen der AKP überwiegend turkmenisch bewohnt sein sollen, gibt es, wenn es hochkommt, vielleicht zehn turkmenische Dörfer, teilweise sind die Turkmenen dort selbst in der Minderheit. Es handelt sich hierbei nur um eines der zahlreichen Spielchen der Türkei.

Gibt es Bestrebungen der Demokratischen Kräfte Syriens, sich in einem gemeinsamen politischen Bündnis zu vereinigen?

Dahin gehend sind schon die ersten Schritte unternommen worden. Es ist geplant, sich in einem gemeinsamen politischen Verband zu vereinigen, dessen Kongress in Cizîrê abgehalten werden soll. Daran werden Gruppen wie die Armee der Revolutionäre (Dschaisch ath-Thuwar) und andere Gruppen teilnehmen. Auch die in Hama und Homs aktiven Gruppen sollen beteiligt werden. Es soll eine große demokratische Front entstehen, die den gesamten syrischen Norden, von Cizîrê bis ans Mittelmeer, vom IS und anderen dschihadistischen Gruppen befreit.

Dann würde auch Cerablus, das als letztes IS-Gebiet an der türkischen Grenze gilt, befreit werden.

Die Situation um Cerablus (Dscharabulus) ist keine einfache. Wir erleben zurzeit eine sehr komplexe Lage. Sollte die Region zwischen den beiden Kantonen Afrîn und Kobanê befreit werden, würde ein kurdischer Gürtel entstehen, der von Kerkûk (Kirkuk) über Mûsil (Mosul) und Şengal (Sindschar) und bis ans Mittelmeer reicht. Somit würde die Türkei ihre Vormachtstellung als Transitland für Erdöl- und -gaslieferungen verlieren, was ein Grund dafür ist, dass sie den Zusammenschluss der beiden Kantone um jeden Preis zu verhindern sucht. Die ersten Vorbereitungen für die Befreiung von Cerablus sind getroffen. Aufgrund dessen greifen auch Gruppen wie die Al-Nusra-Front Afrîn an, weil ihnen ihr letztes Einfallstor nach Syrien über die türkische Grenze verloren zu gehen scheint.

Seit Monaten bestimmt das Flüchtlingsthema die Tagesordnung in Europa und Deutschland. Was sind die Fluchtursachen für die Menschen? Und wie kann den Menschen geholfen werden?

Die wesentlichen Gründe für die Flucht der meisten Menschen ist die wirtschaftliche Situation. Weiter fürchten sie um ihr Leben, da Krieg herrscht. Doch sind die wirtschaftlichen Probleme vor allem auf das Embargo zurückzuführen, das die türkische AKP-Regierung verhängt hat. Selbst elementarste humanitäre Hilfe wird nicht über die Grenze gelassen. Dabei zielt die Türkei vor allem auf die Destabilisierung von Rojava. Ihr Ziel ist es, die Bevölkerung von Rojava Hunger leiden zu lassen, damit das dortige System der demokratischen Autonomie an Legitimation verliert. Gleichzeitig hält sie seit Beginn des Bürgerkrieges die Grenze für dschihadistische Kämpfer und deren Nachschub offen. Dass der IS seinen Erdölhandel über die türkische Grenze betreibt, ist längst kein Geheimnis mehr. Die Türkei hat, indem sie bewusst die Flüchtlinge im eigenen Land nach Europa lenkte, die EU und vor allem Deutschland in die Knie gezwungen.

Wie bewerten Sie das Vorgehen der deutschen Bundesregierung?

Die deutsche Regierung richtet sich gegen ihre eigenen Werte und lässt sich zum Spielball der Türkei machen. Seit 2012 haben meine Kollegen und ich in mehreren Gesprächen mit der deutschen Bundesregierung betont, dass es die Region Rojava durch humanitäre Hilfe zu stärken gilt. Rojava ist das größte Auffangbecken für syrische Binnenflüchtlinge. Aufgrund des Embargos ist es mittlerweile viel schwieriger geworden, die Zahl der Flüchtlinge, die weit mehr als eine Million übersteigt, zu bewältigen. Deutschland gilt als der Staat, der am meisten humanitäre Hilfe für Syrien leistet.

Bedauerlicherweise wird Rojava dabei außen vor gelassen. Begründet wird dies mit der angeblichen Nähe der Administration zur PKK. Unabhängig davon, dass der Behauptung Hand und Fuß fehlen, ist das keine legitime Begründung, um Flüchtlingshilfe zu verwehren. Vielmehr sollte die deutsche Regierung ihren Einfluss auf die Türkei nutzen, um Druck auf die AKP auszuüben, damit die ihre Grenze für humanitäre Hilfe öffnet.

Die gesamte linke demokratisch-alternative Szene schaut nach Rojava. Wie bewerten Sie das große Interesse der globalen linken Bewegung an der Rojava-Revolution?

Das Ausmaß der breiten internationalen Solidarität konnten wir am zweiten Weltkobanêtag am 1. November sehen. Bereits im Vorjahr hatte es in Hunderten Städten weltweit Solidaritätsaktionen zum World Kobanê Day gegeben. Die große Solidarität hatte wirksamen Druck auf die herrschenden Mächte ausgeübt, sodass die sich zum Handeln genötigt sahen. Bei der Revolution von Rojava handelt es sich um einen internationalistischen Kampf und den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft. Genauso wie für die anderen Mächte gilt es daher den Kampf in Syrien aus globaler Perspektive zu betrachten, in der für Rojava die Rolle als Stellvertreter des demokratisch-revolutionären Blocks zum Tragen kommt, der sich gegen den faschistischen und chauvinistischen Block der Nationalstaaten und Hegemonialkräfte stellt. Auch wenn die Völker Rojavas weiter ihrer Aufgabe als Vorreiter dieses Kampfes gerecht zu werden versuchen, bedarf es großer internationaler Solidarität und Unterstützung. Sowohl im ideellen als auch im praktischen Sinne. So gilt es neben der weltweiten Bekanntmachung des Projekts internationalen öffentlichen Druck auf die Türkei zu verstärken, damit sie ihre Grenze zu Rojava für humanitäre Hilfe öffnet. Nur so kann ihr Embargo gebrochen werden.


Zuhat Kobanê ist Europasprecher der Partei der Demokratischen Einheit (PYD). Er hat Maschinenbau in Damaskus studiert und ist seit den frühen 1990er Jahren als Politiker aktiv.