Rojava ist der beste Beweis dafür, dass die KurdInnen ihre Hand zum Frieden weiter ausgestreckt halten ...

Eine Chance für den Frieden!?

Zübeyir Aydar, Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans KCK

Die letzten Wochen und Monate erscheinen für das kurdische Volk als eine der schwersten Zeiten in ihrer Geschichte. Zu den grausamen Angriffen der Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staats (IS), die vor allem die Errungenschaften in Rojava und Südkurdistan angreift, wütet ein von der AKP-Regierung ausgehender Krieg, der noch brutaler und kaltblütiger erscheint als das Vorgehen des türkischen Staates in den 1990er Jahren. Gleichzeitig versucht das iranische Regime aus dieser politischen und militärischen Konjunktur Profit zu schlagen und intensiviert seine Angriffe auf die kurdische Bevölkerung.

Die letzten Lösungsgespräche mit dem türkischen Staat und seiner AKP-Regierung endeten im April 2015, kurz nach dem Abkommen von Dolmabahçe, wo sich beide Seiten auf einen 10-Punkte-Plan geeinigt hatten. Durch das starke Abschneiden der Demokratischen Partei der Völker (HDP) bei den Parlamentswahlen vom 7. Juni mit 13,1 % der Stimmen verlor die AKP zum ersten Mal überhaupt ihre Mehrheit im Parlament. Diese Wahlen können auch als Referendum der Völker der Türkei gewertet werden, in dem gegen eine autoritäre Präsidialdiktatur unter der Alleinherrschaft von Erdoğan und für Demokratie und Frieden gestimmt wurde. Die kurdische Seite, allen voran der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan, der nicht nur Chefunterhändler, sondern auch Initiator der Friedensgespräche war, legte all ihr Streben und ihre Mühen in die Schaffung eines bleibenden Friedens und die Demokratisierung der Türkei. Angesichts dessen, dass es der türkischen Seite nie wirklich Ernst mit dem Frieden war und sie sich wie in den Jahren davor nur einer Hinhaltetaktik bediente, kann man sich ausmalen, wie schwierig es für die kurdische Seite gewesen ist und wie viel Kraft es gekostet hat, den Prozess am Leben zu erhalten.

Erinnert sei nur an die Angriffe der islamistischen Gruppierung auf die Bevölkerung von Rojava, die von der Türkei aus unterstützt und teilweise auch gesteuert waren. Das Attentat von Amed Anfang Juni, wenige Tage vor den Wahlen, verdeutlicht, dass die AKP ihren Kurs schon vor den Wahlen geändert hat und ihre Angriffe nach den Wahlen nur an Intensität gewannen.

In 13 Jahren AKP-Regierung verschwand Erdoğan nach den Wahlen zum ersten Mal für mehrere Tage von der Bildfläche. Als er erneut vor die Medien trat, gab er bekannt, dass das Wahlergebnis die Instabilität des Landes zur Folge hätte. Dass die Instabilität von der Erdoğan-Regierung ausgehen würde, konnte man nicht nur zwischen den Zeilen lesen. So begründete er die Folge der Luftangriffe auf Qandil und Rojava, die Tötung von 300 ZivilistInnen im Inland, die Inhaftierung von über 1000 politischen AktivistInnen und die Schließung von Zeitungen und Fernsehsendern damit, dass keine politische Partei (gemeint ist natürlich die AKP) 400 von den verfügbaren 550 Sitzen im Parlament bekommen hatte. 333 Sitze sind für eine Verfassungsänderung notwendig, weshalb Erdoğan nun bestrebt war, seiner Alleinherrschaft mit Sitz im neu errichteten Präsidentenpalast einen offiziellen verfassungsrechtlichen Charakter zu verleihen, während sowohl die Errichtung des Palastes als auch die Funktion von Erdoğan derzeit gegen die aktuelle Verfassung der Türkei verstoßen hatte.

Dass die sogenannte »strategische Tiefe« mit ihrer Null-Probleme-Politik mit den Nachbarn der Türkei seit spätestens 2011 konträre Dimensionen angenommen hat, ist mehr als bekannt. Neben der Intensivierung der innenpolitischen Probleme und dem rasanten Fortschreiten der gesellschaftlichen Polarisierung, an dieser Stelle sei vor allem an die Gezi-Proteste von 2013 erinnert, ist die außenpolitische Isolierung der Türkei ein weiterer Beweis dafür, dass die AKP und Erdoğan den Zenit ihrer Vormachtstellung schon lange überschritten haben. Der ausschlaggebende Grund liegt hierbei zweifellos in ihrer Syrienpolitik, die neben dem Sturz des Assad-Regimes primär zum Ziel hat, die Anerkennung der kurdischen Identität und eine mögliche Autonomie der KurdInnen im Norden von Syrien zu verhindern. Hierbei hat die AKP zwei soziologisch bedeutende Aspekte außer Acht gelassen. Zum einen verkennt sie die KurdInnen als zusammengehörige Entität über jegliche Grenzen von Nationalstaaten hinaus. Durch die klare Unterstützung des IS und anderer dschihadistischer Gruppierungen im Kampf gegen die kurdischen Errungenschaften in Rojava, vor allem in Kobanê, hat die AKP den Rückhalt der islamisch-konservativen Kreise der kurdischen Gesellschaft in Nordkurdistan und der Türkei verloren, was die Wahlergebnisse vom 7. Juni belegen. Die AKP wurde regelrecht aus Nordkurdistan weggeputzt. Des Weiteren hat die AKP in ihrer Außenpolitik die letzten Grenzen, die ihr vom bestehenden Weltsystem gesetzt wurden, mehr als überschritten. An dieser Stelle sei kurz an den Gründungsursprung der AKP erinnert. Sie ist als Konzept einer neuen (Um-)Ordnung im Nahen und Mittleren Osten konstituiert worden. Durch das Label eines gemäßigten Islams sollte sie das Exempel für die neoliberale Expansion des führenden internationalen Systems der kapitalistischen Moderne statuieren. Innerhalb dieses Rahmens verfügt die AKP zwar über Spielraum für regionale Hegemonialbestrebungen, doch ist dieser gekoppelt an die Strategie der führenden Hegemonialmächte. Weiter darf das Handeln der AKP nicht in zu starkem Widerspruch zu den Interessen und der Strategie der führenden Weltmächte stehen, da wie gesagt die Existenz der AKP auf diese zurückzuführen ist.

Charakterisierend für die internationale Isolierung der Türkei sind die derzeitigen Spannungen mit Moskau anzuführen, die durch den Abschuss eines russischen Kampfjets entfacht wurden. Dieser Angriff auf das russische Flugzeug durch die türkische Luftwaffe unterstreicht noch mal das Bestreben der Türkei, das letzte Einfallstor des IS an der türkisch-syrischen Grenze zu schützen. Hierbei spielt die illegale Erdölroute des IS aus türkischer Sicht nur eine sekundäre Rolle. Die Befreiung der Gebiete um Cerablus (Dscharabulus) und Azaz, was die Verbindung der Kantone Efrîn und Kobanê mit sich bringen würde, würde nicht nur die kurdische Position in Syrien stärken, es würde ebenfalls das türkische Monopol als Transitland für Erdöl- und Erdgasrouten nach Europa schwächen. Bedauerlicherweise hat sich die EU, und vor allem Berlin, bezüglich der Türkei gebeugt, obwohl es der europäischen Seite bewusst sein müsste, dass dieser verstärkte Flüchtlingsstrom von Erdoğan provoziert wurde. Als Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans KCK verfolgen wir aus der Nähe die bilateralen Beziehungen der Türkei und Europas. In den persönlichen Gesprächen mit den europäischen VertreterInnen bringen wir stets zum Ausdruck, dass eine Förderung der Demokratisierung der Türkei nur durch das Einhalten der eigenen europäischen Werte möglich ist. Hierbei verweisen wir kontinuierlich mit Nachdruck auf humanitäre Hilfe für Rojava. Europa und vor allem Deutschland sollten ihren Einfluss auf Ankara dafür nutzen, dass die Türkei ihre Grenzen für humanitäre Hilfe nach Rojava öffnet.

Rojava ist der beste Beweis dafür, dass die KurdInnen ihre Hand zum Frieden weiterhin ausgestreckt halten, trotz Luftangriffen türkischer Kampfjets und offensichtlicher Unterstützung durch die Türkei für den IS und andere islamistische Verbände. In sämtlichen ihrer Äußerungen betonen die VertreterInnen der demokratischen Selbstverwaltung von Rojava, dass sie gute Beziehungen zur Türkei pflegen wollen. Rojava ist der beste Beweis dafür, dass die KurdInnen ihre Hand zum Frieden weiterhin ausgestreckt halten, trotz Luftangriffen türkischer Kampfjets und offensichtlicher Unterstützung durch die Türkei für den IS und andere islamistische Verbände. In sämtlichen ihrer Äußerungen betonen die VertreterInnen der demokratischen Selbstverwaltung von Rojava, dass sie gute Beziehungen zur Türkei pflegen wollen. In Anbetracht der türkischen Haltung ist die Annäherung der Rojava-Administration mehr als löblich. Auch als KCK halten wir unsere Hand für den Frieden ständig offen. Jedoch kann ein würdevoller Frieden nur in Einklang mit Freiheit und Demokratie verwirklicht werden. Die Angriffe von paramilitärischen Sonderspezialeinheiten in Nordkurdistan auf ZivilistInnen, bei denen nicht mal vor schwangeren Frauen und neugeborenen Babys Halt gemacht wird, verdeutlichen, dass Erdoğan kein Interesse an einer Lösung der kurdischen Frage hat. Die Bilder, die auf tragische Art und Weise in den kurdischen Städten gezeichnet werden, sind selbst schlimmer als die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die die Regierung um Tansu Ciller in den 1990er Jahren begangen hatte. Zeitgleich sind der Widerstand und das Streben nach Freiheit innerhalb der kurdischen Gesellschaft entschlossener denn je. Der Widerstand gegen die Terrormiliz des IS in Kobanê, Şengal und den anderen Gebieten von Rojava und Südkurdistan hat die nationale Einheit des kurdischen Volkes forciert. Die kurdische Freiheitsbewegung ist auch auf internationaler Ebene zum bedeutenden Akteur aufgestiegen. Vor allem im Kampf gegen den IS stellen die Kampfverbände der kurdischen Freiheitsbewegung die wichtigsten Einheiten dar.

Die kurdische Freiheitsbewegung fungiert in dieser Phase des Chaos als essentieller Demokratisierungsmotor für den Nahen und Mittleren Osten. Entgegen der gesellschaftlichen Polarisierung, die auf die ethnische und konfessionelle Identität zurückzuführen ist, vereint Rojava sämtliche Bevölkerungsgruppen in einem bunten Mosaik. Das Modell Rojava zeigt, dass der Sturz eines Diktators zwangsweise keine neue Diktatur zur Folge haben muss. Die Völker können ihr Leben selbst in die Hand nehmen und ebenso in Geschlossenheit ihren Schutz vor jeglichen Angriffen gewährleisten. In einigen Teilen Syriens und des Irak werden Pendants zu Rojava diskutiert und teilweise auch umgesetzt. Nun steht die Türkei am Scheideweg zwischen dem Weg, der gen Demokratie und Frieden führt, und dem Pfad, der das Land in ein noch tieferes Chaos stürzen wird.

Sollte sich die Türkei dem Weg der friedlichen Lösung des Konflikts versperren, wird die kurdische Seite gegen die Angriffe der türkischen »Sicherheitskräfte«, die derzeit den Alltag in Nordkurdistan bestimmen, mit einem weit entwickelten Widerstand begegnen. Die demokratische Selbstverwaltung, die bei den Gesprächen mit dem türkischen Staat stetig einen der Kerndiskussionspunkte bildete, wird nach und nach weiter umgesetzt. Die kurdische Seite wird nicht akzeptieren können, den Friedensprozess dort wieder aufzunehmen, wo die türkische Seite ihn gebrochen hat. Dies akzeptieren weder wir als KCK, noch wird meiner Meinung nach der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan dem zustimmen. Es wird seit mehr als sieben Jahren mit mehreren Unterbrechungen ein Dialog geführt. Wenn es der türkischen Seite mit der Lösung ernst sein sollte, dann müssten die offiziellen Verhandlungen, die durch das Parlament einen offiziellen Charakter verliehen bekommen, beginnen. Dafür muss der Zugang nach Imralı, wo der PKK-Vorsitzende Öcalan gefangen gehalten wird, für uns und die Öffentlichkeit ermöglicht werden. Nachdem ein Lösungsplan von beiden Seiten erstellt worden ist, bedarf es einer dritten Seite, die die beiden Konfliktparteien auf Einhaltung der zu machenden Schritte kontrolliert. Die Kommunikation zwischen Öcalan und der Außenwelt muss gewährleistet werden. Die Türkei muss damit aufhören, Öcalan wie einen Gefangenen zu betrachteten und ihm den notwendigen Rahmen für die Verhandlungen als Chefunterhändler zusichern. In dieser Phase dürfen von beiden Seiten keinerlei Angriffe, weder auf verbaler noch auf militärischer Ebene, stattfinden.


Zübeyir AydarZübeyir Aydar ist Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK). Er ist einer der kurdischen PolitikerInnen, die 1991 zum ersten Mal ins türkische Parlament gewählt wurden. Nach der Aufhebung seiner Immunität verließ Aydar die Türkei im Frühjahr 1994 in Richtung Belgien, wo er heute noch lebt. Aydar gilt als einziger Vertreter der KCK im europäischen Exil.